Sie, meine sehr verehrten Leserinnen und Leser, wissen natürlich Bescheid: Diejenigen, die behaupten, Urlaub mit Kindern finde am besten am Ostseestrand statt, wollen Sie nur nicht da haben, wo sie selber sind. Machen Sie sich also auf, packen Sie Kind und Kegel zusammen und besuchen Sie prächtige Ausgrabungen, wenn Ihnen der Sinn danach steht. Zum Beispiel die hier in Paphos.
Glauben Sie keine Minute denjenigen, die Ihnen vorschwindeln, Ihre Kinder würden sich da langweilen. Kinder langweilen sich nicht. Die Fähigkeit zur Langeweile erwacht, glaube ich, erst mit ungefähr zwölf. Das Gegenteil ist nämlich richtig. Kinder sind Instagram: Ebenso, wie Instagram jede noch so alltägliche Szene intensiviert, Ihr ganz normales Alltagsleben mit Warten auf die U-Bahn und komischen Leuten in der Schlange vorm Bäcker aussehen lässt wie ein Film, in dem wahlweise Nina Hoss oder Gene Kelly gleich um die Ecke kommt, ebenso besitzt Ihr Kind die Fähigkeit, das ganze Leben zu dramatisieren, und damit meine ich nicht die Angst, dass es nicht rechtzeitig sagt, dass es mal muss.
Stellen Sie also Ihr Kind – etwa meinen dreijährigen F. – vor ein Mosaik. Man sieht rechts Apollon, links den Sartyr Marsyas und in der Mitte die Musen als Schiedsrichterinnen. „Was machen die da?“, fragt das Kind. Man deutet. Man erklärt. „Um die Wette!“, kreischt das Kind, und um bei dem Wettstreit zwischen leierndem Gott und flötenden Sartyr mitzumachen, verfällt es in einen lautstarken Gesang. Als es zuende gesungen hat, räuspert man sich, unterschlägt die Sache mit der abgezogenen Haut und behauptet, Apollon habe Marsyas mit ein paar Schlägen bestraft. Das reicht aber schon. Der Bub wird vor Empörung knallrot. Am liebsten würde er den Lichtgott bespucken, der ist aber zum Glück ziemlich weit weg. Unter unflätigen Beschimpfungen des Gottes zieht man ihn dann in den nächsten Raum. „Der Kuhkopf“, brüllt der F. freudig beim Anblick des Bodenmosaiks, denn den kennt er schon, und dann gruselt, streitet, freut und triumphiert er mit Theseus über den bösen Minotauros.
In den nächsten Tagen wird er im Hotelzimmer ein Labyrinth aus Stühlen und Papierkörben errichten und dann abwechselnd den Stierköpfigen und seinen Bezwinger verkörpern. „Stirb, elendes Ungeheuer!“, kann man ihn dann brüllen hören, wenn man selbst im Badezimmer sich die Fußnägel lackiert. „Kann ich dich bitte auffressen?“, röhrt das minoische Monster in des F. tiefster Stimmlage zurück.
Anders als Erwachsene sind Kinder offenbar auch nicht darauf angewiesen, dass man auf einer Ausgrabungsstätte irgendwas sieht. Ein Trümmerhaufen scheint zu reichen, und vor des F. Auge ersteht – denn hat man es ihm nicht gesagt? – eine prächtige Burg. Fränkische Ritter reiten, man hört die Pferde geräuschvoll wiehern, über die Zugbrücke, Schwerter werden gezückt, und dann kämpfen der Ritter F. und sein ebenfalls von F. verkörperter Antipode um ein ebenfalls unsichtbares großes Sparschwein. Seit der F. vor einigen Wochen im Rahmen einer Kinderführung im Deutschen Historischen Museum zum Ritter geschlagen worden ist, kennt er sich mit derlei Dingen ja ohnehin bestens aus.
In einem Fort sucht der F. nicht nur sofort die Gefangenen. Er wird sie auch finden. In einer Nekropole führt er lange Gespräche mit den lieben Verstorbenen. Am Felsen der Aphrodite baut er Türme aus den flachen Steinen und fragt neugierig nach, ob hier die „sssöne Frau aus dem Wasser gespringt“ sei. Wenn man bejaht, springt er auch ein bisschen. Anders als fast jeder Erwachsene, den ich kenne, kennt er keinen Zustand der Gleichgültigkeit und des gepflegten Desinteresses. Er geht immer voll mit. Er weint um den abgestürzten Ikaros. Er bewundert den starken Herakles mit der großen Keule. Er fürchtet sich vor dem dreiköpfigen Höllenhund. Er kennt kein Grau in Grau. Er kennt nur Dramatik, starke Farben, große Gefühle. Der F. ist Instagram.
Schon super. Die Kinder, die sich das bewahren, müssen dann so komische Berufe wie Schauspieler oder Popstar oder Performancekünstler machen, um in erwachsenem Lebensalter nicht für bekloppt erklärt zu werden. Es sei denn, man ist fähig, sehr virtuos abwechselnd mit dem vernünftigen Erwachsenen-Ich und dem phantastischen Kinder-Ich zu jonglieren. Das sind dann die Leute, die mich wirklich faszinieren – diejenigen, die beides können.
Ich fürchte, liebe Gaga, der Grauschleier, der sich mit zunehmendem Alter über alles legt, ist Teil des Adoleszenzprozesses und bleibt so wenig aus wie nachlassende Sehkraft im Alter.