Jahresrückblick 2015, 2. Teil

Im Juli fahre ich nach Klagenfurt und werde sofort aufgesogen von Atmosphäre, Sommer und Wörthersee. In den letzten Jahren ging der Bachmannpreis ziemlich an mir vorbei, aber dieses Jahr sitze ich vor dem ORF-Funkhaus, im Lendlhafen oder im Saal, lasse mir vorlesen, lästere, lobe, notiere und freue mich, und komme ganz bestimmt wieder.

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Zurück in Berlin setzt der Sommer erst mal aus. Die Stadt leert sich zusehends, aber ich bleibe, grille auf der Terrasse bei M. und M., esse sehr, sehr gut im Dae-Mon am Monbijouplatz, im Txokoa in Neukölln mit Mek und auf der Thaiwiese in Wilmersdorf. Alle paar Tage picknicke ich alles, was noch im Haus ist, mit dem F. und seinen besten Freunden und deren Eltern im Volkspark Friedrichshain.

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Über mir strahlt wieder ein  tiefblauer Himmel, ich lese Mommsen und Lily King’s Euphorie und schlenkere mit den Beinen, während der F. mit seinen Freunden über die grüne Wiese läuft und ganz laut jubelt.

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Der August plätschert warm und gemächlich in der leeren Stadt an mir vorbei. Wir feiern Sommergeburtstage in Gärten, weil lauter Leute 40 oder drei werden, treffen nach der Kita Freunde und sitzen mit denen vor den Cafés von Prenzlberg herum und essen aus lauter Bequemlichkeit ständig bei den drei gleichen Restaurants um die Ecke. Ab und zu fahre ich abends nach Kreuzberg oder Neukölln, esse Tomaten bei Frau Engl oder treffe mich in irgendwelchen Bars und schaue Leuten dabei zu, erwachsen zu werden. Im nächsten Monat werde ich 40 und denke in den Wochen zuvor viel darüber nach, ob mein Leben zu mir passt, und was ich noch machen möchte in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren.

Vor dem Geburtstag aber fahre ich noch drei Tage an die Ostsee nach Dänemark. Meine Eltern sind dabei, mit denen ich als kleines Kind jedes Jahr in Dänemark war in ganz ähnlichen Häusern aus Holz am Meer, und ich sehe ihnen zu, wie sie mit dem F. spielen wie vor mehr als 35 Jahren mit mir.

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Im September werde ich dann wirklich vierzig und stehe in meinem geschmückten Büro und fühle mich komisch. Dabei habe ich mir eigentlich keine großen Auslassungen vorzuwerfen, ich will auch keinesfalls noch einmal 20 sein, und wenn ich in den Spiegel sehe, finde ich die Frau, die mich anschaut, nicht schön, aber freundlich und ganz zufrieden. Ich einige mich mit mir deswegen auf eine Art Phantomunbehagen, das nicht weiter hinterfragt werden sollte, und fahre umgehend mit drei Paaren und vier Kindern in den Urlaub.

In der Provence geht es mir gut. Ich bin mit beiden Paaren sehr lange befreundet, das allseitige Selbstdarstellungsbedürfnis tendiert deswegen gegen null. Wir liegen also am Pool, essen und fahren zwischen Küste, Städten, Klöstern und Supermärkten ambitionslos und gut gelaunt herum. Nur der F. wirkt etwas angespannt, der sich ausgerechnet mit der Tochter enger Freunde nicht so gut versteht. Als wir ihn nach unserer Rückkehr fragen, ob denn sein Teddybär wieder mit diesen Kindern verreisen möchte, verneint er. Er selbst, behauptet er, sei natürlich jederzeit wieder dabei.

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Im Oktober feiere ich erst meinen Geburtstag und arbeite dann, bis die Schwarte kracht. Überhaupt ist es ein arbeitsreiches Jahr, temproreich, auch reich an Erfolgen, aber anstrengender für mich als noch vor einigen Jahren. In meiner Erinnerung arbeite ich gerade im Frühling und im Herbst sozusagen immer, schlimmer als in den Zeiten vor der Geburt des F., als ich mich abends ewig nicht aufraffen konnte, nach Hause zu gehen, aber gleichwohl war ich in der Komischen Oper, es gab „Ball im Savoy“, und ich habe mich bestens amüsiert, und mit dem W. im Deutschen Theater in einem Stück über Selbstmordattentäter.

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Wie kann man nicht am Leben hängen, frage ich mich nach diesem Abend nach einem letzten Glas Wein auf dem Heimweg und freue mich über den unruhigen Himmel, die Wolken, den Geruch nach Abgasen, Staub und Fett auf der Torstraße und frage mich immer wieder, ob andere Leute eigentlich so anders eingerichtet sind als ich selbst, und es nicht auf Erden so schön haben möchten, wie es nur irgend geht.

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Weil im November sonst so wenig los ist, richten wir für den F. eine Halloweenparty aus. Wie zu seinem Geburtstag kommen sechs oder sieben andere Kinder mit ihren Eltern, es wird gut gegessen, getrunken, gelärmt und erzählt, und ich freue mich, dass der F. nette Kinder mit netten Eltern kennt und nicht Leute, die einzuladen mir keine Freude machen würde.

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Ich fahre wieder kreuz und quer durch die Republik, staune im Schwarzwald über die geradezu unwahrscheinliche Sauberkeit, plaudere mit Fremden in ICEs, verbrenne mir die Unterlippe mit Kaffee im Rheinland, beobachte fremde Leute an Flughäfen und schicke jeden Abend dem J. und dem F. Bilder, wo ich gerade bin. Abends gehe ich lange spazieren und genieße den langen, warmen Herbst.

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Am ersten Advent schließlich treffen sich beide Großelternpaare und wir an der Ostsee und feiern drei Jahre Ehe und freuen uns, wie der F. die Zeit mit seinen Großeltern genießt.

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Im Dezember bin ich wieder erkältet und krächze auf unglaublichen sechs Weihnachtsfeiern und einem Weihnachtsliedersingen in der Komischen Oper stimmlos vor mich hin. Der F. befindet sich in einem wahren Weihnachtstaumel, spricht quasi stündlich vom Weihnachtsmann und spekuliert über seine Geschenke.

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Am Nikolaustag führen wir ihn das erste Mal in eine richtige Opernaufführung und sind mit ihm glücklich, dass es auf Erden so etwas Großartiges gibt. Er ist groß geworden. Wenn er verabredet ist, soll ich ihn nur bringen und nicht mehr bleiben. Er bastelt, malt und erzählt den ganzen Tag und führt ein bewegtes Leben inmitten einer imaginären, aber sehr lebhaften Menagerie, die in unserem Keller lebt.

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Heiligabend sitzt er überwältigt inmitten von viel zu vielen Geschenken, und am letzten Tag des Jahres sitzt er spielend inmitten der anderen Gäste bei SvenK und seiner wunderbaren Frau, als der Himmel hell und bunt wird, es auf den Straßen von Berlin kracht und ich mein Glas darauf hebe, dass es auch in den nächsten Jahren nur Böller sein mögen, und die Tage fröhlich und leicht und der Himmel aus hellerem Licht.

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