Du mit fünf

Du kannst nur null und hundert. Du weißt weder, dass es Leute gibt, die für Geld Fußball spielen und verschiedenen miteinander wetteifernden Vereinen angehören. Noch ist Dir klar, dass nicht alle Autos aus derselben Fabrik kommen. Das interessiert Dich nicht, das nimmst Du nicht mal wahr. Dafür hörst Du seit mehreren Monaten am Stück die Hörspiele von „Was ist Was“ und hast Dir dabei ein umfangreiches, ziemlich irritierendes Detailwissen sowohl über naturwissenschaftliche als auch über historische Themen zugelegt, und ich mache mir manchmal ein bisschen Sorgen, ob Deine Grundschullehrerinnen nächstes Jahr sehr genervt sind, wenn Du auf umgehenden Antworten auf Deine Fragen nach dem Tod Sullas oder der Anzahl Roter Riesen im Weltall bestehst. Gestern hast Du drei Stunden in der Ausgrabungsstätte von Olympia am Stück kluggeschissen, und ich habe  mich ernsthaft dabei ertappt, ganz froh zu sein, dass Du kein Mädchen bist, für das die sozialen Kosten skurriler Spezialinteressen deutlich höher wären als für Dich.

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Im Internet lese ich ständig von Kindern, die erstaunliche Lebensweisheiten von sich geben. Das ist von Dir nicht zu erwarten. Du bist nicht im Ansatz abgeklärt. Für Kindergartenmedaillen aus Plastik oder die Urkunden Deiner Musikschule würdest Du barfuß durch die Wüste gehen, obwohl Du es nicht gern heiß hast. Von den Wahlen zum Gruppensprecher in der Kita und der miesen Amtsperformance der völlig zu Unrecht Gewählten höre ich, bis mir die Ohren bluten. Weil auch Deine Kindergärtnerin Dein steinerweichendes Gejammer nach der verlorenen Wahl nicht mehr ertragen hat, bist Du jetzt der nicht gewählte, aber sehr engagierte Anwesenheitslistenführer der Kindergartengruppe und darfst auf den wöchentlichen Ausflügen die Kleenexbox tragen. Wenn andere Eltern in der Zeitung stehen, schaust Du mich leidend und vorwurfsvoll an. Du bist ein fürchterlicher Hypochonder, das muss ein Erbfehler sein, und hast schreckliche Angst vorm Tod.

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Du schwimmst gern. Du baust gern. Du bastelst gern. In ein paar Jahren wird Dir jemand sagen, dass Du nicht gut malen kannst, dann wirst Du vermutlich aufhören, aber derzeit macht es Dir noch Freude, egal, wie das Ergebnis aussieht. Du machst tatsächlich passable Photos mit einer sinnvollen Bildaufteilung, gut gewählten Motiven, und ab und zu amüsiere ich mich darüber, wie anders ich auf Deinen Bildern aussehe als auf den Bildern, die andere von mir machen. Inzwischen glaube ich, dass das nicht an Deinen technischen Schwächen liegt, sondern dass Du mich so fotografierst, wie Du mich siehst. Noch findest Du mich wunderbar und fehlerlos, und es wird ein wenig hart für mich, wenn Du irgendwann feststellst, dass das nicht stimmt, auch wenn ich weiß, dass das so sein muss und wird.

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Es ist ein bisschen überraschend, aber Du bist kein Optimist. Du bist ein Skeptiker, Du findest die anderen Kinder auf der Sonnenterrasse erst einmal zu laut, bevor Du dann doch mit ihnen spielst. Du hebst Dir das Beste am Essen immer bis zum Schluss auf. Du bist gesellig, aber oft bist Du über Stunden allein in Deinem Zimmer und keiner darf rein. Woran Du dann wohl denkst? Du unterhältst mehrere Freundeskreise, mit den einen bist Du laut und wild und manchmal ziemlich unangenehm zu anderen Kindern. Mit den anderen bist Du ruhig und freundlich und ziemlich angepasst und spielst UNO oder malst Burgen. Vielleicht bist Du ein Mitwolfheuler, das weiß man noch nicht so genau. Überhaupt weiß man noch nicht, was an Dir die Jahre überdauern wird. Wie Du wohl sein wirst mit 35? Manchen Leute sehen auf Ihren Kinderbildern genauso aus wie 30 Jahre später, also nicht so körperlich, aber sonst. Es wäre nicht das Schlechteste, wenn das auch bei Dir so wäre, aber was auch immer an Dir bei Dir bleibt: Bei mir bleibst Du nicht. Ich werd‘ Dich vermissen.

11 Gedanken zu „Du mit fünf

  1. Vielen Dank, allen zusammen. Es ist ja Mode geworden, öffentlich laut herumzuheulen, wie hart das Leben mit Kindern angeblich ist, aber das Leben mit dem F. ist eigentlich die reine Freude. Ich glaube, das liegt nicht an mir, weil ich eher etwas schneller genervt bin als andere Leute, sondern tatsächlich an F., der ein origineller, angenehmer Kerl ist, und ich genieße es jeden Tag, dass er noch klein ist und seine Zeit noch sehr gern mit mir verbringt.

    1. Da habe ich mich vielleicht nicht so treffend ausgedrückt. Die sozialen Kosten für das Mädchen wären höher, weil Mädchen Nerdtum viel weniger nachgesehen wird. Ein Mädchen mit skurrilen Spezialinteressen wird eher für komisch gehalten als für schlau und interessant.

  2. „…sondern dass Du mich so fotografierst, wie Du mich siehst. Noch findest Du mich wunderbar und fehlerlos, und es wird ein wenig hart für mich, wenn Du irgendwann feststellst, dass das nicht stimmt, auch wenn ich weiß, dass das so sein muss und wird.“ Da schossen mir spontan die Tränen in die Augen. Mein Babyjunge ist zwar erst knapp 3 Monate alt, aber irgendwann wird auch hier der Zeitpunkt kommen 🙁

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