Die Berliner Fama ist sich ja generell sehr sicher, dass alle ungeliebten Wahlergebnisse, ach, überhaupt alle Übel dieser Welt, auf dicke, alte, weiße Männer auf dem Lande zurückzuführen sind, die zu viel billiges Bier trinken und nicht richtig lesen können. Diese Leute seien es auch gewesen, die in ihrem Unverstand den Brexit ausgelöst hätten. Ich aber, denken Sie sich an dieser Stelle einen dumpfen, allmählich anschwellenden Trommelwirbel, habe erst kürzlich einen veritablen Brexiteer getroffen, der diesem Bilde krass widerspricht, einen walisischen Diplomaten, der irgendwas mit mittelalterlicher Geschichte und Religion studiert hat, tiefgläubiger Anglokatholik, vernünftig angezogen und mit geschliffenen Umgangsformen, der darauf brennt, dass das Vereinigte Königreich auf der Stelle die Europäische Union verlässt, um fortan in glänzender Einsamkeit zu alter Größe und Schönheit zu finden. Ja, Sie staunen. Ich, zu Gast in einem ebenso kunstliebenden wie -sammelnden Haushalt von Bekannten, staunte auch.
Die neu erworbene Grablegung Christi, die die Hausherrin ihren Freunden und Bekannten vorführen wollte, erwies sich als etwas derb. Aus den Augenwinkeln sah ich die Gastgeber über eine liebliche, handtellergroße Maria Magdalena mit bloßen Füßen dozieren, beschloss, ihnen nicht ins Esszimmer zu einer Flämischen Anbetung zu folgen, lehnte mich ans Klavier und lächelte den Brexiteer freundlich an. Ich bin ziemlich klein, ich lächele also quasi immer und automatisch so von schräg unten nach oben. Sehr konservative Männer mögen das. Der Brexiteer straffte sich also und öffnete den Mund zu einer kleinen Rede. Das Empire also. Seit Ende des Empire gehe alles bergab, bei den ehemals Beherrschten noch mehr als bei den Briten selbst.
So mancher hätte auf der Stelle die ja an und für sich naheliegende Frage aufgeworfen, ob es nicht etwas vermessen ist anzunehmen, die Völker des Commonwealth hätten irgendein Interesse daran, bei der Wiederrichtung eines Empire mitzumachen. Die meisten Leute regieren sich ja doch lieber selbst. Ich aber zählte innerlich bis zehn und trank sehr schnell zwei Glas Rosé, um die folgende Konversation noch mehr zu genießen.
Der Waliser blieb mir nichts schuldig. Die Flämische Anbetung auszulassen, hatte sich voll gelohnt: Im Urlaub läutet der Waliser Glocken in englischen Klöstern. Seine drei Kinder haben fast so irrsinnige Namen wie die sechs von Rees-Mogg. Er dürfte im Laufe seines Lebens mehr Hostien gegessen haben als irgendwer sonst, den ich kenne, und er glaubt an den Teufel. Ja, das ist wirklich wahr.
Ich lächelte und schwieg. Der Brexiteer geriet immer mehr in Fahrt. Das Mittelalter. Die heidnischen Weiten der asiatischen Steppe. Meister Eckhart und die Geburt Europas aus dem Geiste der Mystik. Europa als innerer Widersacher der EU. Kurz vor dem Zustand überschnappender religiöser Ekstase bog Freundin K. um die Ecke und wollte heim.
Zwei Tage später schrieb der Waliser. Normale Leute hätten eine Gesprächsfortsetzung beim Kaffee angeboten. Der Waliser jedoch erbat eine Begleitung zur Messe. Höflich lehnte ich ab und verwies auf den J. und seinen Abscheu vor der katholischen Kirche.
Dies schien den Waliser anzuspornen. Seit mehreren Wochen bemüht sich der Waliser um die Rettung meiner Seele. Die Kurve der für mein Seelenheil bundesweit gesprochenen Gebete ist in den letzten Wochen noch einmal deutlich angestiegen; ich fühle mich auch gleich viel besser als seit Jahren, und nur sehr, sehr weltliche, lästerliche Menschen mit einer überaus verdorbenen Phantasie würden annehmen, dass die Intensität der Bemühungen des Brexiteers um die Rettung meiner Seele möglicherweise nicht vollkommen von rein gottgefälligen Motiven geprägt sein könnte, was dieser natürlich weit von sich weisen würde, so weit ungefähr, wie das Vereinigte Königreich in seiner Vorstellung vom Sündenpfuhle Brüssel entfernt gehört, also sozusagen unendlich.
Die Bemühungen des Walisers könnten eine unverdiente und späte Möglichkeit zur Gnade der Erkenntnis sein.
Ich habe nicht vor, den Walliser zu erkennen
Replik sitzt. Heinz freut sich.
Die spinnen, die Engländer, äh, Verzeihung, der Waliser. Das 19. Jahrhundert ist doch schon längst vorbei!
Die Vergangenheit, sagen manche ja, sei nicht vorbei usw.
Jeschuschmaria (wie meine Großmutter zu sagen pflegte), warum ausgerechnet der Brexit die Wiederherstellung eines den christlichen Geist atmenden Europas fördern sollte, erschließt sich mir jetzt aber so ganz und gar nicht.
Und dann noch: es scheint mir ein riesiges Problem zu sein – nicht Ihres -, dass politische Gegner gern unterschätzt und für dumm gehalten werden. In den Thinktanks der politischen Gegner jeder Couleur sitzen NICHT die dicken alten Männer aus der Provinz, die gern viel Bier trinken und Fußball gucken, wenn sie nicht gerade ihre Frauen prügeln.
Ich glaube, er identifiziert die EU mit der liberalen Moderne
Okay, so würde dann seine Haltung Sinn ergeben.
Aber dass der Ausstieg aus der liberalen Moderne zu einer christlichen Erneuerung im besten Sinne in GB führen würde…naja, Glaube versetzt wohl Berge.
Er will zurück in die Dreißiger, würde ich sagen, aber das ist natürlich ganz und gar unmöglich
Ich bewundere Sie dafür, nicht in schallendes Gelächter ausgebrochen zu sein. Und ich hoffe sehr, Sie treffen den walisischen Diplomaten in ein paar Jahren nochmals wieder, wenn sämtliche Brexiteers und Brexiters gemerkt haben dürften, dass das mit dem Empire 2.0 nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt hatten. Das Posting würde ich dann nur zu gerne lesen.
Ich fürchte, für diese Illusionen wird nicht er bezahlen, sondern ganz andere Leute, die sich nicht so leicht zu helfen wissen werden
Ja, natürlich. Die Kolonien bekommen aber auch die wohlhabenden Brexiter nicht zurück. Eine schmerzliche Erkenntnis.