Königin

Als es anfing, fiel es gar nicht auf. Sie hatte ja schon immer elegante Kleider geliebt, schöne Stoffe, Hüte sowieso, sehr gern mit kleinem Schleier, und als Chefsekretärin war sie es seit den Sechzigern gewohnt, an der Seite ihres sehr schwulen Chefs offizielle Essen und Empfänge zu besuchen und mit ihm zu verreisen. Sie war damals überall, sogar in Persien und Moskau, und die beiden Söhne fanden sie wunderschön in ihren Etuikleidern mit kleinem Jäckchen, in den duftigen, bunten Cocktailkleidern und den großen Roben. Außerdem waren der K. und sein Bruder in den letzten Jahren so selten da, denn beide Brüder wohnen in Berlin, da erschien es schon fast selbstverständlich, dass ihre Mutter sich festlich anzog, wenn sie kamen, und überdies liebten die Töchter des K. die Kleider der Großmutter und zogen sich selbst ebenfalls aufwendig an, wenn sie nach Bad Bergzabern fuhren, wo die Großmutter sich ein kleines Haus mit Türmchen und schmiedeeisernem Schnörkeltor gekauft hatte, als sie Mainz und den Großvater verlassen hatte nach ihrer Pensionierung.

Irgendwann fiel dem K. auf, dass seine Mutter sich einen richtigen Thron gekauft hatte, in dem sie an der Stirnseite der häuslichen Tafel präsidierte. Es war ein sehr hoher Stuhl, in der Mitte war eine eingeschnitzte Krone, und das Kissen, auf dem sie saß, war aus rotem Samt. Er freute sich wirklich, denn der K. liebt es selbst, sich und seine Feste zu inszenieren. Das hat er von ihr, sagt er, denn auch ihre Einladungen waren damals, als K. klein war, legendär.

Nie verlor sie ihre Haltung und Grazie, bis heute. Nie fiel sie öffentlich aus dem Rahmen. Irgendwann fiel es dem K. natürlich schon auf, dass sie zum Essen am Nikolaustag ein Kleid aus einem silbern bestickten Brokat trug und ein Diadem, das sehr echt aussah, aber – wie sie zur Beruhigung beider Brüder versicherte – aus dem Opernfundus stammt. Außerdem aß sie nun täglich auch ganz allein von dem früher nur zu Feiertagen aufgelegten Silber und dem Meissner Porzellan. Der K. findet das aber gut, denn wozu Silber und Porzellan schonen, wenn man es eh nicht mitnehmen kann ins wie auch immer geartete Jenseits, und der K. wäre garantiert der letzte, der die nächsten dreißig Jahre von Meissner Efeu essen will.

Die Jahre kamen und gingen, die Mutter wurde kleiner, nicht aber gebeugter, und der K. inspizierte ab und zu Neuanschaffungen wie eine Art Szepter, ebenso aus dem Fundus eines Theaters, einen roten Läufer, und unterhielt sich unauffällig mit den Nachbarn und den anderen Leuten in der Kirchengemeinde. Bis heute preist man seine Mutter in Bad Bergzabern wegen ihrer Hilfsbreitschaft und ihrer wohlschmeckenden Torten, und so hat der K. bisher keinerlei Anlass, einzuschreiten, obwohl, wie man mir erzählt, ernsthafte Anzeichen dafür bestehen, dass seine weit über achtzigjährige Mutter inzwischen sogar mit Diadem fernsehend auf dem Sofa sitzt, während die langjährige philippinische Kraft ohne das geringste Zeichen des Erstaunens ungerührt um sie herum den Boden wischt. Die Kraft jedenfalls ist mit der Mutter ebenfalls sehr zufrieden, denn diese sei nicht nur großzügig, sondern auch freundlich und gar nicht herablassend.

Aber als Königin ist dies ja eigentlich selbstverständlich.

11 Gedanken zu „Königin

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