Lunch

Er hat sich nicht sehr verändert, denke ich und stehe kurz auf, um ihn zu umarmen. „Hey.“, sagt er und drückt mich ganz kurz an seine Brust und dann wieder weg. Noch immer streicht er sich die etwas zu langen Locken mit dem kleinen Finger der linken Hand hinters Ohr.

Neben uns, auf der anderen Seite der marmornen Säule, fuchtelt ein Mann so heftig mit den Armen, dass der Luftzug mich unangenehm an der Wange berührt. Hin und her laufen die Kellner, als gelte es, einen Schnelligkeitswettbewerb zu gewinnen. Es ist kurz vor eins, rundherum isst man genug Schnitzel, um den ganzen Gendarmenmarkt mit Kalbsfleisch zu bedecken, und ich schaue kurz und zerstreut auf die Karte. Ich nehme die Boudin. Wie immer.

Leise ist er nach wie vor. Abends, sagt er, sitze er viel in Hotelzimmern und liest. Horaz habe er kürzlich nochmals gelesen. Mosebach liest er gerade. Ab und zu zwischen zwei Meetings geht er in fremden Städten ein wenig spazieren. Manchmal kehrt er dann in Kirchen ein. Er bete aber selten, sagt er, denn das – so wisse er – stehe ihm nicht an. Ich nicke, denn etwas anderes fällt mir nicht ein.

Er ist viel unterwegs und wenig in Berlin. Er hat ein Haus gekauft. Er fühlt sich wohl auf Flughäfen, in Hotels, beim flüchtigen Gang durch fremde Innenstädte und Parks, und ab und zu fahre er an dem Ort vorbei, an dem wir beide einmal gelebt haben als wir ganz jung waren und glaubten, wir seien ein Paar. Manchmal denke er daran, noch einmal diesen Ort zu besuchen. Niemals mehr seit damals sei er dort gewesen, denn seine Mutter lebe da ja nicht mehr, die er ohnehin, so sagt er und rührt seinen Kaffee, selten sehe, sehr selten: Nur alle paar Jahre.

4 Gedanken zu „Lunch

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