Vom Paradies ein gold’ner Schein

In den Ferien, wenn sonst keiner frei hatte, kamen Schwesterchen und ich zur Oma. Wenn die Oma nicht da war, kamen wir zum Onkel. War aber auch dieser nicht verfügbar, weil die dazugehörige Tante zur Kur war oder verreist, oder weil man nicht zwei Schulferien hintereinander dem Onkel gleich zwei Mädchen zumuten konnte, musste wir zu den Tanten, die eigentlich Großtanten waren, also die beiden ältesten Schwestern des Großvaters, die eine Buchhandlung hatten, über der sie wohnten.

Besonders gut lief die Buchhandlung nicht. Man darf sich das nicht blitzend und gläsern vorstellen, da war nichts mit roten Sesseln und Regelmeter um -meter Lebenshilfe und Reisen auf drei Stockwerken bis nachts um zwölf. Die Buchhandlung meiner Tanten war ein einziger Raum, ein kleines Fenster zur Straße, eine Tür, vor der ein Glockenstrang hing, und dann rechts und links Regale und in der Mitte ein langgezogener Tisch. Ganz hinten stand noch ein kleiner Tisch quer, darauf war die Kasse. Es war so dunkel, dass den ganzen Tag das Licht brannte, und damit möglichst viele Bücher in das finstere Gelass der Tanten passten, hatten mein Vater und mein Onkel A. Regale bis zur Decke gezogen, vor denen eigentlich immer dieselben Kunden standen und sehr, sehr lange brauchten, um Bücher auszusuchen. Besonders viele Kunden gab es nicht.

Ob meine Tanten nicht an Dekoration glaubten, oder ob schlicht nichts mehr in ihre Bücherhöhle passte, ist nicht mehr aufklärbar. Das Schaufenster dekorierten sie jedenfalls ebenfalls ausschließlich mit Büchern, Neuerscheinungen meistens, und wenn es vom Verlag Photographien der Autoren gab, stellten sie die daneben, damit man sehen konnte, wie die Schriftsteller aussahen. Ich kann mich an keinen Ausgestellten konkret erinnern, aber in meiner Erinnerung rauchen sie alle Pfeife, und die wenigen Frauen sahen aus wie Loki Schmidt. Gelegentlich schnitten die Tanten besonders hymnische Kritiken aus der Zeitung aus und stellten diese neben das gepriesene Buch, falls ein Passant zwar in der Zeitung die lobenden Worte der Kritiker verpasst hatte, sich aber beim Spaziergang von den gedruckten Sirenengesängen von Reich-Ranicki, Joachim Kaiser oder Hilde Spiel verleiten lassen würde.

Besonders begeistert waren meine Tanten von dem wochenlangen Besuch von Schwesterchen und mir vermutlich eher nicht. Wer lange allein gelebt hat, umgeben nur von seiner ebenfalls etwas schrulligen Schwester, hat sehr jugendlichen Besuch oft nur für einige Stunden ganz gern. Der kindliche Appetit macht alte Damen Sorgen, und der Bewegungsdrang von Zehnjährigen ist für zwei alte Frauen, die niemals Fahrrad fuhren und nicht schwammen, einigermaßen schwer zu beherrschen. Anmerken ließen sie sich das aber nicht. Nur den Ermahnungen meiner Mutter war anzumerken, dass man über der Buchhandlung nicht genauso willkommen war wie woanders. Außerdem bekamen wir zu den Tanten richtige Geschenke mit, nicht nur ein paar Pralinen oder Taschentücher oder so, und irgendwann, der Besuch sollte besonders lange dauern, kaufte mein Vater einen Videorecorder. Das war teuer. Die Tanten hätten sich einen Videorecorder niemals gekauft. Ein vorhandener Videorecorder aber wurde genutzt. Man lieh Videos aus. Man nahm Filme auf, und als ich das nächste Mal erschien, nur für ein zwei Wochen, wie ich meine, lief der Recorder im Hochbetrieb.

Jeden Abend saßen die Tanten auf dem grünem Sofa in dem Wohnzimmer über dem Geschäft. Jeden Abend gab es einen Film, öfter auch einmal dieselben, wie ich wenig später bemerkte, denn das Repertoire war begrenzt. Heinz Rühmann war beliebt, den konnte man ständig sehen. Cary Grant war beliebt, galt aber in den Kreisen meiner Tanten als entschieden zu schön für einen Mann. Willy Fritsch mochten beide Tanten nicht ganz so gern wie Hans Albers. Ungeschlagen und in eigentlich jeder Lebenslage gern gesehen war Peter Alexander. Frauen dagegen mochten meine Tanten nicht so.

In der ersten Woche bei den Tanten saßen die Tanten und wir im Wesentlichen stumm auf dem Sofa und saßen schwarz-weißen Schauspielern beim Handkuss zu. Ab und zu gaben die Tanten spärliche Erklärungen der Handlung ab, erläuterten Schauplätze und ließen längst versunkene Namen fallen. Zu den abendlichen Filmen gab es meistens gebrannte Nüsse, Katzenzungen, Mozartkugeln und Saft. Die Tanten gönnten sich gelegentlich ein Glas Wein. In der zweiten Woche aber entspannten sich die Tanten. Abends gab es nun auch für mich ein sehr kleines Glas Wein mit viel Selters, und außerdem blieben die Tanten nicht länger stumm. Wenn gesungen wurde, sangen sie mit.

Irgendwo auf der Welt, sangen die Tanten, gebe es ein kleines bißchen Glück. Das aber, so entnahm ich dem Trio meiner Tanten mit Lilian Harvey, gebe es nur einmal. Das kommt nicht wieder, sangen die Tanten mit ihren nicht ganz sicheren Altdamenstimmen, und gingen gefährlich in die Höhe, wenn es zu schön war, um wahr zu sein.

Wenn ein junger Mann kommt, hätten meine Tanten vermutlich kaum gewusst, was damit anzufangen, auch wenn ich nicht ausschließen kann, dass sie mit ihm in den Himmel hinein hätten tanzen können. Ich bin ja heut‘ so glücklich, wurde ereignisunabhängig gesungen, auch wenn meine Tanten Renate Müller aus irgendwelchen obskuren Gründen besonders wenig mochten, doch schließlich hat Jede Frau irgendeine Sehnsucht.

Wenn aber der Film aus war, gingen die Tanten einsam zu Bett. Sehr leid taten mir die alten Damen damals, hellwach abends um zehn im Gästezimmer im Bett neben meiner schlafenden Schwester. Dass es doch unschön sei, von Kavalieren – Husarenuniform hin oder her – nur zu träumen. Besser müssten es Frauen haben mit einem echten, eigenen Mann zum Tanzen und Träumen, stellte ich mir vor, denn dass zum Träumen immer etwas übrig bleibt, hate mir keiner gesagt.

4 Gedanken zu „Vom Paradies ein gold’ner Schein

  1. „Irgendwo brennt für jeden ein Licht“
    Danke für den schönen Text, der mich in das Wohnzimmer meiner Oma versetzt. Aber Heinz Erhardt sollten, könnten Sie doch bitte noch erwähnen.

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