Mutter

„Oha.“, sage ich, verkneife mir ein herzhaftes „Bist du wahnsinnig“ und wechsele einen besorgten Blick mit dem C. Die L. lacht. Sie persönlich werde ja gern photographiert, wirft sie in die Runde im Toca Rouge, allerdings kämen auch ihr die Umstände ein wenig sonderbar vor.

In der Tat:

Die L., Rechtsreferendarin und Gelegenheitsfreundin des mir befreundeten C., begab sich also vor zwei Wochen in Begleitung einer Freundin zu einem bekannten Club in Friedrichshain, und stand dort, wie es dort halt so Sitte ist, eine Stunde lang in der Schlange vor der Tür. Es war saukalt, die L. fror in einer Kombination aus einem nachthemdartigen blauen Gewand, sehr, sehr engen Jeans, einer viel zu kurzen Lederjacke und diesen Stiefeln, die aussehen wie die Fußbekleidung auf Mittelaltermärkten.

Nach circa 45 Minuten hatte die Freundin der L. genug gewartet und ging einfach weg. Die L. fror allein weiter. Irgendwo im Inneren des Gebäudes befanden sich weitere Freunde der L., die galt es zu finden, aber zunächst stand sich die L. vor der Tür die Beine in den Bauch.

Als ihr ein Fremder etwas zu trinken anbot, griff sie sofort zu. Ihre Hände seien schon ganz steif gewesen, berichtet die L., und der fremde Samariter habe ihr seine Handschuhe ausgeborgt. Schnell freundete man sich an. Der Fremde, so erfuhr die L., war Photograph, 38 oder so, gebürtig aus Aachen, aber ansässig in Kreuzberg seit fast zwanzig Jahren, und arbeite für verschiedene Presseorgane und ansonsten photographiere er halt so herum. Ein- oder zweimal habe er in kleinen Galerien ausgestellt.

Die L. fand das alles hochspannend. Die L. stammt selbst aus einem Kaff in Hessen, dessen Namen wir uns alle nicht merken können, hat dann in Marburg studiert und ist seit knapp sechs Monaten – für immer, wie sie beteuert – in Berlin. Entsprechend bewunderte sie den Photographen bestimmt zehn bis zwanzig Meter lang in Richtung Haupteingang, und das dauert ziemlich lange.

Kurz vor dem Eingang bot der Photograph an, die L. zu photographieren. Er habe da so ein Projekt. „Wenn es nichts Nacktes ist ….“, stimmte die L. etwas vorsichtig zu, und der Fremde beruhigte sie. Es gehe um voll bekleidete Bilder. Die L. gab ihre Telephonnummer heraus. Dann trennten sich die Wege: Die L. ging tanzen, der Photograph fuhr, von der Tür verschmäht, heim.

Schon am nächsten Tag rief der Photograph an. Noch am selben Abend traf die L. ihn in einem Café und ließ sich erläutern, worum es ging. Sie sollte in Abendkleidern photographiert werden, teilte der Photograph ihr mit, und zwar in den Abendkleidern seiner Mutter. Dieser – und der Photograph zückte ein paar Bilder seiner Mutter in jungen Jahren – sehe die L. im Übrigen außergewöhnlich ähnlich.

„Kleiner Mutterkomplex.“, kommentierte der C. dieses Projekt einige Tage später eher sparsam, wie es dem betont nicht-beziehungsähnlichen Verhältnis zwischen dem C. und der L. entspricht. Sorgfältig ist der C. darauf bedacht, weder Verhaltensweisen, die nach Eifersucht aussehen könnten, noch übertriebene Fürsorge an den Tag zu legen, und so behielt er seine Meinung auch dann noch für sich, als sich herausstellte, dass es nicht um die Kleider einer lebenden, sondern einer vor einigen Jahren verstorbenen Mutter geht. Als aber die L. ankündigte, diese Bilder würden nicht in Kreuzberg, sondern in Aachen im inzwischen unbewohnten Einfamilienhaus der toten Mutter gefertigt, wohin sich der Photograph mit der L. zu diesem Zweck für mehrere Tage begeben werde, bat der C. dann doch einige vorwiegend weibliche gute Freunde, der L. den eindrücklichen Rat zu geben, hiervon auf jeden Fall Abstand zu nehmen, selbst wenn, wie der L. versichert wurde, diese im Bett seiner Mutter schlafen dürfe, während der Photograph im Kinderzimmer übernachte wie immer.

21 Gedanken zu „Mutter

  1. Die Erfolgsquote des Herrn Fotografen mit solchen Maschen dürfte bei 75 % liegen, denn die Dummheit und Blindheit vieler Leute ist grenzenlos.

    Die L. möge uns über ihren Aachenbesuch berichten, vor allem wie es sich im Mutterbettchen schlief.

  2. Kunst kommt ja von Klauen: Prima Projektidee also, zumal ich demnächst sturmfreie Bude in den Gemächern meiner Mutter tief im Bergischen Land haben werde. Abendkleider besitzt diese nicht, aber zu einem ordentlichen Remix gehören ja auch ein, zwei eigene Ideen. (Ich ahnte allerdings nicht, daß man mit dem Spruch „Ich hab auch mal ausgestellt“ noch jemanden beeindrucken kann. Zumal in Berlin.)

  3. lupenreines drehbuch. so fangen doch irgendwie immer die filme an, in denen man nach seltsam gewollt langweiligen 60 minuten teile von L. in einem schuhkarton findet – und der spaß dann von 0 auf 100 mal so richtig los geht …

  4. Gruselig hierbei ist, dass es tatsächlich Menschen gibt, die stundenlang in Eiseskälte vor einer …hmmm… Disco stehen um von bornierten Türstehern mit abschätzigen Blicken selektiert zu werden und das auch noch gut finden …

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