Patrick Leigh Fermor, Die Zeit der Gaben
Es ist der Winter 1933, in den aufgebrochen wird, doch der Reisende, der dreißig Jahre später seine Erinnerungen aufschreiben wird, wird von einem anderen, einem älteren Deutschland erzählen, als all die anderen, die von den Jahren berichten werden, die letztlich auch dem Deutschland Patrick Leigh Fermors ein Ende in Schutt und Asche, Scham und Schande bereiten werden. Mag es am Alter des Reisenden liegen, der achtzehnjährig Englands grüne Hügeln verlässt, um bis Konstantinopel zu wandern, mag es eine ausnehmende Naivität in politicis sein – das hässliche Deutschland jener Jahre scheint nur in Fetzen auf, in grellen, brutalen Flecken auf einem Bild, das idyllisch ist, rotwangig und gutmütig, und in dem die Äpfel schwer und golden des Reisenden Weg zu säumen scheinen, auch wenn die Wanderung durch ein winterliches Deutschland führt.
Kurs vor Weihnachten überquert Patrick Leigh Fermor den Ärmelkanal. Von den ehrwürdigsten Privatschulen der britischen Inseln geflogen, die Offizierslaufbahn in Sandhurst gar nicht erst ernsthaft begonnen, beschließt der Sohn eines britischen Kolonialbeamten, Europa zu bereisen. Zu Fuß sollen Mitteleuropas alte Wege beschritten werden, und Freundlichkeit, Hilfbereitschaft und eine versunkene Gastfreundlichkeit von einnehmender Arglosigkeit geleiten Patrick Leigh Fermor den Rhein abwärts, durch die Niederlande erst, durchs Rheinland, Baden, Bayern, über Österreich und Tschechien bis Ungarn und weiter, weiter bis an die Hohe Pforte und zurück. Vier Jahre wird die Reise dauern, deren erste beide Teile bereits als Buch erschienen sind. Ein dritter soll folgen.
Es ist ein märchenhaftes Deutschland, das der Brite durchquert. Die alten Schlösser öffnen sich dem Wanderer, der durch Empfehlungen angekündigt ein warmes Willkommen bei einer schon verblassenden Aristokratie erfährt, die weiß, dass ihre große Zeit vorbei ist, und deren Schlösser beginnen, zu verfallen. Öffnen sich keine Türen, so übernachtet er schon einmal bei der Heilarmee, in der einen oder anderen Scheune, und in Gasthöfen, hinter deren Butzenscheiben Bier und Wein, kümmelbestreutes Brot, frische Butter und Schinken auf ihn warten.
Freundlichkeit erfährt der Reisende von Unbekannten, von Arbeitern wie Grafen, vom behäbigen, selbstbewussten Bürgertum, seinen höheren Töchtern und alten Herren, wie von Bauern und Vagabunden. Schwer, atmend wie ein Tier im Winter schläft die alte Erde an Rhein und Donau und die Aufgeregtheit dieses Jahres scheint sehr fern, selbst dann, wenn der junge Engländer ins Wien der letzten, verzuckenden Zwischenkriegszeit gerät, wo ein rauschender Fasching gleichwohl präsenter erscheint als die Schreie der sterbenden Marxisten im Karl-Marx-Hof.
Nicht die Unruhe der Dreißiger, sondern die Unruhe einer länger versunkenen Zeit, der Landsknechtjahre, der Holbein, Cranach und Dürer, das Deutschland des Grünwald-Altars, der Schlösser und Burgen steht vor dem Wanderer noch einmal auf. Die leeren Felder scheinen belebt von längst vergangenen Schlachten mit Piken und Hellebarden, berühmten Schwertern und ihren noch berühmteren Besitzern, und die Herren des Dreißigjährigen Kriegs sind präsenter als die, die dem kommenden Krieg gebieten. Unter den verschneiten Haseln, den Ulmen und Buchen, der Einsamkeit eines Friedhofs am Wegesrand, meint man die blonden Feen vom Rhein lachen zu sehen, und die grobe Fröhlichkeit der deutschen Renaissance sitzt stets mit am Tisch. Fast, so meint man, verbergen sich hinter den Schwänen verwunschene Prinzen, und die Weiden am Fluss beschatten das Rohr, aus dem Eichendorffs Taugenichts seine Flöte schnitzt.
Ein welt- und zeitabgewandtes Deutschland zeichnet Leigh Fermor, bieder, entschieden vormodern und verträumt. Es ist noch ganz das Deutschland der Madame de Staël, und dieses „noch“, die Risse und Brüche dieser versinkenden Welt, das Sinken und Neigen selber, werden farbig unter den feinen, impressionistischen Federstrichen des in der britischen Welt bekannten Reiseschriftstellers, der die Farben des winterlich verwesenden Himmels, der saftigen, grausigen Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts, der Kathedralen und der Kirchen im rührendsten Bauernbarock, den Geschmack von Luft und Wasser, die verwitterte Pracht vergehender Städte, heiterer, eulenspiegelhafter Episoden ebenso zeichnet wie das unterirdische Grollen, das den Fahrenden durch alle Länder begleitet.
Es mag die Wehmut des Untergangs sein, die dieses – leicht zu lesende, einnehmende – Buch verzaubert. Das letzte Atmen am Vorabend der Schlacht, aus dessen Stürmen ein nüchternes, entzaubertes Land hervorgehen wird, voll der Stadtsparkassen und Oberstufenzentren, in dem breite Schneisen aus Beton den spitzweghaften Charme der Städte begraben. Es werden unserer Sehnsucht Glocken sein, die klingen nach einem Deutschland voll der Märchen und Legenden, nach den Bischöfen in ihren Burgen und der Biederkeit der Bürger in den kleinen Landstädten hinter alten Mauern. Die Zeit der Rosenstöcke, der Lieder (es wird ständig gesungen auf dieser Reise), der goldenen Trauben der Romantik neigt sich lächelnd vor dem Leser, und dass wir es besser zu wissen vermeinen, dass das harte Leben der Bauern, die Ungerechtigkeit und Enge der Verhältnisse, die Borniertheit der Bürger und der Hochmut der Aristokratie in anderen Büchern glaubhaft versichert werden, ändert nichts an dem Heimweh, das dieses Buch hervorruft, an dem Neid sogar auf diese von Jugend und einem halben Jahrhundert besonnte Rückschau auf ein vergangenes Land.
Das Buch wollte ich schon lange lesen. Danke für die Erinnerung.
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Es lohnt sich.
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Ich bin schon auf den ersten Seiten.