Wie schlimm es wirklich ist, merke ich erst am letzten Sonntag um acht. Bei REWE am Ostbahnhof fällt mir eine Tüte Milch aus der Hand, ein Tetra-Pak der Marke Füllhorn, und platzt. Sehr, sehr langsam, viel zu langsam eigentlich, läuft die Milch aus dem Loch in der Pappe, bis die Tüte fast leer in einer Milchlache liegt. Neben der Pfütze, irgendwo rechts von den Tiefkühltruhen stehe ich, schaue die Milch an und versuche mich zu erinnern, was man tut, wenn so etwas passiert.
„Kannst du nicht aufpassen?“, werde ich angerempelt, und ein blondes Mädchen mit dicken, blauen Kajalstrichen um die Augen blitzt mich böse an. „Sorry.“, sage ich und schaue weiter in die Milch, und das Mädchen faucht irgendetwas, das wie „hau doch ab“ klingt oder so ähnlich.
„Da.“, drückt mir die Kassiererin eine Rolle Haushaltstücher in die Hand, und zwischen den Stiefeln fremder Leute versuche ich, die Milch ganz und gar verschwinden zu lassen. „Da ist noch was.“, zeigt ein grinsender Mann auf den blanken, feuchten Boden, und freut sich mächtig.
„Jetzt nicht heulen.“, denke ich und presse meine Lippen fest aufeinander. Nicht weinen. Nicht laut schreien, dass dies die schlimmsten Wochen sind, die du jemals erlebt hast, dass dies die Hölle ist, Sonntag abend bei REWE, nach 34 aufeinanderfolgenden Arbeitstagen mit viel zu wenig Schlaf.
„Und die Milch.“, sage ich der Kassiererin und lege meinen Einkauf aufs Band, und versuche an all die Dinge zu denken, von denen ich weiß, dass es sie gibt, die Sonne zum Beispiel. Ein warmes Bett. Wasser, weiche, streichelnde Hände, und dass auch dies, auch diese Wochen, ein Ende haben werden, und alles wird gut.
Oder vielleicht wenigstens besser.
liebe modeste,
bitte pass auf dich auf! ich schenk dir ein paar „nein“ – vielleicht geht ja doch weniger?
liebe modeste, es wird sich nicht von selber ändern, das weiß ich aus eigener. ändern müssen Sie es schon selber, so unmöglich es auch scheint.
Bitte Frau Modeste, passen Sie auf sich auf …alles wird gut werden, wenn Sie auf die Bremse steigen, Hilfe holen und Nein sagen. Bitte, Sie sind es wert, wertvoll, wie Sie sind!
Was für herkuleske Aufgaben sind ihnen denn – um Himmels Willen auferlegt,
Frau Modeste…? Prokrastinieren Sie mal, auch wenn es vermeintlich ‚überhaupt‘ nicht geht…Milch zu verschütten ist ja durchaus steigerungsfähig!
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Fürwahr.
Machen Sie mal langsam, werte Modeste.
Wird es nicht.
Entweder der Job ist wirklich interessant – dann frisst er dich auf.
Oder er frisst dich nicht auf – dann beginnt er dich zu langweilen.
(Sollten Sie eine dritte Möglichkeit entdecken, geben Sie bitte Bescheid.)
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Modeste, halt durch und lass es Dir gut gehen !
@kaltmamsell, das ist Mentalitätssache. Ich habe immer einen interessanten
Job und werde nie von ihm aufgefressen.
was? nur 34 Tage? Ist grade nix los oder was? Da geht doch sicher noch was …
Ich habe jetzt richtig Lust, im Ostbahnhof einen großen Eimer mit Mayo fallen zu lassen, wenn die blonde Kassiererin mit zu viel Kajal da ist. Den bezahle ich gerne. Dann warte ich darauf, dass eine pöbelnde Kassiererin ernsthaft versucht, mir ein paar Tücher in die Hand zu drücken. Mit einem „Nein danke, meine Hände sind glücklicherweise sauber geblieben“ zur Kasse gehen.
An der Kasse sagen „Sie schauen so böse. Verständlich. Ich glaub ich würde mich erschießen, wenn ich hier jeden Tag arbeiten müsste“, eine Packung Kaugummi kaufen, pfeifend von dannen schreiten.
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Alles wird gut. So viele gute Gedanken wie hier für Dich sollten doch etwas bewirken.
PS: Bei REWE im SSC in Steglitz arbeiten nette Verkäuferinnen. Es geht auch anders.
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Das mit der Mayo wäre jetzt real foodporn. Als Fast-Belgier hat der Franz bei sowas rein
zufällig einen Becher mit heißem Frittenfett dabei.
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„Die Menschen arbeiten gemeinhin allzu viel, um noch sie selbst zu sein. Die Arbeit ist ein Fluch. Doch der Mensch hat diesen Fluch in eine Wollust umgemünzt. Aus allen Kräften und nur um der Arbeit willen arbeiten, sich an der Anstrengung laben, die unweigerlich zu belanglosen Errungenschaften führt, sich vorstellen, dass man sich nur durch objektive und unausgesetzte Arbeit verwirklichen kann, darin liegt das Empörende und Unbegreifliche. Die beharrliche und ununterbrochene Arbeit verblödet, trivialisiert und entpersönlicht …“
E.M. Cioran: Auf den Gipfeln der Verzweiflung (1934)
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… raffiniertes Frittenfett .. zum 5 mal raffiniertes Frittenfett (da sind dann noch Stuecke von allerlei Fleischabfaellen drin … )
schreien
möchte man und tut es viel zu selten.
Ich weiß nicht, ob ich so schlagfertig gewesen wäre wie der Weltenweiser, aber ich hätte weder gewischt noch bezahlt.
Ein Freund ist Mitte des Jahres Vater geworden und wurde einige Monate später zu den Kanzlei-Granden bestellt. Er arbeite nicht genug. Andere Anwälte würden auch Vater werden und trotzdem nicht nachlassen. Sein Tagespensum zu diesem Zeitpunkt: 13 Stunden. Und was macht dieser intelligente, promovierte Mann? Er gelobt Besserung.
Eine Hand klatscht nie alleine.
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Meister Adorno sagt dazu
Wie dagegen im engsten Umkreis Menschen dort verdummen, wo ihr Interesse anfängt, und dann ihr Ressentiment gegen das kehren, was sie nicht verstehen wollen, weil sie es allzu gut verstehen könnten, so ist noch die planetarische Dummheit, welche die gegenwärtige Welt daran verhindert, den Aberwitz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen, das Produkt des unsublimierten, unaufgehobenen Interesses der Herrschenden….Es gibt kein richtiges Leben im Falschen….Die Reinigung des Menschen vom trüben und ohnmächtigen Affekt steht in geradem Verhältnis zum Fortschritt der Entmenschlichung. (minima moralia)
Ich gehe davon aus, dass Sie den Begriff „Burnout“ kennen.
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Es geht doch auch darum, welche Verhältnisse und Einstellungen die Menschen für den Burnout zurichten und was es an Einstellungen gibt, die dies gar nicht erst zulassen.