Die Bahn fährt noch die ganze Nacht

Die Bar ist voll, eine dunkle, vibrierende Stimme aus den Boxen an der Decke singt von Tränen und zu vielen Abschieden, und J.² flüstert mir Geschichten über die schrecklichsten Nächte seines Lebens ins rechte Ohr. Die drei Männer an der Theke prosten mir zu, ich hebe automatisch das Glas, lächele, und flüstere zurück, denn auch da gibt es einiges zu erzählen, das ich vergessen habe, tagsüber, und wenn keiner danach fragt. J.² schaut an mir vorbei an die Decke, legt den Kopf auf die braune Holzfläche, die die meergrünen Polster vom Fenster trennen, und hört mir zu. Manchmal, wenn sich die Geschichten verdunkeln, legt er mir den Arm um die Schulter und streichelt über den schwarzen Stoff und jenes Stück Haut zwischen Hals und Schlüsselbein. Über jene Geschichte, die auch im Ordner mit schrecklichsten Nächten unserer Leben abgeheftet ist, sprechen wir nicht, denn das ist lange her, und seit Jahren alles gesagt, um die eisernen Haken noch tiefer ins Fleisch zu treiben.

„Komm´ ich noch nach Hause?“, fragt J.², der Neuling in der Stadt, als die Kellnerin beginnt, die Theke abzuwischen. „Am Wochenende,“, sage ich, „fahren die Bahnen die ganze Nacht.“ Und dass er notfalls auch bei mir übernachten können, bevor er sich ein Taxi nehmen müsse bis in die westlichen Vororte, denn das ist weit. „Kommst du noch mit zur Bahn?“, fragt er, und dreht eine Strähne meiner Haare um seinen Zeigefinger.

Die Schwedter Straße hinab erzählen wir uns von verlorenen Paradiesen, den beglänzten Sommerhäusern der Kindheit, den Festen unserer Eltern, als wir klein waren, und uns in Samtanzug und Taftkleidchen zwischen den Erwachsenen versteckten.

Die Bahn Richtung Ruhleben fährt in einer Minute. „Ich zieh´ dann mal eine Fahrkarte,“, sagt J.², und ich nicke. Die Fahrkarte in der Hand kommt er zu mir zurück, umarmt mich, drückt mich an sich, bis das Abfahrtssignal der Bahn tönt, und die Türen beginnen, sich zu schließen.

Langsam gehe ich zurück, vorbei an den dunklen Fenstern der Bar.

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