Später

Irgendwann einmal, wenn das 103 schon lange dichtgemacht hat, und kein Mensch mehr weiß, warum Tom Ford eigentlich Gott ist, und nur ganz alte Leute sich erinnern können, wie die Parties nachts in der Volksbühne riechen, werden vielleicht auch von jenen Menschen Memoiren erscheinen, die jetzt neben uns sitzen in der sanften, orangefarbenen Beleuchtung auf den beigefarbenen Bänken an der Wand. Die schwarzen Brillen am Nachbartisch, die beiden exaltierten blonden Mädchen, die magere Frau an der Bar, die sich beim Lachen so weit zurücklehnt, dass ihr Mund ausschaut wie ein schwarzes Loch, werden schreiben, wie sie einmal, Jahrzehnte wird es dann her sein, in die Stadt gekommen sind. Wie sich ein paar Hoffnungen erfüllt haben, wie die Rückschläge kamen. Wie jemand sie enttäuscht haben wird, privat, beruflich, oder von beidem ein bißchen. Vielleicht werden sie auch die Bar beschreiben, die dünne, riesengroße Kellnerin, die Tram hinter den großen Fenstern, und den Versuch, den frischen Pfefferminztee an den Stengeln vorbei zu trinken.

Die, die verlieren, werden ihre Erinnerungen für sich behalten. Die gewonnen haben werden, was es auch immer noch zu gewinnen gibt, werden die Klimax ihrer Erfolge schildern. Das Festival in der Provinz. Die Einladungen zum Theatertreffen. Die retardierenden Momente, weil ein unbegabter Konkurrent bei einflussreicher Stelle intrigiert haben wird. Die Erwartung, die Spannung, wenn die Welt alle ihre Tore öffnet, werden sie nicht vergessen haben. Die verregneten Nächte im Mai, in denen die eigenen Schritte das einzige sind, was man hört auf dem Heimweg. Die Blicke auf dem Weg einmal um den Tresen, das Frösteln, wenn man an Sommermorgen vor die Tür der Clubs tritt und sich schämt vor dem klaren Licht wegen etwas, für das man keinen Namen hat. Die Sachlichkeit der Küsse. Die Sehnsucht nach etwas, was größer ist als man selbst, und das man nachts manchmal spüren kann, kurz vorm Aufwachen. Die Angst, einmal tot zu sein, und etwas verpasst zu haben, von dem man nicht weiß, wie es heißt. Die Einsamkeit daheim. Die Stille vor der offenen Balkontür, vor der der weiße Rauch sich in nichts auflöst wie wir alle am Ende.

11 Gedanken zu „Später

  1. Scheitern als Trend

    „…Die, die verlieren, werden ihre Erinnerungen für sich behalten…“
    Ich bin entschieden dagegen! Scheitern als Chance ist doch schöner als darauf zu vertrauen, dass das Schicksal die ganzen Chancen im Ärmel mit sich herumschleppt… Quasi ein geiziges Füllhorn.
    Also scheitere ich glamourös und behalte nix mehr für mich. Raus mit den schrecklichen Erinnerung. Into the great wide open, while I´m free falling gracefully.
    Watch me fly!
    http://www.glamourdick.blogspot.com

  2. Chapeau, Frau Modeste. Sie wissen, die Herzen zu rühren. Wir verblassen jeden Tag, und Erinnerungen sind die Fotografien, die uns zurückführen an einzelne Punkte, Lebensetappen. Sie müssen mich mal mitnehmen in die Volksbühne. Diese Bar klingt interessant.

  3. 103-immanentes Scheitern, wunderbare Beschreibung. Warum Berlin den Rücken zukehren, wenn es sich hier doch schöner scheitern lässt als in anderen Städten?

  4. REPLY:

    Ich bin nun weder in Berlin noch gescheitert, also hier kein Experte, dennoch:
    wenn bei Modeste gescheitert wird, dann formvollendet, mit Grandezza, mit tragischer
    Schönheit. Das wäre aber auch so, wohnte sie in einer anderen Stadt. Die, die echt
    in Berlin scheitern, sind überwiegend erbarmungswürdige Loser, die nicht schöner,
    sondern dreckiger scheitern als in anderen Städten.

  5. hier zu lesen,

    und das tue ich erst seit kurzem genauer (weiß eigentlich nicht, warum erst jetzt) ist wie durchatmen auf einer parkbank, auf einer sehr schönen parkbank mit sehr schönem ausblick auf dunkelgrünes wasser, hinten zwitschern die vögel, ich atme durch und kann ganz bei mir sein. sprich: wenn ich hier lese, sehe ich bilder in meinem kopf. und das soll was heißen. dankeschön.

  6. REPLY:

    Spricht da nicht der Herr, der nach eigener Aussage sein Herz in einem goldenen Reliquienschrein verwahrt? – In jener Bar, in der ich einen guten Teil meiner Zeit totschlage, amüsiert man sich aber auch herzlos sehr gut, und ich werde Ihnen diesen prächtigen Laden mit Vergnügen vorführen.

  7. REPLY:

    Ach nein, Che, der Berliner Dreck, die geplatzten Träume, die irreale Atmosphäre, die stetig zwischen Hybris und Verzweiflung schwankt, das ist mein ganz persönliches Biotop. Fliegen auf einem schillernden Kadaver.

  8. REPLY:
    ja, nein,

    ja doch…. was weiß ich: ach, es war einfach nur ein gefühl… wie ich gelesen habe, das heute, ist mir einfach ein bild für verinnerlichung durch’n kopf gegangen. und dann war das da – dieses parkbank-zwitscher.feeling. ich habe mich einfach gut aufgehoben gefühlt. so wie ich es in meinem lieblingspark an meinem lieblingsplatz tue. so ist das. beim nächsten lesen kommt vielleicht ganz was anderes hoch. himmel. hölle. überraschungsei?

  9. REPLY:
    nachsatz

    vielleicht um noch ein bissl besser zu verstehen: ich liebe den park-platz, um zu denken, zu sinnieren, ideen zu entwerfen, von gedanken frei zu werden, um neuen platz zu machen…

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