Der Prophet

„Darf ich?,“ fragt der ältere Mann vom Nachbartisch und greift nach der Cocktailkarte. O. schiebt die Karte näher an den Rand des Tisches und fährt fort, sein Hotel in Athen zu beschreiben, und ein wenig über die Familie einer gemeinsamen Bekannten herzuziehen, die wir alle nicht ausstehen können. „Gräßliche Leute,“, sage ich deswegen, und O. nickt.

„Kann ich sie kurz unterbrechen?“, wirft der Nachbar ein, und rückt ein wenig näher auf den weißen Bänken, die sich die ganze Wand entlangziehen.

„Ich höre ihnen schon eine ganze Weile zu, und ich möchte ihnen nur einmal sagen – das ganze Unheil in der Welt, das stammt doch von Leuten wie ihnen.“ Etwas ratlos schaue ich den Mann an, und krame in meinem Gedächtnis vergeblich nach den konkreten Handlungen, die meine Verantwortung für den Hunger in der Welt oder die Klimakatastrophe begründen könnten.

„Sehen sie – sie sprechen da so einfach über andere Leute, die doch auch ihr Päckchen zu tragen haben, sie machen sich gar keine Gedanken, dass das auch Menschen sind. Da reicht es, dass einer das Messer abschleckt, und dann ist er gleich ein schlechterer Mensch.“, der Nachbar scheint bekümmert. Seine hohe Stirn unterm schon sehr zurückgegangenen Haaransatz wirft parallele, wellenförmige Falten und er schaut abwechselnd dem O. und mir direkt ins Gesicht.

„Tja,“, sage ich, „das dürfen sie nicht so wörtlich nehmen. Man sagt doch viel, was man im Grunde gar nicht so meint.“ O. legt den Kopf gegen die Wand und starrt indigniert an die Decke. „Aber das ist es ja gerade,“ der Mann sieht mir anklagend in die Augen. „Die Leute sagen irgendwas, und denken sich nichts dabei, und auf diese Weise zerstören und verletzen sie Menschen. Menschen, sage ich ihnen.“

„Hören sie,“, rede ich beruhigend auf ihn ein, „wir sitzen hier einfach nur nett bei einem Cocktail, und was wir uns erzählen, ist gar nicht für die Ohren anderer gedacht.“ Der O. stöhnt ziemlich laut und winkt nach dem Kellner.

„Sehen sie – ihr Freund, der will sich gar nicht seiner Verantwortung stellen. Da reden sie Menschen schlecht – Menschen, sage ich ihnen – die erholen sich vielleicht nie wieder von dem, was sie da so leichtfertig daherreden, und dann kommt einer und erzählt´s ihnen, und der hört gar nicht zu.“ „Bitte,“, sage ich, nun auch leicht gereizt, „wir wollen uns hier einfach nur ein bißchen ungestört unterhalten.“ „Unterhalten!“, sagt der Mann nun ziemlich laut. „Unterhalten nennen sie das. Ich nenne das Rufmord!“

„Komm, wir gehen.“, sagt der O. und legt dem Kellner das Geld auf den Tisch.

„Ihnen geht´s prächtig, was?“, der Mann wird nun deutlich lauter und zieht das Interesse einer Gruppe üppiger Frauen ein paar Tische weiter auf sich, die in etwas billig wirkenden Kostümen sehr bunte Cocktails durch ihre Strohhalme schlürfen. „Sie sitzen hier herum, geben das Geld ihrer Eltern mit vollen Händen aus, und machen andere Leute schlecht, die von ihrer Hände Arbeit leben!“ Zur Demonstration dieses, in Bezug auf die unseren Gesprächsgegenstand bildende Bekannte im übrigen ganz und gar unzutreffenden, Sachverhalts hebt der Mann die breiten Hände bis etwa auf Stirnhöhe und spreizt die Finger.

O. prustet los. „Raus hier.“, sage ich und stehe einen Moment später auf der Straße. Dort, auf dem dunklen Gehsteig, fängt der O. an zu lachen, und hört erst Minuten später am Wagen wieder auf.

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