Prinzessin

Ich bin fünf. Ich stehe vor dem Spiegel im Schlafzimmer meiner Eltern und drehe mich mit einem bunten Tuch auf dem Kopf, an dem Blechmünzen und kleine, bunte Perlen ganz leise klirren. Dann nehme ich das Tuch wieder ab. Ich will keine Zigeunerin sein. Auf dem Bett liegt ein orange-schwarz gestreifter Schlafanzug, aber ich will auch keine Tigerin darstellen. Keine Biene, keinen Arzt mit Stethoskop, auch kein Zauberer, sondern – ach – eine Prinzessin. Ein duftig-rosiges Kleid. Lange, offene Haare, ein Krönchen, vielleicht sogar ein bisschen echten Lippenstift.

Leider ist hier weit und breit nichts von dem Kleid zu sehen, das mir vorschwebt, und meine Mutter macht auch nicht den Eindruck, als wäre sie bereit, so etwas bis Rosenmontag noch zu kaufen. Genauer gesagt wirkt meine Mutter so, als würde aus meiner Prinzessinnenvision für den Rest meiner Tage nichts, obwohl die alles überragende Bedeutung des Prinzessinnenstatus für jeden klar denkenden Menschen auf der Hand liegen sollte und zudem in dicken Büchern vielfach dokumentiert ist, doch meine Mutter sagt nein.

Ich weine, schreie und argumentiere. Ich verspreche wochenlanges Silberputzen, Sockensortieren und sogar den zeitweiligen Verzicht auf die Kassette „Eliot das Schmunzelmonster“, und schließlich gibt meine Mutter nach. Im Prinzessinnentaumel springe ich auf dem Elternbett herum und jubiliere. Nicht einmal die Nachricht, das Prinzessinnenkleid aus rosa Tüll werde nicht angeschafft, kann mich stoppen. Immerhin verspricht meine Mutter eine farbenfrohe, wunderschöne Eigenkreation mit Schleier und Szepter. Glücklich gehe ich schlafen.

Rosenmontag bin ich um fünf Uhr wach und sitze auf der Bettkante neben meinem Vater. Mein Vater schläft, kneift im Traum ab und zu die Augenlider zusammen und schließt und öffnet den Mund. Er sieht nicht aus, als wache er gleich von selbst auf, obwohl doch heute Rosenmontag ist, Festtag der Festtage, und mein Vater als Vater einer Prinzessin ein echter König, denn man weiß ja, dass der Vater einer Prinzessin stets ein gekröntes Haupt besitzt. Meinen Vater allerdings ficht das nicht an. Er geht als Cowboy, wie immer.

Stunden später erst stehen meine Eltern auf. Noch mehr Stunden später werde ich verkleidet. Meine Mutter hat ein paar bunte, durchsichtige Tücher zusammengenäht, die bekomme ich als Kleid angezogen. Ein glitzernder Gürtel, ein glitzernder Stab. Statt einer richtigen Krone muss ich mit einem runden, glänzenden Haarreif vorliebnehmen. Dafür gibt es echten Lippenstift und rote Bäckchen und meine Haare werden mit einem Lockenstab und viel Haarspray in große, schwingende Locken verwandelt.

Auf dem Fest gibt es viele Prinzessinnen. Fast alle – ich ärgere mich sehr – haben eins der begehrten rosa Kleider. Ich bin eine Regenbogenprinzessin sage ich zu meiner Freundin K. Aber ich, entgegnet sie, bin eine echte Prinzessin, und da beiße ich mir auf die Unterlippe und gucke finster, bis das nächste Lied beginnt und ich mit all den anderen tanze. Hossa, schreie ich und recke die Hände gen Himmel. Entschlossen trinke ich zwei Limonaden, esse eine Waffel mit Puderzucker und knabbere mit meiner Freundin deren Zuckerketten ab, die sie in verschwenderischer Fülle um den Hals trägt.

Stunden um Stunden geht das so. Ich tanze und vergesse die Welt, ich lache, ich esse viel zu viel, aber dann setzen sich alle Kinder auf den Boden. Die Preisverleihung beginnt.

Sehr lange geben sich ausschließlich Erwachsene Blumen und sprechen von Dankbarkeit und Verdiensten. Wir gähnen und essen die letzte Zuckerkette auf und flüstern uns zu, was wir von den Kostümen der anderen halten, und wer wohl gewinnt. Ab und zu schiele ich begehrlich auf den Tisch mit den Preisen. Ich habe es auf den dritten Preis abgesehen, ein schön verpacktes Buchpaket, gestiftet von der Buchhandlung Moritz, rechne mir aber von vornherein keine Chancen aus, denn hier ist alles voller Prinzessinnen, die alle exakt die schönen Kleider, den glitzernden Schmuck haben, den anzuschaffen sich meine Mutter weigert. Neidvoll bewundere ich ganz besonders meine Freundin K. und zupfe ab und zu ein bisschen an ihrem rosa Rock. Ganz kurz trage ich auch ihre Krone und klimpere ein bisschen mit den Augen.

Stundenlang, so fühlt es sich zumindest an, zieht sich die Prämierung der besten Kostüme. Bisher war noch keine Prinzessin dabei. Der Jüngste unseres Zahnarzts bekommt einen Preis für seine Verkleidung als Maikäfer. Die Tochter einer Freundin meiner Mutter, die ich noch nie leiden konnte, wird für ihre Verkleidung als Teekanne prämiert. Ich verziehe das Gesicht. Eine Teekanne zu sein, erscheint mir ganz besonders sinnlos, aber einerseits passt es zu dieser widerlichen Person. Dass sie überhaupt einen Preis erhält, finde ich ausgesprochen erstaunlich, allerdings sind wir erst beim fünften Preis, und dass man eine Prinzessin – ich sehe meine Freundin K. an – nicht mit einem fünften Preis abspeisen kann, ist eigentlich auch klar. Dann schon eher eine Teekanne.

Als auf einmal mein Name fällt, bleibe ich reglos sitzen. „Na, du!“, flüstert die K. und gibt mir einen Schubs. Hochrot stolpere ich in die Mitte und steige die drei Stufen aufs Podium. „Der vierte Preis geht an Modeste als …..“, leicht verschämt schaue ich auf mein regenbogenbuntes Kostüm, „Zaubererin!“, fährt der Vorsitzende des Sportvereins fort, der die Preisverleihung vornimmt, und ich öffne und schließe ein paarmal lautlos den Mund. „Prinzessin!“, ächze ich, als der Vorsitzende meinen angeblichen Zauberstab („Szepter!“) lobt und mich auffordert, meinen Zauberumhang wehen zu lassen. Mit hochrot-verzerrte Gesicht schnappe ich mehrfach nach Luft und wische mit der einen Hand ein paar Tränen von meinen Wangen. Mit der anderen nehme ich eine Spielesammlung entgegen, die ich in ganz ähnlicher Gestallt bereits besitze. Zauberin also. Keine Prinzessin. Meine Mutter hat mich betrogen.

Eine halbe Stunde später klopft meine Freundin K. gegen die Toilettentür. Ich lasse sie ein. Die K. ist ebenfalls geknickt. Sie hat gar keinen Preis erhalten. Die Preise eins bis drei gingen an den Prinzessinnen in toto vorbei, vermutlich weil der Vorsitzende nur eine ganz hässliche Tochter hat, die passenderweise als Frosch erschienen ist, und so sitzen wir alle beide auf dem Toilettendeckel, essen aus einer zerknitterten Butterbrottüte saure Pommes, Schlümpfe und Colafläschchen von Haribo und schwelgen in Selbstmitleid unter unseren zerdrückten Kronen. „Du bist eine echte Prinzessin und jeder kann das sehen.“, tröstet mich die K. „Du bist die schönste Prinzessin in ganz R.“, behaupte ich.

 

6 Gedanken zu „Prinzessin

  1. Brutal. Waren keine Prinzen auf weißen Pferden anwesend, die Sie hätten verteidigen können? Leider vergißt man sowas ja nicht, ebenso wie Geschichten, wann man beim Sportunterricht in welche Mannschaften gewählt wurde. Immerhin ging alles gut aus -,jetzt mit Ihrem kleinen Prinzen da.

  2. Es war und ist ein Elend mit Müttern.
    Auch meine verweigerte mir viele Faschings lang das Prinzessinnenkostüm – und ich war genug an ihre Unangepasstheit („Du willst doch nicht wie alle anderen aussehen!“) angepasst, dass ich das ohne echten Protest mit mir machen ließ.
    So ging ich also als aufwändig und selbst genäht ausstaffiertes Biedermeiermädchen auf den großen Kinderfasching im Kolpinghaus. Und hatte durchaus meine Gaudi. Ich sah niedlich genug aus, dass der Lokalzeitungsfotograf ein Bild von mir für die Berichterstattung am nächsten Tag aussuchte. Doch in diesem Fall verlief das Unheil in genau die andere Richtung als in Ihrem: Der Bildtext bezeichnete mich als Prinzessin, meine Mutter war empörtest.

    1. Wie man’s macht …. ich denke aber heute, meiner Mutter war durchaus klar, dass ich keine Prinzessin darstellte. Vermutlich war es genau das mir von vornherein zugedachte Kostüm. Ausgetrickst sozusagen in meiner ganzen Naivität.

  3. Ist das eine tolle Geschichte…wirklich…ich lese gerade heimlich ein wenig im www und meine Familie denkt, ich schlafe etwas länger wegen meiner Erkältung. Dabei hab ich erst Jobs geguckt, dann Gründungszuschuss-Infos gesucht, dann bei twitter nachgeschaut und schließlich den Reader aufgemacht…
    Da war heute zwar eine andere Geschichte von Euch drin, aber ich hab diese hier danach gefunden und bin ganz arg hingerissen.
    Wunderbar.
    Vielen vielen Dank!

    Minusch

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Sie möchten einen Kommentar hinterlassen, wissen aber nicht, was sie schreiben sollen? Dann nutzen Sie den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken