Topographie

Natürlich hat Frau Nuf – wie meistens – recht. Die Welt ändert sich wirklich ziemlich radikal, wenn so ein kleiner Kerl in die Wohnung einzieht. Aber nicht nur die Einrichtung der Wohnung verändert sich, der Tagesablauf und der Samstagabend mit dem Sonntagmorgen dazu, nein, ganz Berlin verschiebt sich, komplette Stadtteile versinken in sozusagen privattektonischen Platten: In Neukölln beispielsweise war ich im letzten Jahr vor F.’s Geburt recht oft, und seither eigentlich nur noch, wenn die Frau Engl Geburtstag feiert. Clubs besuche ich nicht mehr, weil mein Babysitter um Mitternacht seine Tätigkeit beenden und nicht beginnen will.

Andere Teile der Stadt dagegen tauchen unverhofft auf einmal aus dem Nichts auf, denn dass man viel Zeit auf Spielplätzen oder im Zoo verbringen wird, das weiß man zwar. Das Umland aber, das hatte ich nicht auf der Pfanne. Da war ich die letzten 15 Jahre nicht. Ich komme nämlich selbst aus einem Speckgürtel und habe für dieses Leben genug Einfamilienhäuser, S-Bahnendhaltestellen und Kuhkoppeln gesehen.

Dem F. mag ich die Kühe aber nicht vorenthalten. Der F. gerät nämlich regelmäßig außer sich, sobald Tiere auftauchen. F. trampelt zwar auch schon vor Begeisterung, wenn vor einem Supermarkt ein Dackel auf seinen Halter wartet. Absoluter Favorit sind aber große Nutztiere. Allen voran Kühe und Pferde. Im Übrigen läuft es sich natürlich auch unbeschwerter durch Gras als über die Bürgersteige von Mitte, und so tauchen auf einmal Orte auf der Privatlandkarte auf, von denen man vorgeburtlich nicht wusste, dass es sie gibt, und – Kenntnis vorausgesetzt – immer bestritten hätte, sie jemals aufzusuchen. Man fährt dann doch. Vorletzte Woche etwa. Saurierpark Germendorf. Ein mit ganz offensichtlich bescheidensten Mitteln durch und durch selbstgemachter Freizeitpark für kleine Kinder, die für lächerliche Beträge stundenlang Karussell fahren, Pony reiten, Biber beobachten, Saurierfiguren bestaunen und Ziegen streicheln können. Die anderen Besucher sehen zum Teil zwar so aus, als würde das Privatfernsehen sie zur Illustration ernsthafter sozialer Probleme einladen, aber das gilt ja eigentlich für halb Berlin. Da habe ich mich dran gewöhnt.

Gestern ein weiterer an sich ziemlich obskurer Ort: Irgendwo hinter Potsdam gibt es einen Spargelhof, der sich mit Tiergehegen, Fahrgeschäften und Verkaufsbuden zu einer Art Spargelkirmes entwickelt hat. Ohne Kleinkind wäre das vermutlich ein Ort, den man nur besuchen würde, um der Freude an der Groteske einmal so richtig Feuer zu geben, wie damals, als ich kinderlos und vergnügungssüchtig irgendwann einmal in einer Plattenbauwohnung in Lichtenberg mit circa 15 Russen Karten spielen oder in einem Friedrichshainer Prekariatsschuppen mit dem freundlichen Herrn Neft und irgendwelchen Insassen des ganzen Elends würfelte, tanzte und einen ganz ausnehmend abscheulichen Likör trinken musste.

Mit Kind sieht die Sache aber anders aus. Mit Kind steht man auf diesem Spargelhof recht freundlich gesinnt vor den Wildtiergehegen und macht Tiergeräusche. Mit Kind streichelt man Ziegen, diese harthaarigen, eigentlich ziemlich hässlichen Biester. Man erklärt Funktion und Beschaffenheit der Hühner, läuft neben Ponies her, schleckt Eis und wartet vor „Zwergenbahn“ genannten Miniaturlandschaften und in den Boden eingelassenen Luftkissen. Vor dem Karussell, in dem die A. und der F. in zwei benachbarten Raketen durch den Himmel der Seligkeit fliegen, macht man ein Bild. Ich war sogar auf der zehn Meter langen Riesenrutsche.

Abends sitzt man dann auf dem Sofa. Es gibt Rosato und den Reisebericht von Klaus und Erika Mann von der Côte d’Azur. Nina Simone singt. Für zwei, drei Stunden bist du wieder ganz bei dir, in deiner Welt, mit deiner Musik, deinen Dingen und den Orten, die du dir für dein Leben ausgesucht hast, und du fragst dich – so zwischen zwei Gläsern – ob und wann die Stadt eigentlich wieder zurückmutiert in den Ort von vor zwei Jahren.

Eigentlich weisst du genau: Nie.

7 Gedanken zu „Topographie

  1. Oh, die Veränderung wird noch weitergehen. Kann man dem F. denn ein Leben als Einzelkind zumuten. Wo soll er denn soziale Kompetenz erwerben. Wer soll mit ihm an den Wochenenden spielen wo du deine Melancholie oder einfach irgendwas hast.

    Man spielt mit Gedanken, schiebt sie lächelnd beiseite. Aber dann. Irgendwie. Und die K. ist wirklich süß. Genau Mamas Püppchen. Na klar die Kosten steigen. Aber die K. ist das wert.

    Mit drei Kindern bist du selbst im Prekariat. Auch wenn das außer dir vielleicht niemand merkt. Ganze Länder verschwinden, die Zeit und Ruhe für bestimmte Bücher und Menschen ist einfach nicht mehr da.

    Du wirst lernen welche Turnschuhe gerade in ist und welches Handy und welche Playstation man unbedingt haben muss. Du wirst dich entwickeln. Aber wenn du gut bist, kannst du am Ende herzlich lachen. Dein Leben ist ganz anders, aber irgenwie ganz anders gut.

    1. Ach, was die Sozialkompetenz angeht, setze ich auf die Kita. Ich bin gerade irgendwie zu faul. Insbesondere die Schwangerschaft schreckt mich ab. Wenn das Kind morgen einfach da wäre, dann vielleicht, aber so?

  2. „Ich will zu Schwaaze Bääääääärge!“ Ich höre es noch heute, sein verzweifeltes Weinen. Und wir mussten dann am Wochenende dorthin in die Harburger Berge, weniger um Tiere zu gucken, mehr wegen der Abenteuerrutsche und der Kinderseilbahn. Aber eines haben wir nie gemacht, never ever in den Heidpark Soltau, dem Ganzjahresjahrmarkt für konsumverwöhnte Konsolenkinder! Dann schon lieber Camping an der Ostsee mit Angeln (aber auch Fische Ausnehmen als Bedingung) oder Sandburgen-Bauen am Ostsee-Strand im tiefsten Winter.
    Im Sommer konnten wir ihn aber auch glücklich machen mit einem schlichten Schwimmbad-Besuch am Stadtrand, mit Kumpels und Picknick.

    Ach, Sie werden das schon alles richtig machen. Nur, das mit dem Erwerb der sozialen Kompetenz durch Geschwister stimmt leider nicht immer. Manchmal lernen sie dabei auch nur endloses Streiten.

    1. ich habe als Kind ja Vergnügungsparks geliebt. Rust. Heidepark. Legoland. Alles, was gut ist. Das werde ich dem F. nicht vorenthalten, und selbst auch ein paar saftige Runden Achterbahn fahren.

  3. Klingt so als wenn sich diese Dinge seit mindestens zehn Jahren nicht verändert haben. In der Aufzählung fehlt mindestens noch der Wildpark Schorfheide, in der weiteren Umgebung der Tierpark Eberswalde und das Traumzauberland Eberswalde, die Badestelle in Kallinchen am Motzener See u.s.w.. Nur in Richtung NW (Prignitz) hatten wir keine Ziele gefunden.

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