Und solltest du nicht in die Ferne reichen

Hell ist der Saal, die Bezüge rot und blau wie in einem sehr modernen skandinavischen Restaurant, ein Eindruck, den das helle Holz noch verstärkt. Der Pierre Boulez Saal wirkt heiter, nachgerade bewegt, auch weil über den Köpfen des Parketts, rund wie ein römischer Zirkus, der Rang in zwei kühnen, geschwungenen Reihen wie eine Berg-und-Tal-Bahn an den Wänden hängt.

Unter uns, gut sichtbar durch das offene Geländer, singt Juliane Banse Schubert. Im neuen Saal soll nach und nach das gesamte Leitwerk Schuberts aufgeführt werden, und so singt sich Frau Banse durch bekannte und unbekannte Lieder, die meist mit Frauen und Mädchen zu tun haben, wie es bei Schubert so zu gehen pflegt: Mehr toten Mädchen als lachenden Frauen, und nach der Pause geht es mit einigen der Goethevertonungen weiter.

Ich habe viele der Lieder sehr, sehr lange nicht gehört oder gelesen. Manche hört man freilich oft, erst vor einigen Monaten etwa Roman Trekels kraftvollen Erlkönig in der Staatsoper, aber gerade die Mädchenlieder das letztemal wohl wirklich 1997. Ich war Studentin an der Universität Bielefeld, diesem akademischen Provinzlabor der versinkenden Bonner Republik, wo weiland Karl Heinz Bohrer ein Seminar über die Lyrik Goethes gab, und als eine damals recht gelangweilte Studentin der Rechte setzte ich mich in das Seminar und beneidete diejenigen, die sich mit Goethe beschäftigen durften und nicht mit Schuldrecht beschäftigen mussten. Ernsthafte Wechselgedanken hegte ich trotzdem nicht, weil mir schon klar war, dass man für eine ernsthafte Karriere in einer Geisteswissenschaft etwas mehr hätte aufbieten müssen, als ich so zu bieten habe, und so ging es sich am Ende ja auch alles recht gut aus. Von Goethe verstehe ich bis heute nicht ein Zehntel so viel wie Bohrer, aber für eine meistenteils recht amüsante Anwaltspraxis reicht’s.

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Vielleicht war’s im selben Jahr, vielleicht ein Jahr früher, als mich in Bielefeld der O. besuchte. Der O. ist der große Bruder meines lieben Freundes T., ein etwas entfernterer Schulkollege also, nämlich die entscheidenden fünf Jahre älter, über deren Kluft hinweg man sich als Schüler nicht mehr wahrzunehmen pflegt, weswegen wir keinerlei gemeinsame Erinnerungen haben, sondern nur gleichlaufende, aber durchaus zeitversetzte.

An den damaligen Besuch habe ich auch so gut wie keine Erinnerungen. Der O., dessen Gedächtnis um ein Vielfaches besser ist als meins, kann sich gut an lange Gespräche und deren Inhalt erinnern, aber wie wir da so nebeneinander in der Philharmonie sitzen, während Alina und Nikolay Shalamov Mozarts Sonate für Klavier zu vier Händen C-Dur, KV 521, spielen, ein bisschen zu gläsern und körperlos, um noch interessant zu sein, frage ich mich, wo eigentlich alle meine Erinnerungen an diese Jahre zwischen meiner Kindheit und dem Umzug nach Berlin geblieben sind, und ob es schade ist, dass sie mir irgendwann weggerutscht sein müssen, verschüttet unter irgendwelchen anderen Trümmern.

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