Die Freundin freut sich. Mit über 40 und als verheiratete Mutter wäre es endlich vorbei. Kleidung müsste nur noch ihr selbst gefallen. Sie schminkt sich auch nicht mehr, weil sie dazu keine Lust hat, und sie hat es total aufgegeben, Männer überhaupt noch wahrzunehmen, es sei denn, sie hat mit ihnen beruflich zu tun, oder ist mit ihnen befreundet oder verheiratet.
Ich schweige tief beeindruckt. Es muss sich eigentlich ganz gut anfühlen, einen der Lebensbereiche einfach abzuhaken, in dem man jetzt vielleicht ohnehin nicht so zum oberen Klassendrittel gehört, und sich ausschließlich den Dingen zuwendet, die man ganz gut kann. Vermutlich minimiert das die Minuten pro Monat, in denen man sich irgendwie unzulänglich fühlt, ganz erheblich.
Auf dem Heimweg denke ich nach. Vielleicht wäre das auch für mich ein Konzept? Ich könnte den Aufwand, den ich mit ausgesprochen mäßigem Erfolg in meine Garderobe stecke, in irgendetwas investieren, in dem mein Potential größer ist als in der Disziplin Modepapst. Ich verbringe nämlich am Ende doch verhältnismäßig Zeit damit, mir im Internet Kleidung anzusehen oder sogar irgendwo hinzugehen, wo man Kleider kaufen kann, nur um am Ende dann doch in sehr risikolosen, sehr konservativen Sachen herumzulaufen. Ich besitze beispielsweise allein acht blaue Kleider. Und mindestens drei weitere in beige. In meinen Ohren stecken Perlen in schwarz oder weiß. Ich darf entsprechend zusammenfassend versichern: Man schätzt mich nicht gerade für meine überwältigende Optik. Würde ich mich meiner Kleider entledigen, wäre die Sache übrigens noch etwas eindeutiger, weil ich es nie schaffe, regelmäßig Sport zu mache.
Um mit Flirten aufzuhören, müsste man jemals damit angefangen haben. Ich war selbst mit Mitte zwanzig immer dermaßen bass erstaunt, irgendjemandem zu gefallen, dass die Reaktion jedenfalls nicht unter Flirt fiel, sondern eher unter kommunikativen Verkehrsunfall. Am ersten Abend, an dem ich den geschätzten Gefährten traf, sprach ich, wie man mich bisweilen erinnert, mehrere Stunden über Thomas Mann. Der J. hasst Thomas Mann.
Kurz überschlage ich im Kopf die unermesslichen Vorteile dieser Strategie. Ich komme auf rund € 5.000 pro Jahr und eine Menge freie Zeit. Vielleicht wäre dieser Vorteile noch viel größer, weil ich in der frei werdenden Zeit irgendetwas machen könnte, was mir Geld und Ruhm einbrächte. Vielleicht verfasse ich einen Roman und lasse ausgedachte Leute in extravaganten Kleidern enorm gut aussehend ein sehr interessantes Liebesleben führen.
Großartig wird das, denke ich bei mir und verplane schon einmal die ganze frei werdende Zeit. Keinerlei Nachteile werde ich haben, denn für alle anderen Leute ändert sich ja nichts an mir, nur so rein innerlich werde ich quasi aufblühen.
Dann aber laufe ich an einer Schaufensterscheibe vorbei. Unwillkürlich schaue ich auf meine Haare. Automatisch ziehe ich den Bauch ein wenig ein und prüfe – das ist eine alte Obsession von mir – den aktuellen Grad der Symmetrie meiner Augen. Am Schluss sehe ich mir für ein paar Sekunden direkt ins Gesicht. Es wird nichts mit mir. Es reicht nicht mal für ein souveränes Ende meiner weltlichen Existenz.
Im Grunde bin ich darüber aber eigentlich ganz froh.
*genervtes seufzen* „Die Damen. Mädels. Großartige. Mir und ‚uns Männern(TM)‘ ist klar, dass ihr oft so denkt und handelt. Ist trotzdem Unfug. Ihr seit großartig. Grade, wenn ihr vergesst, wie ihr meint grade aussehen zu müssen. Lebt damit. Ihr müsst das auch nicht verstehen. Wir finden euch toll. Und wenn wir das können, könnt ihr das einmal mehr. Denn ihr seit Frauen (TM). Das reicht. Meine Güte…ich geh dann mal eben die Welt retten und 10.000 Mails checken und wenn ihr dann aus der optischen Selbstmachkrise raus seit: können wir dann wieder normal miteinander reden? Oder essen? Oder Sex haben? Gern auch alles drei in beliebiger Kombination. Ja? Gut! Meine Güte…“ *sich wieder der Bildbearbeitung und dem Rechner zuwend*
Das sage ich mir dann auch immer: Egal, wie man gerade aussieht. Männer wollen Frauen mögen. Und umgekehrt.
Ach, Sex. Wie gerade bei andrea-harmonika nachzulesen war, gibt es mindestens eine gestrenge Pseudo-Frauen-Sportzeitschrift, die mahnt, man möge beim Sex doch bitte aufpassen, dass das Doppelkinn nicht unschön hervortritt. Wie soll frau bei solchen Mahnern noch unbeschwert Sex haben? Es hilft einfach nur, sich relativ bald einen relativ großen, ungerührten mentalen Stinkefinger für solche Zumutungen des Daseins zuzulegen.
Vermutlich hat das die Freundin von modeste soeben getan und das Befreiungspotential davon erkannt.
Wie schade, wenn das Leben echter Menschen unter solchen absurden Einwürfen von der medialen Seitenlinie leidet. Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, dass das in dieser Situation irgendwen irritiert.
Ich denke, wer solchen Unsinn oft genug liest und nicht mit gesundem Selbstbewußtsein ausgerüstet ist, kann schon in ein mindset kommen, wo er (häufiger sie) unsicher wird und Situationen nicht mehr genießen kann.
Ich habe mich schon oft gefragt inwiefern das eigene äußerliche Erscheinungsbild immer wieder selbstbewertet wird, in Zusammenhang mit dem eigenen Beruf.
Ich als Maskenbildner beschäftige mich ja tagtäglich damit, wenn auch nicht mit dem eigenen Bild. Das kommt höchstens zwei mal Tag vor. Einmal wenn ich in den Badzimmerspiegel blicke und in den Fahrstuhlspiegel.
Seltsamerweise habe ich es mir während der Arbeit komplett abgewöhnt mich selbst anzusehen wenn ich Schauspieler zurecht mache.
Das ist interessant. Wenn ich arbeite, verschwinde ich auch hinter meiner beruflichen Rolle, dann brauche ich immer ein paar Minuten, um in Pausen wieder bei mir anzukommen.
Meine Güte, „abhaken“ klingt wie „absterben“, völlig falsche Herangehensweise. Ja, es macht gelassen, wenn einer Frau bewusst wird, dass sie nicht mehr mit 20- oder 30-jährigen konkurrieren kann, muss sie ja auch nicht. Diese Gelassenheit sieht souverän aus, die Würde kann zunehmen, wenn die Frau sie ihrer wachsenden Fähigkeiten bewusst wird, die die jungen Dinger noch gar nicht haben können.
Die Ausstrahlung zählt, die kann auch erotisch sein, selbst mit Speckrollen und grauen Schläfen. Mehr Mut zu gewagter Kleidung kann auch nicht schaden. Zum Beispiel einen Panama-Hut im Sommer zu tragen, oder ein Männeroberhemd über einem Seidenrock. Es muss ja kein rosa Minirock sein oder Sandalen mit Zehentrennern und Glitzer im Büro.
Mut ist ja immer eine feine Sache.
Wem’s halt liegt.
Mir liegt es nicht, und ich habe auch wenig Lust darauf, geistige Energie auf Bekleidung zu verschwenden, deren Resultat nun ja bestenfalls ziemlich mau bleibt.
Was echt jeden Euro wert war, war eine Stylistin via Internet zu bemühen und sich Outfits schicken zu lassen. Problem halbwegs solved, HA!
Ich auch. Ich sehe aus wie immer, muss aber nicht mehr darüber nachdenken. Toll.
Es gibt doch diese apokryphen Geschichten von Modedesigner, die ein und dasselbe schwarze Kleidungsstück 20x besitzen und ausschließlich das tragen. Klingt sehr, sehr, sehr arbeits- und energiesparend.
Der J. hasst Thomas Mann?
Er wird mir immer sympathischer…
Ist er auch. Obwohl er Thomas Mann nicht mag