Familienalbum

Der Urgroßvater, der Rechtsanwalt, die Großmutter und wir

Meine Tante M. – eigentlich meine Großtante – log bekanntlich wie gedruckt, und wer ihr glaubte, sagte meine Großmutter, sei selber schuld. Tatsächlich sei so gut wie alles, was diese Tante zu erzählen pflegte, unwahr, und was nicht unwahr sei, sei wenigstens gehörig übertrieben, und so wäre die gemeinsame Mutter niemals mit aufgelöstem Haar, die Hände ringend und kleine, spitze Schreie ausstoßend auf die Straße gelaufen. Niemals hätte die sehr reservierte Mutter dies getan, erst recht nicht auf dem Weg zum Rechtsanwalt der Familie, einem Herrn Dr. G., der, und immerhin dies sei wahr, sich späterhin allerdings als ein rechter Lump entpuppt habe.

Der Charakter des Rechtsanwalts allerdings interessiert uns eher wenig. Ob es denn tatsächlich unzutreffend sei, bohrte mein Cousin L. nach, dass jener Herr von der Urgroßmutter beauftragt worden sei, gegen ihren eigenen Mann, den Urgroßvater nämlich, ein Entmündigungsverfahren einzuleiten? Ein Verfahren, an dessen Ende die vollständige und allumfassende Geschäftsunfähigkeit stehen sollte? Ein gerichtliches Verfahren, über das die ganze Stadt gesprochen habe, wie Tante M. uns verraten hatte, die – im Gegensatz zu meiner Großmutter – sehr gern und mit erschreckender Ausführlichkeit, auch vor einem recht minderjährigen Publikum diejenigen Geschichten zum Besten zu geben pflegte, über die der Rest der Familie niemals sprach.

„Da gibt es auch nichts zu erzählen!“, rief meine Großmutter mit für ihre Verhältnisse entschieden erhobene Stimme aus und brach eine Tafel Blockschokolade derart bracchial entzwei, dass mein Cousin mir bedeutungsvoll zuzwinkerte. „Es gab also kein Verfahren?“, setzte der L. nach und steckte sich schnell ein paar Krümel der Schokolade in den Mund.

„Die ist nicht zum Essen.“, zog meine Großmutter das Päckchen vom Tisch und rührte in dem Milch-und-Sahne-Gemisch auf dem Herd. „Kein Verfahren?“, blieb mein Cousin fest und sah meine Großmutter durchdringend an. Es habe kein Verfahren gegeben? Die Tante M. sei nicht aus dem Radfahrverein gestoßen worden? Der Onkel F. nicht heulend aus der Schule gekommen, weil keiner mehr mit ihm schnipsen gewollt habe als Mitglied einer Sippe, deren Angehörigen das Spiel nicht bekam?

„Kinder sollen nicht soviel fragen.“, behauptete meine Großmutter und ließ die Schokolade vorsichtig vom Löffel in die Milch gleiten. „Also doch.“, nickte mein Cousin und bohrte weiter nach: „Tante M. sagt, er hätte Haus und Hof verspielt, wenn man ihn gelassen hätte, und am Ende war schon kaum mehr was da?“ – „Über Kranke macht man keine Witze.“, tadelt meine Großmutter und rührte entschieden die sich langsam schokoladenbraun verfärbende Milch.

„Ich mach‘ doch gar keine Witze.“, wehrte sich der L. und klapperte ein bißchen mit der Tasse. „Lass das!“, rügte meine Großmutter und nahm ihm die Tasse aus der Hand. Schwere Zeiten seien das gewesen, merkt sie an, und wir könnten froh sein, dergleichen nie erlebt zu haben. Wie man angeschaut worden sei, auf der Bank, und sogar die Zugehfrau habe ihr Geld ab sofort immer vor Vollzug bar auf die Hand haben gewollt.

„Und was er nicht verspielt hat, hat der Anwalt zur Seite gebracht?“, heischte der L. nach weiterer Bestätigung. Ingrimmig nickte meine Großmutter und kniff die Lippen aufeinander. Ein Schurke sei das gewesen, ein arglistiger Betrüger, der die geschäftliche Unerfahrenheit der Urgroßmutter ausgenutzt habe, sich schamlos zu bereichern mit der Vollmacht, die man ihm gutgläubig erteilt.

„Fertig!“, goß meine Großmutter die heiße Schokolade so heftig in beide Tassen, als könne sie den betrügerischen Anwalt darin ertränken, und drückte jedem von uns den Kakao in die Hand. – „Geht spielen.“, schickte sie uns, in der Hand die vollen Tassen, aus der Küche und war für weitere Auskünfte über den präzisen Geschehensverlauf nicht mehr zu haben, und so ist dies so gut wie alles, was ich weiß.

Von mir kriegst du nichts

Nicht, dass es nennenswert viel zu vererben geben würde bei uns zu Haus, doch aus einer schwer erklärlichen Mischung aus Streitlust und innerfamiliärer Verbitterung über die jeweils anderen Verwandten endet, seit ich denken kann (und wahrscheinlich schon erheblich länger), jeder innerfamiliärer Todesfall mit einer erbschaftsrechtlichen, in aller Regel gerichtlichen Auseinandersetzung. Welcher Stellenwert dem Erben und Vererben innerfamiliär zukommt, lässt möglicherweise eine Episode erkennen, an die ich – gleichwohl Hauptprotagonistin – mich nicht die Spur mehr erinnern kann, gleichwohl schwören alle Anwesenden Stein und Bein, dies habe exakt so und nicht anders stattgefunden.

Ungefähr achtjährig, sagt man, hätte ich auf dem Spielplatz eines Ausflugslokals mit meiner Schwester, zwei Vettern und einigen anderen, mir nicht verwandten, sondern vor Ort vorgefundenen Kindern gespielt. Im Zuge des Spiels seien Unstimmigkeiten aufgetreten, laut sei es geworden zwischen Rutsche und Sandkasten, und auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen hallte weithin hörbar bis zur unweit belegenen Terrasse des Lokals mein erbitterter Ausruf: „Von meinem Geld sollst du nichts haben!“, gefolgt von den unmissverständlichen Worten: „Dich streich‘ ich aus dem Testament!“ – Besonderes Erstaunen ob der an sich eher unkindlichen Reaktion erregten diese Worte bei den volljährigen Familienmitgliedern auf der Terrasse des Lokals, sagt man, indes nicht.

Keiner Bestattungsfeier, ich schwöre, hätte ich jemals beigewohnt, auf der die Frage nach Erbschaft und Vermächtnis nicht spätestens beim tröstenden Kuchen, wenn nicht sogar bereits am offenen Grab debattiert worden sei. Kein 80. Geburtstag, bei dem nicht zumindest in der Küche, fernab von Reden und Glückwünschen, diskutiert worden sei, was mit Haus und Geld, Schmuck und Silber zu geschehen sei, wenn es sich einmal ausgefeiert haben sollte, und kein Familienmitglied, das nicht alle paar Jahre, familiären Verwerfungen Rechnung tragend oder auch einfach so, sein Testament zu ändern pflegt. Im Nachhinein darf in mindestens der Hälfte aller Fälle durchaus bezweifelt werden, ob die so angeordnete Erbfolge tatsächlich dem Willen des Verstorbenen entsprach oder nicht etwa einer schlichten Laune folgend im festen Bewusstsein niedergeschrieben wurde, es dem Rest der Familie einmal kräftig zu zeigen und zu einem unbestimmt späteren Zeitpunkt von der demonstrativen Geste bei einem verschwiegenen Notar wieder clamheimlich abzurücken.

Nicht wenige Familienmitglieder beispielsweise hegen ernsthafte Zweifel daran, ob etwa Onkel P. den nicht unerheblichen Teil seines Besitzes, welcher sich in seinem Weinkeller manifestierte, wirklich einer wohltätigen Organisation vermachen wollte, die insbesondere in Afrika den Welthunger bekämpft, oder nur der Tante vor Augen führen wollte, was ihr blühen werde, werde der am Ende bettlägrige Onkel nicht wunschgemäß gepflegt. Im Zuge der Demonstration – die der Onkel vermutlich nach und nach zu intensiveren plante – war selbiger indes verstorben.

„Das kann er nicht ernst gemeint haben.“, waren sich daher die nach der Beerdigung in der Küche versammelten Tanten und Großtanten vollkommen einig, thematisierten die lange und schwere Erkrankung des Onkels, die unzureichende Pflege durch die dazugehörige Tante, deren hühnerhafte Aufregungszustände allen Anwesenden schon seit der frühmorgendlichen Grablegung ganz entsetzlich auf die Nerven fiel, und die immer häufiger werdenden geistigen Absenzen in den letzten Monaten seines Daseins. „Seiner eigenen Frau das Schwarze unter den Nägeln nicht zu gönnen!“, ereiferte sich meine Tante L., und rang buchstäblich die Hände. Seinen Weinkeller vorbei am eigenen Fleisch und Blut Leuten zu vermachen, die vermutlich nicht einmal Wein trinken, fand auch meine Großmutter nicht gut, und überhaupt war man sich einig, dass wohl kaum die dürstenden Kinder Afrikas, sondern bloß die ortsansässigen Mitarbeiter der karitativen Organisation von diesem geradezu unanständigen Exzess der Wohltätigkeit profitieren würden.

Von langgezogenen Schluchzern geschüttelt lag die frisch verwitwete Tante währenddessen im Bett. Ab und zu trat eine der Nichten und Schwiegernichten (die Ehe war kinderlos geblieben) behutsam in ihr Schlafzimmer, tätschelte ihr vorsichtig die Schulter und stellte einen mit Kuchen und Schnittchen gefüllten Teller auf den Nachtschrank. Zwar erfolgte keine sicht- oder hörbare Reaktion der Dankbarkeit aus dem Polstergebirge, unter dem sich der Tante Kopf verbarg, indes konnte einige zehn Minuten später der leere Teller wieder hinausgetragen werden. Ganz so untröstlich, zischte man sich in der Küche zu, war die Tante also offenbar doch nicht.

Hätten die anwesenden Tanten und Großtanten gewusst, dass nur unziemliche zehn Monate später ein anderer Herr ins Haus des Onkels einziehen würde, man würde sich gewünscht haben, Onkel P. hätte alle seine weltlichen Güter, statt nur den Weinkeller, den armen Kindern in Afrika vermacht, und auch die Tatsache, dass die gierigen Mitarbeiter der wohltätigen Organisation nicht nur die Flaschen selber, sondern auch die Kühlschränke und Weinregale als ihr Erbe deklarierte, hätte unter diesem Aspekt den Beifall der übrigen Verwandtschaft gefunden, die vor Entrüstung monatelang kein Wort mit der Abtrünnigen sprach. Als man sich allerdings wieder dazu bereit finden wollte, die unterbrochene Konversation fortzusetzen, war, wie es bisweilen zu gehen pflegt, die ehemalige Tante nicht mehr an der Fortsetzung der Verwandtschaft interessiert.

Mit der Erkenntnis, eine wahre Schlange am Busen der Familie genährt zu haben, zog die Sippe sich schwer gekränkt zurück.

Auch ganz gern zurückgezogen hätte man sich allgemein von der Tante T., so gern nämlich, dass jene Tante ohne das Attribut „die angeheiratete“, was eine leicht gequälte Distanz ausdrücken sollte, überhaupt nicht vorkam, denn jene Tante war nicht nur rechtsradikal und als junge Frau von Arno Breker in Metall gegossen worden, nein, die Tante, Mutter der 2. Frau meines Onkels A., war auf ihre alten Tage zur fanatischen Christin geworden und verängstigte mit eindringlichen Visionen vom Höllenfeuer besonders gern die minderjährigen Kinder ihrer angeheirateten Verwandtschaft. In ihren Erzählungen langten stets der Hölle blutige Klauen nach unfrommen Kindern. Das ewige Feuer der Verdammnis erfasste ihren Mitteilungen nach nicht nur Menschen, die die Ehe brachen oder Tiere quälten, nein, auch Kinder, die zwischen den Mahlzeiten Schokolade essen, mit ungewaschenen Händen zu Tisch erschienen oder vor den Klavierstunden nicht übten, fielen dem Teufel anheim, der sie an langen Spießen über dem offenen Feuer zu braten plante.

So kritisch die Tante T. gegenüber Kindern auftrat, so nachsichtig war sie gegenüber ihrem Hund. Diesem, einem fetten Vieh mit Hüftdyplasie und spärlichem Haarwuchs, war sie zärtlich zugetan, und als es ans Sterben ging, dauerte sie das weitere Schicksal des Hundes mehr als ihr Seelenheil oder gar das weltliche Wohlbefinden ihrer Tochter. Nicht nur Unterkunft und Ernährung des missgestalteten Tieres lagen ihr am Herzen, auch die Seele ihres Hundes wollte die angeheiratete Tante T. nicht sich selber überlassen, und so traf sie die Verfügung, dass ein ortsnaher Orden frommer Damen sich des Hundes insoweit annehmen sollte, dass gegen ein Vermächtnis in Geld täglich eine bestimmte Anzahl „Ave Maria“ zugunsten des Hundes zu beten sein sollten.

Dies indes lehnten die frommen Damen ab. Ob nun das Geld, wie es innerfamiliär hieß, schlicht zu knauserig bemessen war, oder ob tatsächlich Hinderungsgründe reigiöser Natur bestanden: Die Schwestern behaupteten, für einen seelenlosen Hund dürfe und könne man nicht beten.

Da die Tante T. diesem Verbot jahrelang zuwidergehandelt hatte, schmort sie nach einhelliger Überzeugung der ganzen Familie seit 1986 unrettbar in der Hölle.

Krönung und unbestrittener Höhepunkt der familiären Erbschaftsauseinandersetzungen stellt jedoch das Erbe meines Großvaters dar, der säuberlich handgeschrieben drei verschiedene undatierte Testamente hinterließ, natürlich sehr verschiedenen Inhalts, und die Familie in eine mehrjährige gerichtliche Auseinandersetzung stürzte, die derart viel Geld und Nerven verschlang, dass einige zartbesaitete Tanten und Onkel noch heute hilflos zu japsen beginnen, kommt die Rede einmal zufällig auf diesen Vorfall. Neben den hauptsächlichen, völlig unvereinbaren Anordnungen der Erbfolge setzte er an ungefähr die Hälfte seiner Enkel Vermächtnisse aus, und die überging die andere Hälfte mit der ganzen missbilligenden Kraft seines postmortalen Schweigens.

Nicht nur die Rechtsfolge, auch die Motivation seines Handelns blieb während der gesamten familienzerfetzenden Auseinandersetzung völlig unklar, und veranlasste das letztinstanzliche Gericht zur ratlosen Randbemerkung im Urteil, gerade bei einem rechtskundigen Erblasser sei dieses Verhalten letztlich rätselhaft und nicht bis ins Letzte aufzuklären. Einige – vorwiegend übergangene – Familienangehörige vermuten bis heute die reine Bosheit.

Inzwischen ist viel Wasser den Rhein und die Elbe, die Donau und die Spree hinabgeflossen. Lange ist niemand gestorben, und nur selten hört man von den Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen, Cousins und Cousinen, die weit verstreut über die Lande ihrem Tagewerk nachgehen, sich verheiraten und scheiden, vermehren und Besitz anhäufen, emsig Testamente verfassend, ändernd und verwerfend, um, wie anzunehmen ist, jene liebgewonnene Gewohnheit der rauschenden Erbauseinandersetzung bei nächster sich bietender Gelegenheit mit unverändertem Feuer fortzusetzen.

Geschichten von der Tante G.

Ein bißchen verrückt war die Tante G., konnte weder lesen noch schreiben, und ging ihrer Schwester, der Mutter meiner Freundin K., auf dem Hof ein wenig zur Hand. Großes Glück hatte die G., schärfte man ihr immer wieder ein, nicht ins Heim gesperrt zu werden, wie es die Leute in der Stadt einfach taten, wenn eine verrückt war und beim Abwaschen ab und zu einschlief oder das Weiterspülen vergaß und in der Küche stehenblieb, das Geschirr in der Hand, und ihre Hände im Wasser betrachtete, als habe sie sie noch nie gesehen.

Schalt man die G., so weinte sie und bettelte, nicht ins Heim zu kommen. Weinte sie sehr, so nahm ihre Schwester sie ab und zu in den Arm, wiegte sie und klopfte ihr die Wange, bis die G. wieder lachte, weiterspülte, Kartoffeln schälte und sang.

Kochen durfte die G. nur dann, wenn die Hausfrau nicht da war oder aus anderen Gründen nicht kochen konnte oder wollte. Zweimal im Jahr ungefähr, erzählte die K., sei ihre Mutter nämlich krank, weine mehr als die G., stünde tagelang nicht auf, schrie und tobte, und prügelte mit beiden Fäusten auf den Vater ein, der sie habe anbinden müssen, bis es vorbei gewesen sei. Das seien, erklärte sie mir, die Hormone.

Die G. kochte ziemlich schlecht. Abspülen konnte sie gut, Gemüse putzen, besonders gern schabte sie gelbe Rüben, machte die Betten sehr akkurat Ecke auf Ecke, und lachte und sang den ganzen Tag, wenn sie nicht gerade weinte. Besonders gern mochte die G. Kinder, flocht der K. Zöpfe, steckte ihr Gutzeln zu, und erzählte dies und das, was indes, wie K.‘s Mutter versicherte, meistenteils komplett erfunden war, denn eine blühende Phantasie, so tadelte die Mutter, hätte die Tante G., und erzähle den ganzen Tag einen rechten Schmarrn, um sich wichtig zu machen. – Schimpfte die Mutter sie aus, so zuckte die G. jeweils ängstlich zusammen, aus Angst wahrscheinlich vor dem Heim in der Stadt.

Manchmal hatte die Tante G. Schübe, wie man sagt, und der Arzt musste kommen. Dann konnte sie keine Kartoffeln schälen, kein Gemüse putzen und nicht einmal die Betten machen. Nach einem solchen Schub, sagte die Mutter der K., werde es immer ein bißchen schlechter mit der G., und eines Tages werde die G. wohl sterben, denn die Verrückten werden weniger alt als wir. Die K. besuchte dann die Tante G., saß an ihrem Bett, strickte erst eine endlos lange Wollwurst mit der Strickliesel für „Textiles Werken“ und dann eine weitere für mich.

Vor ihrem Tod hatte die Tante G. wenig Angst, denn die guten Menschen, so wusste sie zu berichten, kommen in den Himmel, und dort ist es schön. Eines Tages aber war es dann nicht mit der Tante G. vorbei, sondern mit der Mutter der K., die viel zu viele Tabletten aß und starb. Wochenlang kam die K. nicht einmal zur Schule, und künftig trafen wir uns eher bei mir, wo es keine Schweine gab und keinen Küchengarten, sondern bloß Blumen.

Mit der Tante G. ging es auch bergab, die Schübe wurden mehr, und als sie nicht mehr arbeiten konnte, und keiner da war, sie zu versorgen, packte der Bauer, der Vater der K., ihren Koffer und brachte sie ins Heim. Den ganzen Weg, erzählte die K., habe die Tante G. geweint und geschrien, sterben habe sie gewollt, am Ende aber habe sie es schöner dort gehabt als anderswo. Erzählt aber habe sie nichts mehr, und bald auch nicht mehr sprechen gekonnt, was, wie die Ärzte sagten, ab und zu vorkam bei den Verrückten, und nichts zu sagen hatte, wie man der K. versicherte, wenn sie fragte.

Die Wahrheit über das Ende der Ehe von Onkel A.

Wie es sich gehört, weiß die Familienfama alles über das Ende der Ehen meines Onkels A., und insbesondere das Ende seiner 2. Ehe gehört zu denjenigen Erzählungen, die den ehrwürdigen Schatz der Familiengeschichte seit vielen Jahren bereichern. Zwar behauptet, dies soll nicht verschwiegen werden, die Hauptperson hartnäckig, alles sei ganz anders gewesen, befindet sich mit dieser Ansicht jedoch in einer extremen Minderheitsposition.

Keinesfalls sei er, beharrt der Onkel A., an jenem besagten Abend offenbar unerwartet nach Hause gekommen und habe geklingelt. Wieso er auch habe schellen sollen, fragt der Onkel A., denn selbstverständlich trage er, wie jeder normale Mensch, einen Haustürschlüssel bei sich. Zur Bekräftigung pflegt der Onkel A. an dieser Stelle seinen Schlüssel aus der Tasche zu ziehen und einmal kräftig mit ihm zu rasseln. Die familiäre Version, so behauptet es der Onkel, sei schon aus diesem Grunde vollkommen unplausibel und ohnehin völlig falsch.

Dies jedoch überzeugt die Familie nicht. Vielmehr, so erscheint es anderen Verwandten wahrscheinlich, trage der Onkel A. überhaupt erst seit diesem Abend seinen Schlüssel stetig mit sich, denn schließlich kenne man den Onkel als einen nachlässigen, nachgerade schlampert zu nennenden Herrn, der, wie man so sagt, seinen Kopf vergäße, wäre er nicht verlässlich am oberen Ende des Halses angewachsen.

Dass der Onkel A. seinen Schlüssel bei sich gehabt hätte, hat er – so weiß es der familiäre Volksmund genau – also nachträglich erfunden, wieso auch immer, und so sehen wir den Onkel A., mag er auch protestieren, an einem Sommerabend vor ziemlich vielen Jahren um die Ecke biegen, seinen Wagen parken und über das kurze Rasenstück zwischen Garage und Haus spazieren. Über dem Arm, denn ist warm, trägt der Onkel sein Sakko, in seiner linken Hand schwenkt er eine Aktentasche, und mit der rechten Hand, mit dem rechten Zeigefinger, um genau zu sein, drückt er einmal kräftig auf die Klingel.

Ein paar Minuten lang passiert nichts. Schließlich aber öffnet sich die Tür, und im schattigen Korridor, barfuß auf den braunen Fliesen des onkeleigenen Erdgeschosses, steht ein völlig fremder Mensch und schaut den Onkel an. „Was kann ich für sie tun?“, fragt der unbekannte, unsympathisch muskulöse Mann den Onkel. Dem Onkel verschlug es die Sprache.

Er wohne hier, sagt man, habe der Onkel geantwortet. „Ach so.“, habe man ihm die Tür auf diese Auskunft hin geöffnet, und verdattert standen sich der Onkel und der Hockeytrainer seines Sohnes im Flur gegenüber. „Wer ist denn da?“, habe die Frau des Onkels den Trainer gefragt, und sei mit aller gebotenen Nervosität einer auf frischer Tat ertappten Person herbeigeeilt gekommen, als der Trainer ihr den Sachverhalt mit kurzen Worten erläutert habe.

Dem Onkel, so sagt man, sei die Wahrheit über Frau und Trainer quasi wie ein Holzhammer auf den Kopf gefallen. Stehenden Fußes habe er kehrt gemacht, sei ins Auto gestiegen und zurück ins Büro gefahren, und sei sodann eine ganze Nacht zwischen Schreibtisch und Aktenschrank auf- und abgewandert. Einige Diskussionen mit seiner Frau später habe man sich auf einen vorerst getrennten Hausstand geeinigt, Monate später erkannt, dass der getrennte Hausstand als allseits angenehmer empfunden wurde als das Zusammenleben, und habe noch etwas später die Scheidung beantragt und erhalten.

Obkel A. indes, dies sei angemerkt, bestreitet diesen Geschehensverlauf. Niemals, so behauptet der Onkel und schüttelt empört den Kopf, habe er in seinem Hause den Hockeytrainer angetroffen. Niemals auch habe er eine Nacht im Büro verbracht, und diese wie auch alle seine weiteren Scheidungen seien vollkommen unspektakulär verlaufen, zu unspektakulär offenbar für seine sensationslüsterne Familie, die sich etwas zusammengesponnen habe, wo gar nichts sei.

Dies aber, so weiß man mit überwältigender Mehrheit, ist gar nicht wahr.

Die bakterielle Verseuchung der Kindheit

Die ganze Welt war voller Bakterien. Insbesondere andere Leute waren mit Mikroben übersät, vor allem meine Familie, und ich sah die Kleinstlebewesen förmlich auf der Haut meiner Anverwandten sitzen wie die Blattläuse auf den Stauden an der Garage meiner Oma. Was aber das Schlimmste war: Meine Familie hatte mir diese bestürzende Tatsache während meines gesamten fünfjährigen Lebens verschwiegen. Erst ein Sachbuch der Reihe „Was ist was“ hatte mir die Gefahren der Mikrobenwelt vor Augen führen müssen.

Vorsichtig, um nicht mit mehr Bakterien als unbedingt nötig in Kontakt treten zu müssen, tastete ich mich ins Bad. Die scheinbar saubere Toilette strotzte vor Krankheitserregern. „Escherichia coli.“, dachte ich und versuchte, das Wasser nach einer ausgiebigen Reinigung wieder abzudrehen, ohne den Wasserhahn zu berühren. Aufgeschlagen lag das angstauslösende Buch scheinbar friedlich auf meinem Bett. Auch das Buch, wurde mir klar, war verseucht.

Am Abend stellte ich meine Eltern zur Rede. Man lachte. Nicht alle Bakterien, wurde ich belehrt, seien gefährlich, aber das hatte ich dem „Was ist was“-Buch auch schon entnommen. Da die Bakterien aber bekanntlich für das bloße Auge unsichtbar und daher nicht ohne unverfügbare Hilfsmittel in gefährliche und harmlose Geschöpfe unterscheidbar waren, beruhigte mich diese Mitteilung nicht. War meine Mutter ungefährlich oder warteten todbringende Kleinstlebewesen auf ihrer Haut nur darauf, mich anzuspringen? Saß im Haupthaar meines Vaters das Verderben und wartete auf mich? Und was war mit Schwesterchen? Was mit dem Hund? – Umzingelt von Gefahren saß ich auf dem Rand der Badewanne und beobachtete misstrauisch meine Hände. Unter meine Fingernägeln, so schien es mir, saßen Millionen Kranlheitserreger und lachten mich aus.

Der übliche Gute-Nacht-Kuss fiel aus. Bekümmert stand mein Vater einige Sekunden in der Tür und atmete Enttäuschung. Aus seinen Nasenlöchern spritzten Kaskaden von Bakterien durch den halbdunklen Raum. „Gute Nacht.“, zog er die Tür zu. „Gute Nacht.“, sagte ich ein wenig schuldbewusst, weil es ja nicht an ihm lag, sondern nur an seiner Eigenschaft als Wirt. In der Dunkelheit meines Kinderzimmers wühlten die Mikroben sich durch den orangefarbenen Bodenbelag, bedeckten wie eine Haut alle Möbel, die Playmobil-Stadt auf dem Boden, und die gleichfalls orangefarbenen Vorhänge waren getränkt mit den hunderttorigen Städten und Reichen der mikroskopischen Fauna. In meinem Kissen tanzten unzählige Milben eine zähnefletschende Polka, und neben dem Bett lag das Buch, in dem man ganz genau sehen konnte, wie die kleinen Mitbewohner meines Lebens aus der Nähe aussahen.

Am nächsten Morgen verlangte ich eine neue Zahnbürste und ein Extrastück Seife. Seufzend legte meine Mutter die verpackten Kosmetikartikel auf die Konsole unter dem Spiegel. In den Kindergarten wollte ich nicht. Die bakteriell verunreinigten Abdrücke der Hände meines Vaters konnte ich auf dem Frühstückstisch förmlich sehen. „Ich will sauberes Geschirr.“, versuchte ich mein Überleben zu sichern.

Die Spülmaschine, so klärte mich ein Blick auf das Display auf, war mit nur 50° C ungeeignet, das Geschirr wirksam zu reinigen. Mit jedem Bissen, so wurde mir klar, nahm ich Bakterien auf, die aus dem Mund meiner Familie über Löffel und Gabel auf die nurn scheinbar sauberen Teller geraten waren. „Ich will ein eigenes Geschirr.“, meldete ich an. Ein paar an Auseinandersetzungen reiche Tage später erschien mein Vater mit einem großen Karton. Ich packte aus: Ein „Hahn und Henne“-Geschirr, ein dazugehöriges Besteck, und mein bekümmerter Vater im Hintergrund. Trotz der gesundheitlichen Risiken fiel ich ihm um den Hals. Fast hätte ich ihn geküsst.

Das neue Geschirr stellte ich selbst in die Spülmaschine. Auch die Reinigung meines Zimmers wollte ich selbst übernehmen und konnte nur mit Mühe davon überzeugt werden, dass Frau T., die Sachwalterin der häuslichen Hygiene, als Profi der Keimfreiheit besser in der Lage sein würde, den Tod aus meinem Zimmer zu verjagen. Immerhin trug Frau T., wie auch Schwesterchen, einige Tage gezwungenermaßen einen Mundschutz aus der Praxis unseres Zahnarztes.

Eines Tages aber war das „Was ist was“-Buch weg. Noch ein paar Tage später packte meine Mutter unsere Taschen, und unsere Mikroben und wir fuhren in Urlaub. Nach der Rückkehr aber hatte die Welt der Kleinstlebewesen für’s Erste ihren Schrecken verloren, und nur das Geschirr blieb, wo es war.

Die schwesterliche Weihnachtsfalle

Exposition (Weihnachten 05)

„Sü-üße!“, flötet Schwesterchen und wirft mir ein Geschenk in den Schoß. „Wir wollten uns doch nichts schenken.“, wehre ich ab. Ich habe vereinbarungsgemäß nichts gekauft. Eine Minute später ist klar: Schwesterchen auch nicht. Auf dem ausgewickelten Teepäckchen klebt der Aufkleber eines Berliner Teegeschäfts, in dem ich ein Jahr vorher mehrere Tees erworben habe, um sie Schwesterchen ergänzend zu einigen anderen Utensilien zur Teezubereitung zu überreichen.

„Hat dir der Tee nicht geschmeckt?“, schleudere ich schwerst beleidigt Schwesterchen das Päckchen zu. „Nun mach‘ doch nicht auch noch Weihnachten Stress!“, stürmt das erboste Schwesterchen davon. „Modeste kann man’s auch nicht recht machen.“, beschwert sie sich bei meiner Mutter und wirft die Tür hinter sich zu. „Das ist doch nicht so schlimm.“, befindet meine Mutter. Ich hätte halt so tun sollen, als hätte ich das Versehen gar nicht bemerkt. „Wenn sie den Tee eh nicht trinkt, kann sie ihn doch verschenken.“, beendet meine Mutter die Diskussion und merkt irgendwann später gegenüber Schwesterchen an, zukünftig besser darauf zu achten, wem sie welche Geschenke weiterschenkt.

Mitte November 2006 beschließe ich daher: Schwesterchen bekommt auch diesmal nichts. Zum einen gilt die Verabredung an sich nach wie vor, uns nichts zu schenken. Zum anderen habe ich mich über Schwesterchen mächtig geärgert, die im Oktober befand, für einen dermaßen langweiligen und unspektakulären Job wie meinen müsste man schon als eine Art Schmerzensgeld mehr Gehalt beziehen, als ich bekomme.

Szenario 1 (die Keiner-schenkt-was-Variante)

Das ortsabwesende Schwesterchen bekommt also kein Paket, und schickt auch mir nichts nach Berlin. Weihnachten sitzt Schwesterchen also bei der Familie ihres Freundes auf dem Sofa, packt das elterliche Geschenk aus, und ruft kurz an oder wird kurz angerufen. „Sü-üße!“, wird sie flöten. „Frohes Fe-est!“, und dann legen wir beide wieder auf.

„Meine Schwester hat einen echten Schaden.“, wird Schwesterchen gegenüber der fremden Familie als Begründung anführen, warum wir uns nicht schenken, und bei der sicherlich irgendwann stattfindenden Hochzeit werden mich alle anstarren, und versuchen, herauszubekommen, was bei mir nicht stimmt, und warum ich das reizende Schwesterchen nicht mag.

Wahrscheinlich Neid, werden sie denken.

Szenario 2 (Die Schwesterchen-schenkt-was-Variante)

Das Schwesterchen geht also in ein Geschäft (oder kramt ein bißchen in den Geschenken des Vorjahres) und packt mir irgendwas ein. Vielleicht bekomme ich auch ein Werbegeschenk, das ihr Freund von Geschäftspartnern erhalten hat. Obstbrand etwa, das mögen wir beide nicht. Oder ein Dekorationsobjekt. Schwesterchen mag Dekorationsobjekte wie etwa luxuriöse, handgezogene Kerzen oder Vasen aus Terrakotta, die mediterrane Leichtigkeit auch in meinem Heim verbreiten.

Weihnachten bin ich also gezwungen, anzurufen und mich zu bedanken. Irgendwann nach Weihnachten wird Schwesterchen zu Hause anrufen, wenn meine Eltern wieder aus dem Urlaub zurück sind, und berichten, dass sie mir ein „klitzekleines Geschenk, gar nicht teuer“ gekauft habe, denn „es geht ja auch nicht ums Geldausgeben, nur dass man zeigt, dass man sich mag.“, oder so ähnlich, und dann stehe ich da als gleichgültiges Biest ohne Familiensinn.

„Wahrscheinlich Neid.“, wird meine Mutter seufzen und sich vornehmen, mit mir mal ernsthaft darüber reden, dass sie zwei großartige Töchter hat, von denen jede ihre ganz eigenen Vorzüge hat.

Szenario 3 (Die ich-schenke-was-Variante)

Die dritte Variante ist die Offensive. Ich packe meiner Schwester großartige Geschenke wie etwa exklusive Seifen im edlen Präsentkarton oder 250 Gramm original belgischer Pralinen in der Nostalgiebox ein und schicke alles per Post zur Familie ihres Freundes.

„Sü-üße, wir wollten uns doch nichts schenken.“, wird Schwesterchen Weihnachten anrufen und ein bißchen jammern, dass ihr das jetzt aber total unangenehm ist. Also sie hätte ja gedacht, wir schenken uns nichts. Da hätte sie sich ja auch dran gehalten, ansonsten hätte sie mir ja auch was geschenkt, aber so sei das eigentlich unfair, wird Schwesterchen lamentieren, und die Familie ihres Freundes wird ihr beipflichten.

„Und dazu nur so Schrott.“, wird Schwesterchen die exklusive Seife oder die original belgischen Pralinen auf den Couchtisch schleudern. „Hat sie bestimmt selbst geschenkt bekommen.“

Nach Szenario 4 wird noch gesucht.

Jubilate

Onkel A. findet, man sollte sich schämen. Tante M. findet, Weihnachten solle man nicht über den Krieg sprechen und über den Kommunismus könne gar nicht wenig genug gesprochen werden. Onkel A. solle besser noch ein Stück vom Stollen essen und vielleicht ein bißchen Klavier spielen. Widerstrebend setzt sich Onkel A. auf den Schemel und klimpert ziemlich lustlos Weihnachtslieder. „Die Kinder sollen mitsingen!“, fordert Tante M. uns auf, aber wir bleiben sitzen. Tante M. seufzt.

Auf dem Tisch türmen sich auf mehreren Tellern Schokoladenweihnachtsmänner und stanniolverpackte Süßigkeiten. Nougatgefüllte Kugeln, Nüsse, Mandarinen und gebräuntes Königsberger Marzipan, kleine runde Schokoladenplätzchen mit bunten Streuseln drauf, Lebkuchen und Plätzchen. Die mit den roten Klecksen in der Mitte sind von Tante M. Ab und zu stößt uns die Großmutter an, auch von den Plätzchen der Tante zu essen. Tante M. sei sonst traurig, flüstert sie uns zu. Ihre eigenen Plätzchen sind auf diese Ermahnung nicht angewiesen. Kleine Kokosberge gibt es und Vanillekipferl, bunte Butterplätzchen und Zimtsterne, Schokoladenhäufchen und Engel mit einer Nuß im Bauch.

„Modeste verträgt keinen weißen Zucker.“, behauptet meine Mutter. Das stimmt nicht, aber ab und zu erinnert sich einer Erwachsenen an die mütterlichen Ermahnungen und schiebt den Teller weg, wenn ich komme. Meine Großmutter dagegen weiß, dass Zucker nicht schädlich ist für Kinder, und steckt mir Süßigkeiten zu, wenn meine Mutter nicht hinschaut, und gelegentlich auch, wenn meine Mutter danebensitzt. Meine Mutter schweigt. Ihre Schwiegermutter sei schwierig, wird sie ein paar Tage später ihrer besten Freundin erzählen.

Damit ich auch etwas zu naschen habe, hat meine Mutter extra Süßigkeiten mitgebracht, Fruchtschnitten und Studentenfutter aus dem Reformhaus. Die mag ich nicht. Die meisten Fruchtschnitten isst deswegen der lustige Onkel U., der seine neuen Freundin mitgebracht hat, mit der keiner spricht. Ziemlich geschminkt ist die Freundin, die ich Jahre später als Internistin an einem Berliner Krankenhaus wiedertreffe. „Die Kellnerin“ nennt sie meine Großmutter, als sei das etwas Unanständiges. Irgendwann tuscheln Onkel U. und seine neue Freundin miteinander und fahren dann einfach weg, obwohl wir doch so schön zusammensitzen, Kinder, sagt die Großmutter vorwurfsvoll. Mein Großvater nickt. Schuld ist die Kellnerin, die keinen leichten Stand haben wird in den nächsten Jahren, trotz Hochzeit und Kind. Die Scheidung musste ja so kommen, werden die alten Damen eines Tages sagen, die Schwestern des Großvaters, die nebeneinander am Couchtisch sitzen und viel zu selten besucht werden. Kinder sind undankbar, ist man sich einig.

Die Hunde müssen in der Küche bleiben, denn im Wohnzimmer steht der Weihnachtsbaum, der umkippen könnte, wenn ein Hund dagegenläuft. Im Esszimmer haben Hunde nicht zu suchen, und so hört man es gelegentlich in der Küche bellen und jaulen, wo vier Hunde aufgeregt auf viel zu engem Raum zusammengesperrt warten. Meine Mutter schmollt, weil ihr Hund trotz nachweislicher Wohlerzogenheit auch nicht ins Wohnzimmer darf.

Die Tante H. hat letztes Jahr versucht, sich umzubringen, und hat nun wie ein rohes Ei behandelt zu werden. Benommen von Medikamenten, von denen sie wieder fröhlich werden soll, sitzt sie verschämt auf dem Sofa. So etwas tut man nicht, sagt die alte Tante D. in der Küche zur Großmutter. Wir sollen im Gästezimmer spielen, aber die Bücher habe ich schon ausgelesen, die neue Puppe mag ich nicht, und Cousin J. will seinen Lastwagen nicht hergeben. Geschrei, Cousin J. weint, und ich muss mich entschuldigen. Cousin L., der schon 15 ist, ängstigt die Kleinen mit Geschichten von menschenfressenden Gespenstern und wird deswegen in die Küche beordert, Geschirr abtrocknen.

Tante H. wird nun doch etwas lebhafter, weil die Medikamente wirken, und findet es nicht gut, dass es Weihnachten nur um Kommerz geht. Weihnachten ist das Fest der Familie, weist meine Großmutter sie zurecht. Onkel A. findet Weihnachten auch verlogen, mein Vater scheitert am Aufbau eines Fischer-Technik-Baukrans, und seine Tanten sprechen ununterbrochen auf ihn ein.

„Die Kinder sollen singen.“, fordert Tante M. und nochmal auf. „Ich will nach Hause!“, plärrt eine der kleinen Cousinen. „Kinder, kommt ihr singen?“, greift Tante M. sich rechts und links je ein Kind und schleppt uns zum Klavier. – „Lass doch die Kinder in Ruhe!“, steht Onkel A. vom Klavierhocker wieder auf und schließt den Deckel. „Tu den Kindern doch den Gefallen!“, befiehlt die Tante ihn vergeblich zurück. – „Es gibt gleich Essen.“, unterbricht die Großmutter. Tante M. ist beleidigt.

„Nächstes Jahr bleiben wir zu Hause.“, behauptet meine Mutter am nächsten Morgen auf dem Heimweg. Stur schaut mein Vater geradeaus auf die Autobahn. „Das können wir meiner Mutter nicht antun.“, wird er zwölf Monate später meiner Mutter vorhalten.

Ein weiteres Jahr später aber ist der Großvater tot, die Großmutter folgt zwei Jahre später, und fünf weitere Jahre später hören meine Eltern auf, Weihnachten zu feiern und fahren einfach weg, irgendwohin, wo keine Weihnachtsbäume wachsen.

Auf der Freude sanftschimmernden Wellen

„Wir gehen ins Wasser,“, sagt mein Vater, fasst meine Hände und hebt mich auf seine Füße. Durch die Äste der Weiden, die den See grün verhängen, waten wir tiefer, bis das Wasser mir bis ans Kinn reicht. Mein Vater wirft mich hoch, fängt mich wieder auf, dass das Wasser spritzt, und ich halte kurz die Luft an, um zwischen seinen Beinen durchzutauchen. „Mach das Walross!“, kreische ich, und mein Vater wirft sich ins Wasser, das die Tropfen bis in die Zweige der Bäume spritzen, und funkeln in der weißen Junisonne wie der Glitzergürtel meiner Mutter, den ich manchmal umbinden darf, wenn sie sich schminkt.

„Kuck mal!“, rufe ich dem Walross zu, und schlage mit den Armen auf das Wasser, dass es spritzt wie der Springbrunnen im Kurpark. „Nicht ins Tiefe“, zieht mein Vater mich zurück, hebt mich auf seine Schultern und springt in die Höhe. Auf dem Rücken meines Vaters darf ich sitzen, der ein paar Meter hin und her schwimmt. „Jetzt bist du ein Seepferd!“, feuere ich ihn an, und mein Vater wiehert ein bißchen, wie es die Seepferde tun, wie er mir versichert.

Der Herbst aber verschließt die Pforten des Wassers. Verzaubert, abgeriegelt durch die Spinnweben, die die Feen des Nachts über das Wasser spannen, schläft der See und träumt goldene Träume, müde fließend, und die Blätter der Weiden kreisen versonnen an der Oberfläche, um langsam zu versinken. Der kalte Nöck, von dem mir mein Vater vorgelesen hat, wandert auf dem Grund des Sees herum und baut sich aus ein Haus aus den Ästen, die die Herbststürme von den Bäumen reißen, und legt sich schließlich zur Ruhe unter einer Eisdecke, die eines Morgens, eine zarte Membran, den See überspannt. – Nicht aufs Eis gehen, warnen die Erwachsenen, denn unter der Oberfläche ist der Wassermann hungrig, wenn er erwacht, und hat seine Fallen schon gestellt. Kinder würde er verzehren, flüstert die Nachbarstochter mir zu, wie er schon den Hund der dicken Lehrerin gefressen hätte, der eines Morgens über den Zaun gesprungen war und im See ertrank.

Erst, wenn das Eis knackt und stumpf wird, wenn die Kälte länger als drei Wochen währt, ist der Riegel dicht genug, der den Wassermann verschließt. Knurrend, aber sicher verwahrt unter dichtem Eis muss der Nöck zuschauen, wie mein Vater die Schlittschuhe mit Speck abreibt und mich vorsichtig an beiden Händen auf den See führt. „Einen Fuß nach dem anderen!“, ermahnt er mich und lässt mich vorsichtig los. Weiter zur Mitte des Sees laufen die Großen, die schon zur Schule gehen, und werden so schnell, wie ich es mit dem Fahrrad noch nicht bin, obwohl die Stützräder abgeschraubt sind. Ab und zu heben sie sogar ein Bein hoch, drehen sich und schießen im Zick-Zack an mir vorbei. – „Dass will ich auch!“, zeige ich auf ein Mädchen, das besonders gewandt über das Eis gleitet. „Wenn du größer bist.“, tröstet mich mein Vater und hebt mich auf, wenn ich wieder und wieder ausgleite. Es gebe Bratäpfel, reibt er mir die Hände, die trotz der Handschuhe rot und kalt werden, und zieht mich vom Eis und nach Hause.

Die Pirouetten aber werde ich niemals drehen, immer falle ich um, und eines Tages packt auch noch der Wassermann seine Sachen und hinterlässt das Wasser leer. Mein Vater, sagt er, geht nur noch selten schwimmen, und ich war den ganzen Sommer lang nicht am See, bis nun der Herbst die Blätter auf die Straßen fegt, und nur die Spinnweben bleiben.

Die sehr gelungene Hochzeit der Cousine des J.

„Da will ich nicht hin.“, maule ich am Dienstag ein wenig herum und male mir leicht verdrossen die Hochzeit der Cousine des J. aus. Die Reden. Die Hochzeitszeitung. Das Brautpaar, wie es einen Baumstamm durchsägt und die stundenlange Zeremonie in einer Kirche. Sketche. „Und deine Familie…“, hebe ich an, bis der J. leicht gereizt die Augenbrauen zusammenzieht.

„Müssen wir da wirklich hin?“, frage ich einen Abend später und krause die Nase. „Da führt jetzt kein Weg vorbei!“, ordnet der J. an und weist auf das Harmoniebedürfnis seiner Mutter hin. Überdies, so fährt er fort, könne man die Störung, die von auffälligen Abwesenheiten naher Verwandter ausginge, seiner Großmutter nicht zumuten, und ein Kleid – nun, ein Kleid müsse ich mir eben noch kaufen. „Wann soll ich das denn nun noch machen!“, rufe ich dem J. hinterher, und diese Frage ist angesichts des Grades meiner Berufstätigkeit, die sich wirklich eine Vollzeitstellung nennen darf, als ganz und gar rhetorisch zu verstehen.

„Ist dir eigentlich klar, was das kostet?“, spiele ich am Donnerstag eine der letzten Karten aus, die ich auf der Hand habe und erwähne den exorbitanten Preis, de die Deutsche Bahn für die Beförderung von zwei Personen zum Ort der Vermählung berechnet. „Ganz schön teuer.“, gibt der J. zwar zu. Allerdings – und wohl oder übel – müsse man da nun einmal hin. Und immerhin sei das Essen vermutlich gut, seine Großmutter habe er lange nicht gesehen, und es habe deswegen überhaupt keinen Sinn, die Teilnahme an diesem Fest noch länger zu diskutieren.

Am Samstag morgen also laufe ich los. Ich kaufe ein Kleid, altrosa Seide mit aufgestickten Straßperlchen, eine Stola, finde keinen passenden Hut, schwitze, schleppe eine meterlange schlechte Laune hinter mir her und dusche wie eigentlich jeden Tag mehrfach ganz vergeblich. „Bist du fertig?“, brüllt der J. durch die Badezimmertür. „Komm‘ gleich.“, murmele ich zurück, schließe ein letztes Mal die Augen und denke an all das, was man mit dem Wochenende sonst noch so anfangen könnte. Mit der C. und der J. Baden fahren zum Beispiel. Unter einem Baum liegen und lesen. Einen Text schreiben, nach einem Spiegel und einer Garderobe suchen. Telefonieren oder einfach in einem Café sitzen, stundenlang, und über lauter Dinge sprechen, die angenehm sind und nichts zu tun haben mit Hochzeiten oder ähnlich unangenehmen Dingen, die es gibt, ohne dass irgendjemand wüsste, wozu.

„Wir müssen dann mal los.“, greift der J. nach meiner Tasche, und schwitzend, ächzend und ein wenig müde dazu schleppe ich mich über die Schwedter Straße. Im Bahnhof ist es voll.

„Eigentlich eine blöde Idee.“, gibt nun auch der J. zu, einbetoniert in einen dunklen Anzug. „Eigentlich eine miese Sippe.“, und erzählt lauter Details aus dem Familienleben seiner Anverwandten, die man schon aus Diskretionsgründen nicht der Öffentlichkeit anvertrauen mag, und lässt die Mundwinkel hängen. „Du wolltest da doch hin!“, beschwere ich mich und schaue auf die Uhr. Ausreichend Zeit. „Lass uns erst mal was essen.“

„De Sketche!“, jammert nun auch der J. „Meine dicke Tante. Die Hochzeitsreden. Und bestimmt haben die beiden nur ganz komische Freunde.“, lamentiert er weiter. „Eigentlich eine Frechheit, einen einzuladen, und man muss dann dahin.“, und stochert in einer lieblos zusammengerührten Portion Bratnudeln.

„Wir müssen dann wohl mal los.“, schaue ich auf die Uhr und versuche mit zusammengekniffenen Augen zu erkennen, auf welchem Bahnsteig der ICE einfährt. „Oder bleiben wir einfach hier?“, glitzert es sehnsüchtig in den Augen des J. „Sagen, wir hätten den Zug verpasst?“ – Erwartungsvoll sitzt der J. mir gegenüber und schaut mich an. „Teufel werde ich tun, dich und deine Sippe….“, sage ich schließlich, zwei Minuten später, und stehe auf.

Als wir auf dem Bahnsteig stehen, fährt der ICE los. „Tja, dann….“, dreht sich der J. um. „Fahren wir jetzt nach Hause?“, frage ich erwartungsfroh, und der J. schüttelt resigniert den Kopf. Also nein.

Eine geschlagene Stunden streifen wir durch den Bahnhof, kaufen ziellos irgendwelche Gegenstände, trinken Wasser, beobachten aufmerksam die Tätowierungen fremder Menschen und blättern in der Karte einer Eisdiele. „Geht nicht mehr.“, schaut der J. auf die Uhr. „Müssen los.“ – Erneut steigen wir die Treppe aufwärts, der J. trägt die Tasche, ich schleppe schwer an der Last meiner schlechten Laune, und der ICE, so ist der Tafel zu entnehmen, die über dem Bahnsteig hängt, hat zehn Minuten Verspätung.

„Wenn der jetzt noch später kommt, fahren wir nach Hause.“, beschließt der J. und ich nicke, stelle meine Tasche ab, zähle untätowierte Menschen in meiner Nähe und komme auf drei, halte Ausschau nach einem Wagen, wo man Wasser kaufen kann, und warte auf den Zug. Zur Kirche, soviel ist sicher, sind wir zu spät. Wenigstens etwas, denke ich, und betrachte verträumt die Anzeigetafel. Wenn der jetzt noch später kommt…, denke ich.

„…erhöht sich die Verspätung auf etwa dreißig Minuten!“, schallt es über den Bahnsteig, und ich tippe den J. an. „Wir fahren nach Hause.“, sage ich.

Und während der J. seinen Eltern telephonisch zu erklären versucht, warum er mitsamt Begleitung nicht der Hochzeit seiner Cousine beiwohnen wird, segne ich bei mir die Deutsche Bahn AG, die schlechten Bratnudeln, die unerträgliche Hitze und überhaupt alles, mich und den J. und den Samstag und die Sonne und Berlin, während die lustigen Götter der Familienfreiheit unter der hohen Decke des Berliner Hauptbahnhofs mit gnädigem Kichern unseren Abzug begleiten.

Die kleine Freiheit

So ungefähr mit 82 fing mein Großvater an zu husten, und mit circa 84 wurde sein Husten der ganze Familie so widerlich, dass einzelne Mitglieder ernsthaft erwogen haben sollen, Weihnachten 1985 woanders zu verbringen als in seinem Hause. Mit 86 fiel er einfach um, und kam ins Krankenhaus. Die Ärzte sprachen von Lungenkrebs und ermahnten ihn, mit dem Rauchen aufzuhören, aber ein paar Wochen später war er tot, und so kam es nicht mehr zu einer späten Entwöhnung vom Nikotin. Es hätte wohl auch nichts mehr genützt.

Die bedeutenderen Besitztümer meines Großvaters erbte meine Großmutter. Mit souveräner Ungerechtigkeit allerdings vererbte er diejenigen Kleinigkeiten seinen Kindern und Enkeln, um die niemand ernsthaft prozessieren würde, über deren Verteilung sich die Zukurzgekommen aber trotzdem ärgerten: Ich bekam den Globus und Morgensterns gelbes Inselbändchen „Palmström“, aus dem er mir gelegentlich vorgelesen hatte. Mein Cousin L. erbte den großen Gibbon und eine bronzene Perikles-Büste. Schwesterchen allerdings bekam nichts, denn die war schlecht in Latein und spielte bei Tisch zudem ab und zu mit den Haaren.

Der Wagen natürlich blieb in der Garage, die nun meiner Großmutter gehörte. Mein Vater bot an, beim Verkauf zu helfen, mein Onkel A. bot an, selber mit dem Wagen herumzufahren, aber meine Großmutter lehnte ab, und strafte diejenigen, die an einen Akt purer Sentimentalität geglaubt hatten, Lügen: Noch im selben Jahr begab sie sich zur örtlichen Fahrschule, und was ihrer Enkelin nicht gelingen sollte, gelang der damals über siebzigjährigen Dame: Der Führerschein wurde ihr ausgehändigt, und meine Großmutter setzte sich hinter das Steuer.

„Dann kannst du die Kinder ja mal mitnehmen.“, hatte meine Mutter vorgeschlagen, die – wie eigentlich jedermann – nicht an die reale Möglichkeit geglaubt hatte, dass meine Großmutter jemals wirklich fahren würde. Meine Großmutter jedoch verpackte Käsebrote in Butterbrotpapier, befüllte eine Thermoskanne mit Kaffee und eine mit Früchtetee und fuhr sehr, sehr vorsichtig vor.

In der Kindheit meiner Großmutter, hatte man mir erzählt, pflegte man bisweilen noch mich Pferdekutschen zu reisen, und das Tempo, mit dem ein Pferd die Lande durchquert, schien meiner Großmutter die angemessene Reisegeschwindigkeit darzustellen. Mit ungefähr 50 Stundenkilometern, auf der Autobahn auch gerne einmal mit 70, fuhr meine Großmutter über Land. Langsamer als wir hatte seit dem 19. Jahrhundert niemand mehr den Wolfgangssee erreicht. Mit der Gemächlichkeit wandernder Handwerksburschen bereisten wir die Mosel, meine Großmutter erzählte mir alles, was sie über die Porta Nigra wusste, wir fuhren zum Loreleyfelsen und nach Altötting, und nachts schliefen wir in Familienpensionen, die die Dame des jeweiligen Hauses mit geschmackvollen Souvenirs der Region und fröhlich-bunten Kunstdrucken dekoriert hatte.

Weil meine Großmutter dem Glauben meiner Eltern nicht anhing, Zucker sei schlecht für Kinder, und ich sei ohnehin schon hyperaktiv genug, gab es immerzu Kuchen und Limonaden. Morgens schmierte sie mir Semmeln dick mit Butter, und ich durfte Eier essen, so viel ich wollte. Wenn es irgendwo einen Aussichtspunkt gab, dann gab es auch eine Bank, und meine Großmutter setzte sich hin und bewunderte die Aussicht. Am Abend saßen wir auf den Terrassen der Familienpensionen unter farbigen Markisen und schrieben Karten an die ganze Familie. „Liebe Mama, lieber Papa!“, schrieb ich etwa „hier ist es sehr schön, und mit dem Wetter haben wir viel Glück gehabt. Gestern waren wir in … und haben den … besucht.“ – und nach einigen Tagen fuhren wir zurück. Es war großartig.

Ab und zu kam meine Schwester mit, aber der wurde im Auto ab und an schlecht. Einmal fuhr auch Cousin S. mit, aber der konnte nicht stillsitzen, und zappelte auf den Bänken an Aussichtspunkten immer solange herum, dass meine Großmutter die Aussicht nicht genießen konnte, und deswegen blieb er zukünftig daheim.

Ab und zu hupten Leute, wenn wir vor ihnen fuhren, und manchmal überholten sie uns sogar da, wo das gar nicht erlaubt war. „Die haben ja gar nichts vom Fahren!“, sagte meine Großmutter dann und fuhr noch langsamer. „Ich weiß nicht, warum ich das nicht schon vor zehn Jahren gemacht habe!“, rief meine Großmutter ab und an aus.

Eines Tages aber fuhr ihr jemand auf einem Parkplatz in den Wagen, und sie brauchte einen Neuen, der ihr nicht so gut gefiel wie der alte. Und eines Tages sagte ihr ihr Arzt, sie solle auch mit dem neuen Wagen besser nur noch kurze Strecken fahren. Und eines bösen Tages wurde sie krank, und als sie aus dem Krankenhaus ein letztes Mal für ein paar Wochen herauskam, fuhr sie nicht mehr gern. Sie fühle sich zitterig, sagte sie, und mein Vater solle das Auto verkaufen.

Dann war sie tot. Aber wenn jene recht haben, nach deren Glauben noch mehr als nur nichts auf uns wartet, wenn wir gestorben sind, dann fährt sie in jenen ewigen Gefilden herum, schreibt Karten, übernachtet in Familienpensionen, und bewegt ganz langsam den Wagen, der ihr wohl so etwas wie Freiheit bedeutet haben muss, über jenseitige Autobahnen überallhin, wo es ihr gefällt, zur Blumeninsel Mainau etwa oder bis nach Bayreuth.