Kleine Freuden

Kleine Freuden

Am Freitag Abend im PRINCE gewesen, das ist so ein neuer panasiatischer Laden in Mitte. In den Räumen war einmal vor Jahren das Shiro i Shiro, dann ein etwas beliebiger Italiener, und nun also ein Restaurant in funkelndem Schwarz, das kleine und mittelgroße Portionen zum Teilen serviert, anständige Drinks, hübsche Kellner, und das Ganze für ziemlich wenig Geld. Gute Laune. Der J. lässt ausrichten, der Devil on Fire sei wirklich ziemlich scharf. Die Dumplings der I. waren dagegen ein wenig übersichtlich.

Am Samstag schlenderten wir am Nachmittag so die Hufelandstraße entlang. An sich wollten wir gar nichts essen. Dann wollten wir uns wenigstens anschauen, wie die Törtchen in der neuen Konditorei Jubel aussehen, die jüngst hier eröffnet hat. Auf einmal aber saßen wir am Tisch, vor mir ein Windbeutel mit einer feinen Creme, Sternanis, Mandeln oder so ähnlich und eine kleine Joghurtkuppel. Vor dem J. ein Cheesecake mit Kürbis, beides sehr fein, sehr filigran-französisch, Törtchen für feine Damen, und dazu guter Kaffee und der herzliche Service von Lucie, die früher in der Rutz Weinbar serviert hat. Am liebsten wären wir gleich dageblieben und hätten alles aufgegessen, was es da gab. Das ging aber nicht, denn wir mussten heim, denn …

… ebenfalls am Samstag gab es Grünkohl. Die J. hat nämlich vor einigen Jahren auf einer Tagung einen netten Herrn kennengelernt und sodann zu sich genommen, der aus dem Niedersächsischen stammt, und die dort ansässigen Stämme betreiben um diese Speise und die dazugehörigen Würste einen außerhalb Niedersachsen wenig bekannten Kult. Der Grünkohl, den der Freund der J. aus seiner Heimat mitgebracht und – der größeren Küche wegen – bei uns in größerer Runde verzehrt hatte, war den Kult aber wert. Gott, war ich satt. Und glücklich. Vielleicht bestelle ich mir hier mehr von dem Zeug.

Am Sonntag war ich gleich morgens so satt. Sehr satt. Schrecklich satt eigentlich. Träge saß ich bis mittags in Unterwäsche auf dem Sofa, las dem F. den Räuber Hotzenplotz und Henriette Bimmelbahn vor und schleppte mich zu 15.00 Uhr in den Prenzlkasper. Das ist ein Puppentheater in der Marienburger Straße. Der F. jubelte, schrie und lachte zu Peter und der Wolf, versteckte seinen Kopf in meinem Pullover, als die Ente dem Raubtier zum Opfer fiel und klatschte frenetisch zum guten Schluss.

Schließlich gab es Käsekuchen. Zu Hause. Aus drei Eiern und 3 Pfund Quark. Mit heißen Kirschen und Sahne dazu. Vier Kinder haben die ganze Wohnung auseinander genommen. Sechs Erwachsene ein Ferienhaus gebucht. Und als ich zu Bett ging, so gegen Mitternacht war’s, lag da der F. auf meinem Kissen und flüsterte im Traum sehr leise etwas wie: „Der Wolf ist tot.“, und es war alles, alles, alles gut.

 

Der Sommer der Männer

„Schau mal!“, sage ich zur charming Frau Kitty im Heinz Minki im Garten und deute auf einen jungen Mann mit Bart und einer safrangelben Kapuzenjacke. Hübsch sieht er aus. Hübsch sehen viele aus, wie sie gerade durch Kreuzberg oder Mitte laufen, lang und schlank, aber nicht so hager wie in den schrecklichen Hedi-Slimane-Jahren mit den dünnen Beinen. Der Mann 2011 ist zweifellos erwachsen und belegt dies mit einem schönen Bart.

Der Bart des Sommermanns 2011 ist schwarz. Ich habe keine belastbaren Zahlen über die Bartfarbe der Männer dieser Stadt, aber allgemeine Feldstudien letzte Woche in der Mittagspause zwischen Neuer Schönhauser, Münzstraße und S-Bahnschienen haben genau dies ergeben. Über die Augen des Sommermanns kann ich dagegen nichts sagen, denn er trägt Sonnenbrille. Gern noch die vom letzten Jahr mit dem weißen oder mintfarbenen oder lachsfarbenen Gestell, weil er viel zu lässig und viel zu arm ist, um ständig irgendetwas Neues zu kaufen. Selbst wenn er Geld haben sollte, ist davon nichts zu sehen, weil hier Berlin ist und man zumindest so tut, als sei Geld nicht da, aber auch kein Thema. Unabhängig von seiner Muttersprache spricht der Mann des Jahres übrigens oft, trifft man ihn, englisch.

Wenn der Sommermann Locken hat, dann zeigt er sie kurz geschoren und dicht wie ein römischer Kaiser. Hat er keine, trägt er eine Mütze. Diese Mütze ist aus Wolle und liegt nicht so eng an wie eine Mütze, die man zum Skilaufen auf dem Kopf hat. Eher ähnelt seine Mütze (gern oliv oder taupe) dem Beanie seiner Freundin. Die verblasst dieses Jahr so ein bißchen gegen ihn, weil die Damenmode dieses Jahr extrem dämlich aussieht, allein diese Jumpsuits, es ist zum Heulen, so dass die Freundin des Sommermanns nur die Wahl hat, unmodern oder unvorteilhaft auszusehen.

Viele der Männer, die mittags in Mitte essen oder die man abends bei Konzerten sehen kann, wie sie selbstvergessen und glücklich tanzen, sind muskulös. Sind sie sehr muskulös und unbefangen eitel, tragen sie im Sommer gern Unterhemden oder Shirts, die wie Unterhemden aussehen. Ihr Bizeps glänzt dann in der Sonne. Sie sehen super aus so, sehr gern würde man einen der Männer auffordern, die Muskeln einmal anzuspannen, und das feine Spiel der Adern unter der Haut zu bewundern. Ist der Sommermann nicht so muskulös oder sitzt er in Büros, wo man das nicht so macht, trägt er gut gebügelte weiße Hemden. In jedem Fall hat er ein Riesentuch um den Hals. Wenn er sich was traut, gern mit Lurex.

Selbst in Jodhpurhosen sieht er sehr, sehr gut aus. Die Hosen können farbig sein, so ein pudriger Ton, der nach Staub und Hitze aussieht, gut sitzende Jeans gehen auch, und wenn er Flipflops tragen sollte – was es gibt – dann hat er gepflegte Füße. Überhaupt ist der Mann des Jahres 2011 sehr gepflegt und gibt sich keine Mühe, es zu verstecken. Er riecht gut. Creed könnte er tragen oder Blenheim Bouquet. Vielleicht trägt er sogar Schmuck.

Was der Sommermann beruflich macht, weiß ich nicht zu sagen. Ich kenne solche Männer nämlich im Regelfall nicht, weil es in meiner Branche wenig solcher Männer gibt und ich kaum Männer ohne einen solchen Anknüpfungspunkt treffe. Ich rede mir ein, diese Männer hätten Geist und Geschmack, weil ich nur kluge Menschen schön finden möchte. Überraschend oft bestätigt sich diese Hoffnung: Letzte Woche habe ich einen solchen Mann vor YamYam sitzen sehen, der las Robert Byron, strich sich ab und zu eine der Locken aus der Stirn und sah dermaßen sterbensschön aus, dass ich ihn am liebsten photographiert hätte. Am Donnerstagmittag bei Dolores in der Sonne sprach ein anderes Prachtexemplar von Sommermann klug über Jonathan Meese, den ja gerade zu recht keiner mehr mag.

Wie der Sommermann im Winter aussah, kann ich mir nicht mal vorstellen. Ich will’s auch nicht wissen, ich will keinen Sommermann haben. Ich will mich nicht einem solchen Mann verabreden und nicht mit ihm sprechen. Ich spreche ja überhaupt manchmal ungern mit Fremden. Nur anschauen will ich den Sommermann, mich an ihm erfreuen wie an einer Orchidee, weil er 2011 so großartig aussieht wie selten sonst.

Lilly

Zwei Katzen sind – nun, wie Katzen halt so sind. Mal fegen beide durch den Raum. Mal sieht man drei Stunden nichts von den Tieren und fragt sich, ob man wohl welche besitzt. Dabei besitzt man Katzen bekanntlich nicht. „Katzenhalter“ zu sein ist stets eine Amtsanmaßung. Die Katze wohnt bei einem. Lange Zeit also wohnten bei mir deren zwei.

Eines Tages wurde die andere Katze krank. Dann wurde sie wieder gesund, ein letzter Tierarztbesuch wurde vereinbart, und dann fiel die Katze eines Abends einfach um. Ein paar Monat lang war der Kater allein.

Dass es mit einem einsamen Kater nicht geht, wurde ziemlich schnell klar. Der Kater wurde anhänglicher. Noch anhänglicher, kann man sagen. Tags blieb er ungern allein, abends umtanzte er die Heimkommenden und nachts war er aus dem Bett nur schwer zu verjagen. Der Kater brauchte Gesellschaft.

„Wir fahren ins Tierheim.“, kündigte der geschätzte Gefährte an und verzog missmutig das Gesicht. Der geschätzte Gefährte ist nicht so viel in Berlin, und wenn er da ist, fährt er ungern in obskure Außenbezirke. Außerdem haben Freunde von uns zwei Katzen aus dem Tierheim, und dass der Psychologe nicht mitgeliefert wurde, ist, nun, eigentlich eine veritable Schlechtleistung. Der äußerste Akt der Katzenaquise war also eine E-Mail. Und ein Facebook-Eintrag, wer eine über habe, möge sich melden.

Außer meinem Schulfreund S., der auf die einsamen Katzen von Bangkok verwies, meldete sich keiner. Die Zeiten, wo überall mal unvorhergesehen irgendwo in der Waschküche oder unter dem Dach Kätzchen zur Welt kommen und verschenkt werden müssen, scheinen vorbei zu sein oder finden woanders statt. Einsam starrte der Kater von der Fensterbank aus auf die Straße und kuschelte sich nachts an anklagend an die Füße des J.

Vor zwei Wochen oder so hatte ich frei. Zeitung lesend saß ich also hier herum, irgendwann kam die Reinmachefrau und wir hielten einen Schwatz. Wir sehen uns manchmal monatelang nicht, ratterten also Neuigkeiten herunter, und ich erwähnte die Katzenlosigkeit. Armer Kater. Einsamkeit. Neue Katze. Und ob sie …?

Sie nickte. Unsere Putzfrau hat doppelt so viel Energie wie fast jeder, den ich kenne. Sie hat ungefähr sieben Kinder, gründet gerade ein Ladengeschäft, organisiert alles und so ziemlich jeden, und Katzen hatte sie bisher auch. Seit neuestem aber hat sie auch eine Katzenhaarallergie, und deshalb bot sie mir ihre Katze an. Sie heiße Lilly und sei blau.

Blaue Katzen sind eigentlich ein bißchen zu edel für unseren eher unedlen Haushalt. Rassekatzen stelle ich mir kränklich vor und anspruchsvoll, kleine Diven mit pflegeintensivem Fell, und deshalb wiegte ich den Kopf hin und her, versprach, drüber nachzudenken und dann dachte ich nicht mehr an Lilly. Am Wochenende, als der Kater besonders erbärmlich herummaunzte, schrieb ich dann doch noch eine SMS an unsere Putzfrau, kündigte an, die Katze demnächst zu besuchen, und als nichts kam, streichelte ich den Kater und versprach ihm einen Tierheimbesuch im Oktober.

Am Dienstag kam der J. deutlich vor mir nach Hause. An der Tür streichelte er den Kater. Im Flur schleuderte er seine Tasche irgendwohin. Im Schlafzimmer warf er Schuhe, Krawatte und Anzug ab und legte sich im Wohnzimmer aufs Sofa. Auf seiner Brust thronte der Kater. Irgendwann bekam der J. Hunger und ging in die Küche.

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. Der Zettel war von unserer Zugeherin, auf dem Zettel stand, sie habe Lilly mitgebracht, zur Probe sozusagen, und wenn wir Lilly nicht haben wollen, sollen wir anrufen. Sie komme sofort. Der J. begab sich unmittelbar auf die Suche.

Wenig später fand er das Tier im Gästezimmer unter dem Sofa. Zwischen der Rücklehne des Sofas und der Wand ist ein bißchen Platz, da geht gut eine Katze dazwischen, gerade eine kleine, blaue Katze, die sich stundenlang hinter dem Sofa aufhält, weil sie Angst hat vor der neuen Wohnung und den neuen Menschen und dem neuen Spielgefährten, der noch ein bißchen faucht.

Am nächsten Tag erst kam die Katze in die Küche. Noch einen Tag später saß sie auf meinem Schoß und ließ sich streicheln, erkundete die Wohnung, schnupperte am Kater und heute nacht, heute nacht saßen beide Katzen vor dem Bett, maunzten um Aufnahme und trotteten, von mir verjagt, gemeinsam in die Küche.

Lilly bleibt jetzt wohl hier.

Melonen

Aber wer die Melone in Stücken serviert, hat das Beste verpasst. Wer mit einem spitzen Messer zaghaft die Schale abhebt, wer kleine Trapeze schneidet, alle gleich lang. Wer einen Zahnstocher in die Würfel sticht, um bequemer zu essen. Wer die Melone kernlos kauft und geachtelt in Folie und sie auf Tellern serviert mit Servietten.

Im Ganzen, mein Freund, hat man Melonen zu kaufen. Kühl hat die Melone zu sein, größer als dein Kopf und meiner dazu, und schwer von Wasser und Frische. Grün und glänzend hat die Melone zu locken mit gelblichen Streifen. Nur mit dem größten Messer, dem glatten, dem schärfsten, darf man Melonen zerteilen. Duften muss die Melone nach Sommer und südlichen Gärten, rot muss sie sein, und Wasser muss laufen über die Haut.

Das größte Stück, das ist klar, kommt immer zuerst. In die Mitte der Melone muss man beißen, nirgendwo sonst, und das ganze Gesicht muss triefen von Nässe und Kühle. Tropfen müssen am Kinn hängen, die Wangen voll Fleisch, tiefer musst du dich essen durch die süßliche Frucht, bis das Fleisch hart wird und weiß. Von innen nach außen isst man die Melone, nur mit den Händen bricht man (wenn es denn sein muss) Melonen, und was übrig bleibt, wirft man ins Dickicht der Büsche als Dünger für neue Melonen über das Jahr.

Sommerabend

Träge schwankend vor Hitze schlingert die Stadt durch die Straßen. Ein wenig neben sich lächeln sich Fremde an auf dem brennenden Grase der Parks. Halb in den Schatten gelagert, liegst auch du auf deiner Decke, französischer Pop, ein Magazin über schöne Kleider, und in deiner Hand wird eine Flasche Biozisch immer wärmer.

„Hallo, der Herr!“, begrüßt du einen kleinen Bub, der dich besuchen kommt vom Handtuch nebenan. Der Bub heißt Ansgar, erfährst du, und er wohnt „da drüben“. Als er geht, lacht er dir fröhlich zu.

Auf dem Weg weiter nach Mitte lädt man dich ein. Ein Eis mit zwei Israelis mit starkem, russischen Akzent? Ein Stück Melone, das dir ein barfüßiger Franzose entgegenhält mit quellendem, krausem Brusthaar unter einem dünnen, blauen Hemd? Lachend beißt du ab, winkst und wünscht einen herrlichen Sommer, strahlend vor Sonne, überschießend vor Leichtsinn, galoppierend vor Glück wie die weißen Pferde, die du einmal gesehen hast als Kind, gestreckt vor Behagen im spritzenden Wasser der flachen Furt, gesäumt von schattigen Bäumen.

Ein schöner Mann

Der Mandant ihres Mannes sprach fast nur russisch, und seine Frau konnte noch weniger englisch oder deutsch oder irgendeine Sprache, die auch die A. kann, und so verstand sie nicht sehr viel von dem Gespräch, bei dem um die Jagd ging oder um irgendwelche anderen Beschäftigungen, die die A. ohnehin nicht so schätzt.

Der Abend zog sich. Man war noch nicht einmal beim Zwischengang angelangt, und vor lauter Langeweile trank die A. ein Glas nach dem anderen. Champagner mit weißem Pfirsich. Ein elsässischer Muscadet. Ein sehr kräftiger Grauburgunder aus Österreich, und die Weine wurden von Gang zu Gang dunkler und schwerer.

So viel trank die A., dass der Sommelier begann, ihr verschwörerisch zuzuzwinkern, wenn er nachschenkte, und von vornherein ihr Glas etwas mehr zu füllen als die Gläser der anderen: Der Russe und seine Frau tranken kaum, als sei es ihnen wichtig, das Klischee des trinkenden Russen durch persönlichen Einsatz zu widerlegen. Ihr Mann nippte mehr oder weniger nur zur Gesellschaft und nickte mit ernster Miene, während der Russe über ein Investment in Haifa sprach, das sich nicht so entwickelte, wie es beabsichtigt war.

Die A. unterdrückte ein Gähnen und sah sich um. Der Raum war betont nüchtern, nichts von Kronleuchtern und goldenen Tapisserien, hinter einer großen Glasfront wogte ein Wald von bleichem Bambus durch Regen und Nacht, und an den beiden anderen Tischen, an denen Gästen saßen, schien es auch nicht amüsanter zuzugehen als an dem Tisch, an dem sie saß: Von ihr aus gesehen rechts saßen fünf oder sechs Männer im Anzug, aßen beiläufig und viel zu schnell, was man ihnen brachte, und lachten so laut, wie man es in der Öffentlichkeit eigentlich nicht tut, wenn man nicht allein ist. Man sprach englisch mit einem fremdartigen Akzent. Schräg links, ein gutes Stück weiter, saßen drei weitere Männer. Den einen Mann konnte die A. nicht richtig sehen, der Russe saß im Weg. Der zweite war hässlich, plattnasig und grob, aber der dritte Mann war so schön wie ein griechischer Gott: Groß, schlank, mit einem feinen, gesammelten Gesicht wie gemeißelt, vollem, grau melierten Haar und dunklen Augen. Vielleicht war er 45, vielleicht ein wenig älter, schätzt die A. das Alter des Mannes, der viel lächelte und nur gelegentlich sprach. An seiner rechten Hand trug er einen Siegelring mit einem grünem Stein.

Als der schöne Mann aufsah, blickte er die A. direkt an. Die A. sah ihm für einen Moment direkt in die Augen, dann sah sie weg, und als sie ihn wieder ansah, hob der fremde Mann amüsiert sein Glas. Die A. schüttelte lächelnd den Kopf.

„Kennst du den?“, fragte ihr Mann die A., und die A. verneinte. „Ach so.“, wandte ihr Mann sich wieder von ihr ab und sprach auf die Russen ein. Inzwischen ging es um Resorts am Atlantik, in denen investiert werden sollte oder auch nicht. Ab und zu sagte der Russe in seinem schlechten Englisch etwas über das Essen, und die A. nickte. Es gab etwas mit Hirschzunge, blättrig aufgeschnitten, ein Eigelb vom Onsen-Ei und irgendwelches Gemüse.

Als die A. aufsah, sah der schöne Mann sie wieder an. Die A. lächelte, halb in ihr Glas, halb zu dem schönen Fremden. Dann sah sie wieder weg. Alle paar Minuten blinzelte sie dem Russen über die Schulter, und wenn der schöne Mann gerade hinsah, lächelte er von Minute zu Minute hinreißender. Die schon ziemlich betrunkene A. lächelte meistens zurück.

Der Mann der A. und der Russe redeten nun deutlich engagierter aufeinander ein. Die A. trank weiter. Es gab einen Cabernet Sauvignon, einen Schwarzriesling, es gab Ente und irgendetwas mit Stockfisch, und zwischendurch gab es ein salziges Sorbet. Die A. aß, trank und lächelte, und irgendwann stand die A. auf und verschwand. In den Waschräumen stand sie lange, lange vor dem großen Spiegel und sah sich selbst in die Augen wie einer Fremden. Ihr Augen waren groß und grau, verschattet von sehr, sehr langen Wimpern, und die A. mochte, was sie im Spiegel sah.

Viel später erst ging die A. zum Tisch zurück. Langsam schlenderte sie den schmalen Gang entlang, lächelte sich noch einmal in der Fensterscheibe zu, und als der schöne Mann um die Ecke bog, lächelte sie noch immer. Als der schöne Mann stehen blieb, blieb sie auch stehen. „Hey.“, sagte sie, weil der schöne Mann schwieg, und suchte in ihrem Kopf nach den richtigen Worten. „Sie sehen schön aus.“, erschien ihr falsch, und so sagte sie gar nichts.

Als der schöne Mann die Hand ausstreckte, war die A. nicht einmal überrascht. Mit geschlossenen Augen überließ sie sich seinem Griff. Er roch, sagt die A., ebenso gut, wie er aussah, und seine Lippen waren fest und weich.

Bestimmt vier oder fünf Minuten küsste die A. den schönen Mann vor den Toiletten. Dann trat sie einen Schritt zurück. Man würde die A. vermissen, fürchtete sie, wenn sie jetzt nicht kam, und so lächelte sie den schönen Mann noch einmal an, verabschiedete sich dann mit einer gemessenen Neigung des Kopfes, ging zum Tisch mit ihrem Mann und den Russen zurück und sah den schönen Mann nicht mehr an den ganzen restlichen Abend.

Auf kleiner Flucht

Dass der B. sich gar nichts habe zuschulden lassen kommen, wie er behauptet, ist sicher Ansichtssache, aber zumindest ich glaube diesem an sich ruhigen und angenehmen Herrn, Rechtsanwalt im Berliner Büro einer international operierenden Kanzlei, dass fremde Frauen bei seinen Verfehlungen keine Rolle gespielt haben. Auf den ersten Blick aber, dies müssen auch seine Freunde einräumen, sah es ganz und gar nicht danach aus.

Aufgekommen ist die ganze Sache anlässlich eines Anrufs seiner Frau. Diese wähnte ihn auf einer dienstlich veranlassten Reise nach Duisburg und wunderte sich wegen der behaupteten langwierigen Verhandlungen kaum, dass sie ihn letzten Dienstag so gegen elf Uhr morgens nicht erreichte. Sie rief ihn also einmal an, sie rief zweimal an, und als er dann immer noch nicht abhob, rief sie seine Sekretärin an. Sie habe ihren Schlüssel in der Wohnung vergessen, sei nur kurz einkaufen gegangen und stehe nun mit dem vier Monate alten gemeinsamen Kind vor der verschlossenen Tür. Die Putzfrau sei nicht erreichbar, niemand anders habe einen Schlüssel, und so müsse der B. den seinen einem Expressbotendienst übergeben, denn ansonsten komme sie nicht mehr hinein.

Die Sekretärin wunderte sich. Von Duisburg war ihr nicht nur nichts bekannt. Ihres Erachtens – und dies war zutreffend – hatte der B. sich vielmehr einen Tag Urlaub genommen, und wo er sich aufhielt, war ihr unbekannt. Nicht ohne Skrupel teilte sie diesen Sachverhalt mit. Der Frau des B., frierend im Treppenhaus ihrer Wohnstatt, stockte der Atem. Im Hintergrund des Telefonats brüllte laut und vernehmlich ihr Säugling.

Sie gehe jetzt zu einer Freundin, hinterließ die Frau des B. im Sekretariat, und dann legte sie auf. Sekretärin wie Ehefrau schickten Mail um Mail an den B., riefen vergeblich an und besprachen seine Mailbox, und schließlich meldete sich der Vermisste. Er war nicht in Duisburg. Er war in Potsdam.

Dass Ausreden in einem solchen Fall nicht weiterhelfen würden, lag auf der Hand. Entsprechend versuchte der B. gar nicht abzuleugnen, ein Hotelzimmer gemietet und dort übernachtet zu haben. Dass allerdings die Übernachtung ganz allein stattgefunden habe, glaubt die Frau des B. ihm nach wie vor nicht, und nur diejenigen, die dem B. wirklich wohlwollen, kaufen ihm ab, dass nichts als der Wunsch, sich einmal nach vier Monaten mit dem äußerst geräuschintensiven Kind so richtig auszuschlafen, der einzige Beweggrund dieser Absenz gewesen sei, und selbst von diesen Wohlwollenden haben nur wenige Verständnis für diesen Schritt.

Die Frau des B. weilt vorerst bei ihrer Mutter in Tutzing.

Kleine Freuden der Woche (2)

Tja, sage ich. Auch diese Woche nicht viel. Vielleicht das Stück Torte, das mir meine Sekretärin auf den Tisch gestellt hat nach einem ganz besonders scheußlichen Termin. Oder der lustige Taxifahrer mit seinen Schaschlikgeschichten vom Wintergrillen in Grünau auf dem Weg durch das Chaos aus glitschigen Blättern, viel zu vielen Autos auf der Torstraße und der Dunkelheit, die so dicht scheint, als sei es nicht Luft, die einen umgibt, sondern etwas Festes, Fassbares, das den Raum zwischen den Körpern füllt. Bestimmt aber die Rehkeule vom Sonntag, dunkelbraunes Fleisch mit Trauben und Schalotten, die samtige Sauce aus Fond und Madeira und die Wärme am Tisch. Das Gelächter, der Wein, die Freunde und die kleinen, pointenlosen Geschichten, aus denen die Welt besteht, die wir mögen:

Helle Punkte in einem Meer aus Regen und Nacht.

Kleine Freuden der Woche (1)

„Bleib mir weg mit positivem Denken.“, ächze ich und versuche, den Kopf möglichst wenig zu bewegen. Ich bin Freitag mit dem Rad gestürzt und seither dreht sich mein Gehirn deutlich langsamer als mein Schädel. „Das Wetter ist mies, ich habe zu viel zu tun, nichts mehr zu lesen, und wo das Positive bleibt – das wüsste ich auch gern.“, raunze ich. Dann lege ich auf und überlege. Viel gibt es da gerade nicht. Möglicherweise aber immerhin The Yardley English Lavender Shower Cream, die zuerst riecht wie das Gästebad alter Damen (wegen der von diesen sehr geschätzten Handseifen dieses Hauses), und dann die ganze Duschkabine mit einem zarten, quasi halbtransparenten Lavendelduft füllt, der nichts Betäubendes an sich hat, nichts von dem Über und Über provenzalischer Felder, sondern an einen klaren, gläsernen englischen Morgen erinnert: Gefüllte Rosen, Rittersporn und das sanfte, lila Zittern unter Weißdorn und Clematis, wenn Bienen und Zitronenfalter früh am Tag in Blüten rasten.

Etwas später am Tag die saukomischen Kommentare auf faz.net. Tatsächlich amüsieren die Kommentatoren dieser in gedruckter Fassung eher mittelmäßig erheiternden großen deutschen Tageszeitung mich zu eigentlich jedem Anlass dank einer unwiderstehlichen Mischung krauser Vorurteile gegen alles und jeden, bodenloser Selbstgerechtigkeit und dem festen Glauben an sehr, sehr langweilige Welt- und Wertvorstellungen, die die meist zumindest latent aggressiven Kommentatoren schon deswegen für unanfechtbar halten, weil sie noch nie auf die Idee gekommen sind, die Welt könne von anderer Warte aus anders aussehen. Insbesondere zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund, den 68ern und Kriminalität (gern in Zusammenhang mit vorgenannten Obsessionen) übertreffen sich die Leser dieses schätzenswerten Organs regelmäßig selbst. Leider denke ich nie daran, die besten Kommentare zu sammeln.

Durchaus friedlicher, wenn auch nicht temperamentlos beschreibt Kinta Beevor (Mutter des nicht unumstrittenen Historikers Antony Beevor) ihre Kindheit (A Tuscan Childhood) in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts als Abkömmling der anglo-florentinischen Kolonie. Viele Namen tauchen auf, glanzvoll bis heute, stets wölbt sich der sorglos-südliche Himmel über die grünen Hügel der Toskana, und doch sind es nicht die Actons, Berensons oder Duff-Gordons, nicht ihre italienischen Burgen und Villen, die das bisweilen fast kunstlose Buch erleuchten, denn mehr noch als der Duft der frischen Tortellini, mehr noch als Polenta mit Zicklein und Kastanienkuchen, farbigen Schilderungen der Köchinnen, Gärtner und Steinmetze, des untergegangenen, restlos verschlungenen englischen Florenz, ach: Mehr noch als all das besticht der makellose Glanz einer Zeit vor unserer Zeit, die ich mir – wider allen besseren Wissens – nicht als besser, nicht als angenehmer, aber als harmonischer, in sich ruhender, runder und lächelnder vorstelle als all das, was mich umgibt, um mich täglich zu leeren.