Liebe Freunde

Ein Dackel namens Satan

Leider, berichtet mir die A., sei ihr Schulfreund D. ja vor kurzem verrückt geworden, und werde, spräche sich das herum, wohl demnächst eingesperrt. Ein klein wenig bedauerlich sei schon, dass ausgerechnet sie sich in den Reihen der Werkzeuge des Wahnsinns wiederfinden habe müssen, allein, sie habe mit den besten, wirklich mit den unschuldigsten Motiven gehandelt, denn nichts zeichnet die anima candida ja mehr aus als die Tierliebe. Reine Tierliebe sei es ja gewesen, die sie vor einigen Wochen ihren Freund D. sie ins Tierheim habe begleiten heißen, denn wenig vorher war ihr Kater Samson gestorben, und Katze Tiffy nun ganz allein. Einen neuen Kater habe sie da erwerben wollen, um die Einsamkeit der verwitweten Katze ein wenig zu lindern.

Bei den Katzen wurde man leider nicht fündig. Uralt waren die ausgestellten Katzen, krank oder irgendwie gestört, und unter lauter lästerlichen Mutmaßungen, was wohl mit den gesunden, jungen Katzen passiere, habe sie dem Ausgang wieder zugestrebt. Es sei also der D. ganz allein gewesen, der den verhängnisvollen Rundgang durch das Hundehaus vorgeschlagen habe, und so zog man also eine Runde vorbei an den Verschlägen der Hunde, die keiner mehr haben will.

Zerfällt die Welt in Hunde- und Katzenliebhaber, so gehört der D. ganz klar in die Kategorie der Hundefreunde, und so zog er also im Zickzack durch die Behausungen der traurigen, herrenlosen Hunde, denn noch mehr als die Katzen belastet die Herrenlosigkeit das hündische Gemüt, und die Hunde wedelten mit Schwanz und drückten ihren Schnauzen eng an das Gitter, damit der D. sich ihrer annehme, um sie mit sich zu führen. Der D. allerdings wohnt irgendwo in Mitte in anderthalb Zimmern, an die Anschaffung eines Hundes war vernünftigerweise nicht zu denken, und so floß ihm zwar das Herz über, aber einen Hund mitzunehmen, fiel ihm zu recht nicht ein.

Auf einmal aber warf der D. sich vor der A. erstaunten Augen fast auf den Boden, gab glucksende Geräusche von sich, und streckte die Hände aus nach einem struppigen, ziemlich grauen Dackel. „Das ist ja Satan!“, ächzte er, strahlte, und das Tier kam ganz nah ans Gitter und ließ sich streicheln. „Satan, bist du wieder da!“, jubelte der D. mit durchaus gesteigerter Phonzahl, und der A. wurde ganz anders.

Satan nämlich hatte einst den Haushalt der Eltern des D. bereichert, damals, als die A. und der D. noch gemeinsam zur Schule gingen, irgendwann in den Achtziger Jahren. Ein ausnehmend hässliches Tier sei Satan gewesen, der Inbegriff des widerspenstigen, schwerhörigen und ungezogenen Dackels, der mit wahrhaft zerstörerischem Furor den D.’schen Haushalt einmal ein- und nicht gleichermaßen unbeschädigt wieder ausgegraben habe, aber der D. liebte den Hund und ließ nichts auf den Dackel kommen. Ein paarmal habe der D. sogar versucht, den Hund in die Schule mitzunehmen, dies sei ihm aber vom Lehrer verwiesen worden, und so wartete der Dackel Satan jeden Tag an der Gartenpforte auf die Rückkehr seines jugendlichen Herrn, um ganze Tänze aufzuführen, kam er um die Ecke.

Doch auch Dackel altern, und eines Tages musste man Satan zum Tierarzt bringen, um das arme Tier zu erlösen. Schwere Schmerzen hatte Satan gelitten, war schon ganz buckelig geworden vor lauter Geschwüren und stank aus dem Mund wie die sprichwörtliche Hure Babylon morgens vorm Zähneputzen. Vor dem jugendlichen D. hatte man dies verheimlicht, um eine Vereitelung des Erlösungsplans zu verhindern, denn ohne weiteres, sagt mir die A., sei jener in der Lage gewesen, mitsamt Hund einfach auszurücken, und den Hund unter Qualen und wesentlich langsamer als in der Praxis des Tierarztes irgendwo verenden zu lassen. – Als der D. also nach der Schule nach Hause kam, war der Hund tot.

Heulend und schreiend habe sich der elfjährige D. auf dem Rasen gewälzt, mit den Fäusten auf den Teppich gehämmert, seine Eltern gelästert und Gott verflucht, der es so eingerichtet hat, dass auch Hunde sterben. Vergeblich versuchten de D.’schen Eltern beruhigend auf ihn einzuwirken, versprachen alles mögliche, wenn er nur aufhöre zu heulen, kündigten den Erwerb eines neuen Hundes an und rangen die Hände. Ein neuer Hund aber, so schluchzte der D., komme ihm nicht ins Haus.

Der Hund aber war und blieb tot, und unter einem Fliederbusch grub man Satans sterbliche Reste in seiner Hundedecke ein, ein großer Stein wurde über das Grab gewälzt, und der D. heulte monatelang jedesmal, wenn er an der leeren Ecke vorbeikam, in der in besseren Tagen die Hundedecke gelegen. Manchmal hörte er des Nachts im Halbschlaf Satans Krallen auf dem Küchenboden. Mitten im Unterricht wurde der D. ab und zu ganz sentimental, und ein paar Tränen rannen über seine Wangen. Ganz generell sackten D.’s Schulleistungen dermaßen ab, dass er erst einmal sitzenblieb, und erst ein Jahr nach der A. Abitur ablegte.

„Satan! Satan! Guter Hund!“, jubelte der D. also vor dem Käfig und drehte sich kurz zur A. um. „Satan ist wieder da!“, verkündete er leuchtenden Auges, und die A. murmelte irgendetwas von einer „wirklich ganz erstaunlichen Ähnlichkeit.“ – Konsterniert starrte der D. zurück. Der Dackel aber sah seine Chance gekommen, aus dem Tierheim zu entkommen, lackte dem D. die Hände, sprang wie närrisch um ihn herum und hatte offenbar beschlossen, aus der Verwechslung den allergrößten Vorteil zu ziehen, den Auszug aus dem Tierheim nämlich, und so kam es denn auch: Der D. verließ das Tierheim mit dem Hund, der Hund war’s zufrieden, und nur der A. war ein wenig mulmig bei der Begeisterung, die der D. an den Tag legte.

Im Wagen hielt die A. den Hund auf den Knien, der D. telefonierte mit seiner Mutter, teilte mit, Satan sei wieder da, und beendete das Gespräch recht brüsk, als die Mutter sich dem Wahrheitsgehalt dieser Behauptung offenbar nicht so aufgeschlossen zeigte, wie der D. es sich vorstellte. „Wir zwei verstehen uns, gell?“, tätschelte er statt dessen dem Dackel den Kopf und enteilte vor seiner Tür mitsamt dem Hunde.

Ob die Hoffnungen des ehemals herrenlosen Dackels sich aber im Haushalte des D. wirklich voll und ganz erfüllt haben, steht zu bezweifeln, denn 60 Qaudratmeter, die einem berufstätigen Single gehören, dürften nicht gerade ein Hundehimmel sein, und so begann Dackel Satan, die Inneneinrichtung des D. langsam zu zernagen. „Immer noch so ungestüm wie immer!“, ließ sich der D. nicht irremachen, und engagierte einen Russen, der täglich mit Satan spazierenzugehen hat, und widmet sich in seiner Freizeit ausführlich dem Hunde. Demnächst, so ist zu vernehmen, plane er den Hund in seinen Heimatort zu Besuch mitzunehmen, wo er, so hofft zumindest die A., in hundegerechter Umgebung auch verbleiben werde. Ob nun als Wiedergänger oder als Nachfolger jenes seligen Satan sei letztlich natürlich völlig egal. Sie habe aber, so teilt die A. mit, die ihr wohlvertraute Mutter des D. einmal angerufen und ihr eingeschärft, die Identität mit dem verstorbenen Hunde auf keinen Fall zu bezweifeln, denn ansonsten werde der D. gegenwärtig ziemlich störrisch.

Der Haxnfresser

„Wie stehe ich denn da, wenn du das schreibst?“, ringt die B.² am anderen Ende der Leitung hörbar die Hände, und so ist es mir eine Pflicht, bereits an dieser Stelle rein prophylaktisch anzumerken, dass die B.² so etwas ansonsten wirklich nie tut und sich eigentlich immer so korrekt benimmt, wie es ihrer guten Erziehung in einer konfessionellen schwäbischen Mädchenschule entspricht. Die B.² kann man eigentlich überall hin mitnehmen, und ihr Benehmen entspricht vom dunkelblonden, wohlfrisierten Kopf bis zu den dezent beschuhten Füßen voll und ganz dem Leitbild einer reizenden, eloquenten und charmanten Dame, die so gut wie nie aus der Rolle fällt, außer am letzten Donnerstag eben, und das kam so:

Die B.² sucht ja inzwischen schon etwas länger einen Gefährten, einen netten Herrn eben, für nachts und tagsüber auch, und, wenn möglich, diesmal für immer. Berlin indes ist kein gutes Pflaster für die Jagd nach einem ständigen Begleiter, denn der männliche Berliner wird mit zunehmendem Alter nicht etwa häuslicher, sondern bloß neurotischer, und nicht selten bekommen ansonsten nette Leute allein von dem Gedanken an eine feste Beziehung lebensgefährliche Erstickungsanfälle und einen abstoßenden Ausschlag. Dass die meisten männlichen, studierten, berufstätigen, ungefähr dreißigjährigen Berliner deswegen allzu oft keine Beziehung, sondern nur eine unverbindliche, wenn auch intime Bekanntschaft suchen, nimmt deswegen uns, die wir erfahren sind in den wüsten Gewässern der Großstadtpsyche, auch nicht weiter wunder. Es ist also ein etwas ermüdendes Geschäft, die Suche nach dem Mann des Lebens, und der Verzehr von Haxn ist beileibe nicht der größte Fehler, den ein Kandidat aufweisen kann. Die aktuelle Bekanntschaft der B.² aber mag am Donnerstag abend vielleicht wirklich an einer Haxe gescheitert sein.

Eine Haxe nämlich bestellte derjenige Herr, den die B.² bereits in der Vorwoche einmal zum Tee getroffen hatte, in einem Gartenlokal, wo man derlei Dinge essen kann, irgendwo im Westen der Stadt. Die B.² kam direkt von der Arbeit, auch der nette Herr kam direkt aus dem Büro, und so saßen sich die beiden unter blühenden Bäumen gegenüber. „Eine Haxe!“, bestellte der Herr und erzählte von den derben Genüssen seiner Heimat. „Ein großer Salat mit Fetakäse und Oliven!“, bestellte die B.². – „Die Haxe kann ein bißchen dauern.“, kündigte die Kellnerin an, man bestellte deswegen direkt erst einmal ein Bier als Aperitif und erzählte sich allerlei Nettigkeiten, wie es Leute tun, die sich zum zweitenmal treffen und vielleicht verlieben möchten.

Es wurde langsam dunkel, die Biergläser waren leer, man verstand sich bestens und bestellte eine weitere Runde. Einen reizenden Dialekt sprach der Begleiter, und erzählte allerlei Nettes über weite Reisen und seinen Hund. „Gleich kommt die Haxe.“, versprach die Kellnerin, und stellte eine weitere Runde Bier auf den Tisch, die der Begleiter geordert hatte, dessen Großvater einmal eine Brauerei hatte, von der er erzählte. Seit dem Mittagessen – einer Rainbow Roll in Mitte – war es sieben Stunden her. Der Dunst des Bieres vernebelte der B.² Gehirn, und auch ihr Gegenüber wurde zunehmend lauter, gesprächiger, lachte die ganze Zeit und gefiel der B.² eigentlich ganz gut. Dann kam das Essen.

Ein gigantischer Salat, gekrönt von einem Berg Käse und Zwiebelringen, ungefähr ein Glas Oliven obendrauf, stand vor der B.². Vor ihrem Begleiter aber stellte die Kellnerin eine riesige Haxe ab, ein unförmig und rotbraun gebratenes Stück Tier aus Knochen und Fleisch, groß wie ein Volleyball und umgeben von einer knusprigen, festen Schwarte aus reinem Schweinefett. „Hmmm..“, machte der Herr, ergriff die Haxe mit beiden Händen und führte sie zum Mund. Krachend schlugen seine Zähne durch die Schwarte und gruben sich tief in das weiße, glänzende Fett. Die B.² stocherte ein bißchen in ihrem Salat, der bis auf das Fertigdressing von Develey ganz in Ordnung war, die Zwiebelringe vielleicht etwas dick geschnitten, und sah ihrem Begleiter beim Essen zu. Die fettigen Rinnsaale, die über die Schwarte flossen. Das rote Fleisch und der weiße, an den freiliegenden Enden der Haxe braungebratene Knochen. Das Geräusch, mit dem die Kruste der Schwarte brach. – Es grauste die B.² ein wenig, die schon den Anblick eines Brathähnchen nicht gut verträgt und nur ungern Metzgereien besucht wegen des rohen Fleisches, das in diesen Geschäften in der Auslage liegt. Mit der Zunge fuhr ihr Gegenüber über seine fleischsafttropfenden Lippen, riss riesige Stücke Graubrot mit Kümmel und Salz auseinander, stopfte sie dem Fleisch hinterher und spülte all dies mit Unmengen Bier hinunter. Das Bier immerhin schmeckte auch der B.². „Noch zwei Maibock!“, bestellte der Begleiter zwischen zwei Bissen, und Maibock ist ein ganz besonders starkes Bier.

„Magst du auch noch was trinken?“, fragte der Haxnfresser eins ums andere Mal, und die B.² nickte. Es war ihr schon ein bißchen anders, die Bäume ragten ein wenig schief in ihr Bewusstsein, der Boden war nicht ganz so fest, wie er es ansonsten zu sein pflegt, und am Salat war ihr der Appetit vergangen angesichts des unglaublichen Mahles ihres Begleiters. „Schmeckt’s dir nicht?“, erkundigte sich dieser, und deutete auf ihren Salat. Die B.² redete sich auf das Fertigdressing heraus und wartete auf das Ende der Mahlzeit ihres Gegenüber. Währenddessen trank sie weiter und stieß mit dem Haxnfresser an auf den Sommer, auf Berlin, auf den bierbrauenden Großvater und den Tegernsee und auf alles Mögliche, was die B.² bierbedingt sofort vergaß.

Schließlich wurde abgeräumt. Erleichtert sah die B.² den abgenagten Knochen verschwinden, der Haxnfresser aß noch ein bißchen Bauernbrot, und der ungegessene Salat wurde gleichfalls abgetragen. Der Begleiter, nun wieder mit leerem Mund, sprach über die Kunst, wie es sich gehört, wenn man Damen beeindrucken möchte, und das Gespräch glitt zunehmend ins Intime. Die Gesprächspausen wurden länger, und irgendwann strich der Haxnfresser der B.² übers Knie und näherte mit gespitzten Lippen sein Gesicht dem ihren.

Die B.² sah ihn an. Fettig glänzte sein Mund, sein Atem roch nach gebratenem Schwein, und die B.² wollte auf einmal nur noch nach Hause. Der Begleiter atmete der B.² die Haxe entgegen, und die B.² drehte den Kopf weg. Ihr war übel. „Lass mich kurz…“, lief die B.² in die Gaststätte hinein und fragte hastig nach den Sanitäranlagen. Die Treppe abwärts und dann links, erklärte man ihr, und die B.² beeilte sich. Ihr war zum Sterben schlecht. Fast wäre sie die Treppe hinuntergefallen, denn das Geländer schwankte und bog sich unter der Macht des Alkohols.

Hinter der verschlossenen Tür unterhalb der Treppe aber wollen wir die B.² nicht stören, denn nicht schön sind Damen, die viel zu viel Bier getrunken haben, und Haxn auch dann nicht gut vertragen, wenn andere Leute sie essen. Bestimmt eine halbe Stunde saß die B.² verzweifelt und betrunken in der Kabine herum und versuchte, ihren bierumfangenen Geist zu sammeln. Mit dem Bier vermischte sich der ganze Jammer der B.², die schon ein bißchen zu lange nach einem warmen Arm um die Schulter sucht, um derlei Ereignisse mit einem Lächeln abzutun, und so saß sie in der verschlossenen Kabine und schluchzte leise, weil es die Liebe für manche Leute vielleicht gar nicht gibt.

Irgendwann klopfte es. Der Begleiter rief die B.² bei ihrem Namen, einmal, zweimal, aber die B.² blieb stumm und fühlte sich elend. „Geht’s dir auch gut?“, fragte der Haxnfresser, aber der B.² ging es gar nicht gut und so schwieg sie vor lauter Traurigkeit und Scham. Dann ging der Haxfresser und ließ die B.² allein. Irgendwann stieg auch die B.² die Treppe wieder hinauf. Der Haxnfresser war weg.

„Junges Fräulein!“, fasste die Kellnerin die B.² an der Schulter und überreichte ihr einen Zettel. Der Haxnfresser hatte ihn verfasst:

„Liebe B.², es tut mir wirklich leid, da habe ich wohl die Situation falsch eingeschätzt. Sei mir bitte nicht böse. Danke für den trotz allem schönen Abend. Ich rufe dich morgen an, wenn ich darf.“

Krank und unglücklich fuhr die B.² nach Hause und legte sich ins Bett. Als der Haxnfresser am nächsten Abend anrief, war sie nicht daheim. Ob sie den Haxnfresser aber zurückruft, dass weiß sie noch nicht, denn sehr peinlich ist der B.² die ganze Geschichte, der so etwas sonst nie passiert , denn die B.², um noch einmal darauf zurückzukommen, trinkt sonst selten so viel und weiß sich eigentlich immer zu benehmen. So gut wie nie trinkt sie Bier, mit einem Haxnfresser war sie noch nie aus, und das wird vielleicht auch in Zukunft wieder so bleiben.

Die A. heiratet

„Huhu, Modeste!“, jubelt die A. aus dem Hörer und teilt ungeheuerliche Neuigkeiten mit: Sie werde heiraten

„Herzlichen Glückwunsch!“, jubele ich höflich zurück, die ich zur Ehe ein ähnliches Verhältnis hege wie zum Berufsbeamtentum, und ebenso, wie ich so gut wie jedem Beamten automatisch eine Art Sicherheitsneurose unterstelle, habe ich den Sinn der Ehe, zumal der kinderlosen Ehe, nie recht nachvollziehen können.

„Das ist ja eine recht plötzliche Entwicklung.“, sage ich, weil mir nichts anderes einfällt, und die A. erzählt mir folgende Geschichte:

Vor einigen Monaten, so ungefähr Ende Januar, begab es sich, dass die A. irgendwo in Mitte einen gutgewachsenen Knaben auflas, Bildhauer, 30 Jahre alt, und ihn in der Folgezeit verhältnismäßig häufig in seiner Wohnung besuchte. Er habe sogar Vorstudien betrieben, um das Antlitz der A. in Metall zu gießen, man ging essen, trinken, und verstand sich insgesamt prächtig.

Leider fand der Lebensgefährte der A. den Bildhauer nicht in derselben Weise sympathisch wie die A. selbst. Ein gemeinsames Essen im Kreuberger Cochon Bourgeois hatte nicht den von A. erhofften Effekt einer frendschaftlichen Annäherung zwischen ihrem Freund und dem Bildhauer, die sich offenbar gegenseitig von Herzen widerlich fanden, und eines Tages, so die A., sei ihrem Freund die Hutschnur gerissen. „Und da hat er mir einen Heiratsantrag gemacht!“, fährt sie fort. Sie habe sofort angenommen.

„Und was passiert jetzt?“, frage ich und gieße mir eine weitere Tasse Tee ein. „Was soll da schon passieren?“, fragt die A. zurück. Man werde heiraten, so richtig mit Pfarrer und Kirche in Baden-Baden, für die Berliner gebe es einen schönen Empfang, und den Bildhauer, den Bildhauer werde sie auch einladen.

Wenn er im September noch aktuell sei, natürlich.

Die Einweihungsparty

„Kennst du den da drüben am Sofa?“, stößt mich mein Nachbar vor dem Tisch mit den vielen Flaschen an und misst sorgfältig drei Messbecher Triple Sec ab. „Nein? Musst du kennenlernen. Brillanter Kopf. 14 im Ersten, im Zweiten auch nicht weniger, und von seiner Diss kann man Depressionen kriegen, so als Normaldoktorand. Dabei ein richtig netter Junge, mit dem man auch mal gut sein Bier trinken kann. Seine Frau übrigens auch, feiner Kerl, da drüben vor der Badezimmertür. Die blonde mit der randlosen Brille. – Nein, die mit den kurzen Haaren. Mit der war ich ja im Referendariat, wir hatten eine richtig gute Zeit damals bei Schinder, Knochenbrecher & Partner im Referendarzimmer. Wäre nix für mich auf die Dauer, für den Job musst du ja richtig brennen, gell, aber so für’n halbes Jahr, sehr okay. Auf die Dauer tut’s aber auch ein kleinerer Laden. Ist auch nicht das schlechteste, mittelgroße Boutique, vier Standorte bundesweit. Im Berliner Büro sind wir nur zu fünft. In Berlin gibt’s ja nichts zu verdienen, da kommt alles von außen, das Geld, die Mandate sowieso. Lausige Gehälter an und für sich, aber Berlin kost‘ ja nichts.“

„Den werd‘ ich morgen verfluchen.“, deutet mein Nachbar auf den Inhalt des Cocktailshakers und rückt seine Brille gerade. „Das ging früher irgendwie besser. Heute hängt mir so ein Abend tagelang nach. So nett das ist, das kann man nicht jede Woche machen. Unter der Woche ist sowas sowieso nicht drin, da kommt man abends um neun aus der Kanzlei, und dann haut man sich nur noch aufs Sofa. Fernseher an, Zeitung, Glas Wein wenn’s hoch kommt, aber wenn man’s anders haben wollen würde, würde man ja, sage ich mir immer. Wir wohnen ja eigentlich mitten drin, da muss man ja nur aus der Tür.“, mein Nachbar deutet mit der Hand einmal vage Richtung Mitte, und gießt streng nach Rezept irgendwelche Säfte und Spirituosen in den Shaker.

„Schöne Wohnung haben sich die beiden gekauft, ganz modern, fehlt ein bißchen der Altbaucharme, aber die Lage wiegt das auf. Meine Güte, jetzt noch am Kollwitzplatz kaufen. Weißt du, was die gezahlt haben? Weißt du auch nicht. Würde ich auch nicht verraten an deren Stelle. Wir sind ja mit € 230.000 weggekommen, aber eben auch die Tram vor der Tür. Hat seine Vorteile. Hat aber auch Nachteile, besonders wenn man schlafen will.“

„Sieht irgendwie anders aus, als man’s kennt.“, füllt mein Nachbar die rötliche Flüssigkeit aus dem Shaker in zwei Gläser und probiert. „Schmeckt aber nicht übel. Nicht ganz wie im fluido, aber schon in Ordnung. Kennt ihr das fluido? Seid ihr da oft? Da um die Ecke habe ich mal gewohnt, regelmäßig versackt in dem Laden. Schöne Zeiten waren das, 2001, 2002. Die hatten’s schon raus, ist ja auch deren Job. Für meinen ersten Cocktail aber nicht schlecht. – Cheers. Auf die Gastgeber.“

Wir stoßen an.

„Schöne Party ist das hier.“, meint mein Nachbar und deutet mit der Hand auf zwei Paare, die im Wohnzimmer knoten: „Wird sogar getanzt. Sollte man öfter mal machen.“

Die Vogelgrippe und der Fußkrebs

Ihnen, mein sehr verehrtes Publikum, habe ich heute eine traurige Mitteilung zu machen: Der geschätzte ehemalige Gefährte, der vielgeliebte, gutaussehende und amüsante J. liegt leider ausgerechnet an seinem heutigen ungefähr 31. Geburtstag im Sterben und wird, während ich diese Zeilen schreibe, in seiner Wohnung am Helmholtzplatz von der Vogelgrippe dahingerafft.

„Würdest du mich sehr vermissen, wenn ich tot wäre?“, röchelte es ungefähr vorgestern aus dem Hörer, und der J. erläuterte mit ersterbender Stimme alle jene Symptome, die zweifelsfrei auf das nahende Ende eines Opfers der Vogelgrippe hindeuten. Schnupfen zum Beispiel. Gliederschmerzen und so ein allgemeines Unwohlsein, ich könne mir das vielleicht nicht so vorstellen…ihm sei zum Beispiel ziemlich kalt, und nachts würde er schwitzen.

„Es ist noch kein Berliner an der Vogelgrippe gestorben.“, beruhigte ich den geschätzten ehemaligen Gefährten, und deutete an, dass auch jene harmlose Erkrankung, welche die Welt eine „Erkältung“ nennt, sich in jenen eher diffusen Symptomen äußert. Überdies, versuchte ich, meiner Stimme einen festen und überzeugenden Klang zu verleihen, gehöre es doch nicht zu den Gewohnheiten des J., engen Verkehr mit gefiederten Wesen zu pflegen. Habe der J. in letzter Zeit einen Schwan gestreichelt? Leben in seiner Wohnung von mir bisher unbemerkte Hühner? Wurden flüssige Eier geschlürft, oder infiziertes Wildgeflügel roh verschlungen? – Ich nähme seine Beschwerden nicht ernst, entgegnete leicht gereizt der J. und beendete das Gespräch. Am Abend indes war er immer noch am Leben.

„Mach dir keine Sorgen!“, wiegelte ich also die fortwährenden Befürchtungen des J. ab und erinnerte an eine Vielzahl möglicher Todesursachen in den letzten zehn Jahren, die sich samt und sonders als harmlose Erkältungen oder gar als Zustand völliger Gesundheit entpuppten. Selbst die regelmäßige prophylaktische Einnahme eines Antibiotikums über den Zeitraum mehrerer Jahre, mit dem man gemeinhin Lungenentzündungen bekämpft, erwiesen sich als außerstande, die Rossnatur des geschätzten ehemaligen Gefährten zu zerrütten, dessen Familienmitglieder alle steinalt werden, wenn es sie nicht gerade an den Alleebäumen seiner niedersächsischen Heimat zerlegt. „Erinnerst du dich an das Dengue-Fieber?“, halte ich dem J. einen besonders spektakulären hysterischen Anfall vor, der erst im Bangkok Nursing Home ein Ende fand, als ein streng blickender Arzt dem hyperventilierenden und kreidebleichen J. verkündete, er sei nach medizinischen Maßstäben gesund. „Hast ja recht.“, konzedierte der J., Abkömmling einer ganzen Dynastie von Hypochondern, und 24 Stunden vergingen, bevor ich erneut mit dem Gesundheitszustand meines geschätzten ehemaligen Gefährten konfrontiert wurde.

„Herzlichen Glückwunsch, Lieblings-Exfreund!“, gratulierte ich gestern nacht also dem J., und drückte ihm eine Flasche Sekt in die Hand. Von der Vogelgrippe war vorerst nicht mehr die Rede. Plaudernd und trinkend saßen wir also auf dem Sofa des J., und jener hustete ab und zu dezent zur Seite. Auf einmal aber wurde der J. still und betrachtete entsetzt seinen rechten Fuß.

„Ist irgendwas?“, fragte ich und schaute ebenfalls seine Füße an, an denen keinerlei Auffälligkeiten sichtbar waren. „Siehst du das?“, wandte sich der J. an mich und deutete auf den Spann. „Da ist doch irgendwie…diesen Höcker habe ich auf der anderen Seite nicht. Das fühlt sich auch ganz komisch an!“ – der J. betastete seine Füße und schaute mich sorgenvoll an.

„Fußkrebs, ganz klar.“, seufzte ich auf und hob mein Glas auf seine Gesundheit.

Das tibetanische Steinsalz

Nichts Essbares ist Ihnen fremd, Sie können mit verbundenen Augen die weißen Trüffel des Piemont von ihren Lombardischen Verwandten unterscheiden, die teuerste Trinkschokolade Berlins von Domori war Ihnen schon 2003 € 18 wert, und Sie trinken seither keine andere mehr. Sie hatten schon vor fünf Jahren indischen Gin in ihrem Schrank, und wissen heute schon, welche walachischen Winzer nächsten Sommer ganz groß rauskommen. Ihre Freunde lieben Sie für die Qualität Ihrer Gelage und halten respektvoll den Atem an, wenn Sie zu Gast sind und irgendetwas essen. Wenn aber Ihnen jene Menschen, die Sie Ihre Freunde nennen, auch nur eine einzige der schokoladenüberzogenen Kaffeebohnen von Sawade, nur ein einziges Eclair bei Albrecht in der Rykestraße wert sind – dann, oh mein teurer Leser, geschätzte Leserin: Dann lassen Sie gefälligst Ihre Freundinnen zu Hause, wenn Sie einkaufen gehen.

Aber fangen wir von vorne an:

„Magst du mitkommen, ein paar Besorgungen machen?“, säuselt die D. also in den Hörer und lockt ihre liebe Freundin Modeste an einem Dienstagmorgen um halb elf aus dem warmen Bett auf der Jagd nach der Königin des Natriumchlorids, der weißen Lilie aus dem Zaubergarten mineralischen Wohlgeschmacks, kurz – auf der Jagd nach dem tibetanischen Steinsalz.

„Selber schuld, wer mitkommt.“, entgegnen Sie mir? Soll, denken Sie, doch einfach ablehnen, wer es nicht ernst meint mit der Suche nach wahrhaftem Genuss? Mit so etwas muss man einfach rechnen, wenn man mit Frau D. einkaufen geht? – Dass aber ein Spaziergang durch einfach alle Feinkostgeschäfte einer Dreimillionenstadt auch für die in allen Stahlgewittern der Feinkostbeschaffung hartgesottenen Menschen in dieser Form nicht ohne weiteres vorhersehbar war, das, liebe Leser, das sollte jedem anständigen Menschen ohne weiteres einleuchten.

Ins Lafayette, in Ordnung, und auch das Fräulein Modeste hat schon manche Stunde vor den Vitrinen der Pâtisserieabteilung verbracht, den letztjährigen Staatshaushalt der Republik Burkina Faso an der Käsetheke verbraten und ganz hinten in der Ecke beim Fisch mehr Austern gegessen, als für irgendeinen Menschen gesund sein kann. Eine Epicerie gibt es auch, „Fleur de Sel“ kann man da aus einfach allen Gegenden Frankreichs kaufen, in ansprechenden Leinensäckchen mit Seidenschleifchen zugebunden, ein paar Gläschen mit grobem Meersalz und einige gutaussehende Streuer. Wenn die D. aber an dieser Stelle dieses Ausflugs ihre liebe Freundin Modeste beobachtet haben würden, wie sie ein wenig gelangweilt vor der Theke mit den Konfitüren steht, dann würde sie schon in diesem frühen Stadium des Ausflugs bemerkt haben, dass ein Salzkauf an Ort und Stelle eigentlich eine ganz gute Idee gewesen wäre.

„Wo willst du denn jetzt noch hin?“, ist eine eigentlich auch kaum mehr missverständliche Äußerung eines gewissen Überdrusses der jeweiligen Begleitung an der jeweiligen Situation, und wer dann noch weiterzieht, das Hawaiianische Meersalz in einem kleinen Gewürzgeschäft verschmäht und afrikanisches Meersalz in der dekorativen Frischebox mit exklusivem Holzlöffelchen aus ungeklärten Gründen für unzureichend erklärt, der hat es nicht besser verdient, als jene an sich und meistens von mir hochgeschätzte Dame, die in dem ungefähr achten Geschäft, das irgendwo in Berlin Mitte Salz und Gewürze anbietet, sich auf einmal ihrer Meisterin gegenübersah.

Die Meisterin war leider nicht ich. Ich, zermürbt von der Reise durch die leuchtenden Gefilde des Salzes, stand schweigend und ein wenig bockig zwischen den beleuchteten Regalen und fühlte mich ein wenig wie eine Achtjährige, die ihre Mutter beim Schuhkauf begleiten muss. So rein äußerlich war das meisterhafte an der Meisterin, welche die Position einer Verkäuferin in diesem Geschäft einnahm, übrigens nicht allzu aufdringlich sichtbar. Hochgewachsen war sie natürlich, wie es Meisterinnen zukommt. Blond, mit schönen, goldenen Ringen in den Ohren, und mit einem so strahlend weißen seidigen Oberteil angetan, wie es sich für eine Priesterin des Salzes gehört.

„Muss es tibetanisch sein?“, frug die Meisterin, und meine Freundin schüttelte den Kopf. „Wir führen verschiedene Salzsorten aus dem Himalaya!“, flötete die Meisterin weiter, und ihre Kundin spitzte fast sichtbar die Ohren. „An welche Konsistenz hatten sie gedacht?“, führte die Meisterin das Verkaufsgespräch in immer konkretere Bahnen, und schwenkte mehrere Steingutgefäße, in denen sich Salz verschiedenen Mahlungsgrades befand. „Wir bieten dieses tibetanische Rosésalz an. Elegante Knusprigkeit, dezenter, vornehmer Geschmack. Besonders angenehm zu rotem Fleisch, harmoniert aber auch mit Gemüse.“ – „Hm.“, stand Frau D. der Meisterin unschlüssig gegenüber und nahm ihr die Dose aus der Hand. „Alternativ dieses sehr ergiebige Salz, ausgesprochen blutvoll. Kräftige Ausstrahlung, ein Torero, wenn sie wissen, was ich meine.“ Mit einer Dose Salz in jeder Hand stand meine Begleitung der Meisterin gegenüber, die weitere Behältnisse aus den Regalen nahm.

„Ein eher zurückhaltendes Salz aus Japan. Sehr gradlinig, subtil. Hoher Mahlungsgrad, eine feine Puderigkeit. Denken sie an ein fernöstliches Rokoko. – Und hier, ein englisches Salz. Maldon. Traditionsunternehmen seit 1882. Das ist so rein, das eignet sich hervorragend für`s Finish am Tisch. Oder dieses australische Salz, pfirsichfarbene Auswaschung. Besonders mild.“ – Bewundernd signalisierte meine Freundin der Meisterin Zustimmung.

„Ich geh` kurz eine rauchen.“, meldete ich mich ab und verließ das Geschäft. Hinter der Scheibe sah ich die Meisterin auf meine Freundin einreden, immer weitere Schmuckdosen, Holzgefäße, Leinenbeutel und Metalldöschen aus den Schränken ziehen, und meine Freundin nickte, nickte und nickte.

„Können wir jetzt los?“, unterbrach ich, als die Zigarette fertig geraucht war, und der Strom des Salzes immer noch kein Ende zu nehmen schien. „Einen Moment, Modeste.“, wurde ich abgewiesen, und erst, als wirklich alle Produkte, die das Geschäft zu bieten schien, einmal durch die Hände der Verkäuferin gegangen waren, schritt meine Freundin an den Kassentisch, zückte ihre Kreditkarte, und die Meisterin packte Salz für € 33,68 in eine ansprechend bedruckte Papiertüte.

„Für sie habe ich auch noch was!“, wandte sich die Meisterin beim Verlassen des Geschäftes erstmals an mich. Neben dem Kassentisch stand die Priesterin des Salzes, griff in eine Schublade und überreichte mir ein Zehn-Gramm-Döschen apricotfarbenen afrikanischen Salzes mit handgeschriebenem Etikett. „Zum Probieren.“, winkte die Dame uns hinterher.

„Nie wieder.“, stöhnte ich auf, als sich die Tür hinter uns schloss. „Die Frau versteht ihr Geschäft.“, sprach die D., warf einen zufriedenen Blick in die Tüte, und wir gingen.

So etwas, dachte ich bei mir, auf dem Weg die Friedrichstraße hinunter, so etwas sollte man seinen Freunden niemals antun.

Und das sage ich auch Ihnen. Und ich meine es ernst.

Some snapshots of a night

Vom „LassunsFreundebleiben“ dann doch zur B., und auf ihrer Spüle sitzt eine Rumänin mit wunderschönem, rostrotem Haar, die ein Chanson ihres russischen Geliebten singt. „Das klingt schön.“, rufe ich ihr über den Rauch und die Stimmen hinweg zu und frage, worum es geht. „Da stirbt ein Kind am Benzinschnuffeln.“, antwortet statt ihrer ein blasser, schlanker Junge, der eine Bierflasche mit den Zähnen öffnen kann wie die Bauarbeiter, die vor Jahren das Haus gegenüber sanierten, als wir noch in Friedrichshain wohnten, der J. und ich.

„Geht’s dir gut?“, tätschelt die B. mir die Schulter und fragt nach Urlaubsplänen. Doch wieder Thailand, sage ich, male ihr und mir die riesengroßen Litschis aus, gekühlte Kokosnüsse am Strand, und das saftige Grün des Dschungels, platzend vor Chlorophyll. Mit der Rumänin auf den Schultern läuft der russische Geliebte ein paarmal um die Küchentisch, und sie ruft der B. irgendetwas zu, was ich nicht verstehe. „Kannst du rumänisch?“, frage ich, und sie nickt. Die B.² schildert irgendeinen absurden Film, und der Junge, der Bierflaschen mit den Zähnen öffnen kann, imitiert einen Schauspieler, den niemand kennt.

Über dem Tisch zerplatzen laut und leise die Pointen, abwechselnd klingeln alle Telephone und rufen zu Parties, die noch besser sein sollen als alle Parties der letzten Nächte. Vor dem Badezimmerspiegel malt sich die B. ein dunkles, verschattetes Blau um die Augen, und in einer Wolke ihres duftenden Puders laufen wir die Alte Schönhauser hinunter, fahren irgendwohin, und ich trinke viel zuviel Gin Tonic, lehne den Wodka ab diese Nacht, und lasse mir lauter Geschichten erzählen, die ich auf der Stelle wieder vergesse.

„Wo willst du hin?“, brüllt die B. mir ins Ohr, als ich mir die Garderobenmarke geben lasse, und ich zucke mit den Schultern. „Wo sind wir hier eigentlich?“, frage ich die Taxifahrerin, die dick und blond hinter dem Steuer thront wie ein weiblicher Berliner Buddha. „Dann fahren sie mich besser dahin.“, sage ich auf ihre Antwort, nennen eine andere Adresse und steige, eine Kurzstrecke weiter, aus dem Wagen. Die Fenster sind dunkel.

„Bist du allein?“, frage ich, das Telephon am Ohr, und lasse mir öffnen. „Hey Höllenprinzessin.“, umarmt mich der J.², reibt sich den Schlaf aus den Augen und tappt brillenlos und barfuß in die Küche. „Hier sieht’s aus.“, moniere ich, und J.² murmelt irgendetwas über Verrückte, die mitten in der Nacht andere Leute überfallen. „Du trinkst jetzt Tee.“, lehnt er Nachfragen nach Wein ab, nimmt mir die Zigaretten weg und verstaut das halbvolle Päckchen auf seinem Kleiderschrank, unerreichbar für meine 1,67.

„Magst du nicht endlich schlafen?“, fragt er, brüht einen Kräuteraufguss auf, schneidet aus einem Apfel eine Krone wie für ein kleines Kind und hüllt mich in zwei warme, wollige Decken gegen die Kälte, bis ich doch müde werde, und wir uns auf der Couch leise Geschichten erzählen von früher, bevor die Welt so schnell, so laut und grell wurde, wie sie nicht mehr aufhören wird zu sein, solange wir leben.

Kork

Ganz Berlin, so weiß man, will eigentlich die selbe Wohnung beziehen – Altbau, Balkon, Badewanne, in bester Lage, lieber Prenzl´berg als F´hain, aber nicht überall, und so begab es sich, dass auch der J., mein geschätzter ehemaliger Gefährte, auf seiner Wohnungssuche nach der Trennung der Haushalte wie der Herzen einige Kompromisse eingehen musste. Gut geschnitten ist die schlussendlich gemietete Wohnung zwar ohne Frage, bestens gelegen an einem der begehrtesten Plätze des Prenzl´bergs, hinreichend günstig, und mit Stuck und Dielen ausgestattet, wie es das Herz begehrt.

Indes hat auch dieses Paradies seine Schlange. Die Schlange ist aus Kork.

Sitzt man als Besucherin etwa beim geschätzten ehemaligen Gefährten auf dem Sofa, so ahnt man beim erstmaligen Aufsuchen dieses wirklich reizenden Herrn noch nichts von diesem kleinen, aber wesentlichen Manko. Dann aber bietet der Hausherr das erste Bier an, vielleicht brüht er eine Kanne Tee auf, und im Anschluss steht man fast zwangsläufig mitten im Problem. Es befindet sich im Badezimmer: Das Bad ist ganz aus Kork.

„Wie kann,“, so fragen Sie sich als Leser dieser Zeilen, „ein Badezimmer ganz aus Kork sein?“ Eine Pinnwand ist vielleicht aus Kork, eine Dachbodenisolierung meinethalben, ein Badezimmer aber hat gekachelt zu sein, vielleicht halbhoch nur und darüber Tapete, aber Kork ist ganz und gar und völlig falsch. Vielleicht, so denkt man, wären Kacheln sogar in den abstoßenden Farben unserer Kindheit – braun etwa oder erbsensuppengrün – besser als diese Auskleidung mit Kork, die nicht nur die Wände, sondern auch die Decke befallen hat und vor den Scheuerleisten nicht halt macht.

„Was ist denn mit deinem Badezimmer los?“, kann man den J. nach Verlassen desselben fragen, um ihn ein wenig aufzuziehen. „Sie mag mein Badezimmer nicht.“, hört die Besucherin den J. sodann ein wenig enttäuscht vor sich hin murmeln. „Ach was!“, sagen Sie daraufhin am besten und loben die bestimmt fabelhafte Isolationswirkung dieses Bades, das es dermaleinst vielleicht dem J. erlauben wird, einen mit schmutzigen Waffen geführten Krieg ein paar Tage länger zu überleben als unsereins.

Überhaupt – Kork, so können Sie den J. über den nächsten Getränken auf seinem Sofa vor sich hin plaudern hören. „Kork“ sei doch eigentlich gar kein unschönes Wort, und nur unschöne Worte würden unschöne Dinge bezeichnen. „Rohrzangenschraube“ etwa – wer stellt sich darunter etwas Nettes vor? „Erlaubnistatbestandsirrtum“ – das riecht doch schon nach Problemen, Strafrechtshausarbeiten im dritten Semester und überhaupt nach Ärger und unfreiwillig durchwachten Nächten. „Kork“ dagegen…

Sogar als Vorname, so fährt der J. fort in seiner Badezimmerapologie, sei „Kork“ gar nicht einmal übel. „Kork – kommst du mal?“ oder „Kork, wenn du nicht aufisst, gibt es keine Schokolade.“, höre sich doch gar nicht so schlecht an, geradezu normal, so, als wäre Kork ein ganz üblicher Name für ein Kind wie etwa „Michael“ oder „Andreas“. Wir hätten, so der J., wäre es eines Tages soweit gekommen mit uns, unseren Erstgeborenen „Kork“ nennen können, und schon nach drei Wochen wäre uns, wie auch unserer Umgebung, diese Namensgebung als völlig selbstverständlich erschienen.

Wie anders aber, so sinniert der geschätzte ehemalige Gefährte, verhalte es sich etwa mit anderen Namen! „Ulf“ etwa – wer hätte sich jemals an „Ulf“ gewöhnen können. Schon aus reiner Notwehr und Caritas gegenüber dem kleinen Ulf hätte man ihn nicht bei diesem Taufnamen rufen können, sondern hätte ein Pseudonym verwenden müssen, einen Kosenamen, einen Rufnamen eben.

Zum Beispiel „Kork“.

Frau Modeste streitet sich

„Mir geht´s nicht gut.“, jammere ich ein bißchen, und sehe dem J.² zu, wie er sich umständlich aus seiner Jacke pellt. Eine Viertelstunde der Beschreibung von Art und Umfang meiner persönlichen Kalamitäten später schaue ich den J.² auffordernd an und warte auf seine Stellungnahme. „Du erwartest nicht ernsthaft Mitleid, oder?“, kommt es prompt von der anderen Seite des Tisches. „Ich fühle mich wie vom Panzer überfahren, und dich interessiert das nicht?“, wälze ich mich ein bißchen in Selbstmitleid, der J.² aber nickt sichtlich gelangweilt und vertieft sich in die Karte.

„Wenn irgendwer auf Erden seine Probleme von vorn bis hinten selber verschuldet hat, Herzchen, dann dürftest du das sein.“, spricht der J.² über den Rand der Speisekarte hinweg und empfiehlt mir für die Wahl eines Beinamens, wenn ein solcher demnächst wieder einmal Mode werden sollte, „Bulldozer“. Wahlweise auch gerne „Rindvieh“.

„Muh!“, sage ich ein wenig gereizt, und wende mich der Kellnerin zu. „Ein Gin Tonic!“, bringe ich knapp heraus, aber der J.² unterbricht mich: „Ein Bier für mich und einen Pfefferminztee für die Dame.“ Wortlos nickt die Kellnerin und verlässt unseren Tisch. „Du bekommst heute keinen Alkohol.“, meint der J.², „auf irgendwelche melodramatischen Auftritte kann ich gut verzichten.“ „Du bist nicht mein Vater!“, zische ich meinen Begleiter an. „Der hätte gut daran getan, dich auch ein bißchen zu erziehen, und nicht nur zu verwöhnen.“, kommt es postwendend zurück.

In Bezug auf meinen Vater bin ich empfindlich. „Deine Mutter…“, fange ich deswegen an, und der J.² zieht missbilligend die Stirn in Falten. „Meine Mutter ist hier nicht Gegenstand des Tischgesprächs, okay?“, tönt es nun schon ziemlich laut, und über die nun folgenden Auseinandersetzungen fällt an dieser Stelle zu recht der gnädige Mantel des Schweigens.

„Musst du eigentlich so viel rauchen?“, unterbricht der J.² sein allgemeines Lamento über meine Wesensart, und nimmt mir die Zigarette aus der Hand, um die kaum angerauchte auszudrücken. „Aber du bist fehlerfrei, ja?“, keife ich zurück. „Ich habe immerhin eine funktionierende Beziehung.“, stochert der J.² ein bißchen in meinen Eingeweiden, und provoziert ein paar wohlgezielte Bosheiten über seine Freundin. – „Warum gebe ich mir das überhaupt? Wie hält man dich eigentlich aus? Bekommt man einen Orden für jeden Monat Beziehung ohne Mordversuch?“, theatralisch fasst sich der J.² an die Stirn und steht auf. „Du kommst allein nach Hause?“, fragt mein Begleiter, und verschwindet.

„Einen Gin Tonic.“, bestelle ich nun, und blättere ein bißchen in Szerbs „Reise im Mondlicht.“. Ein paar Seiten später ist der J.² wieder da.

„Und? Wieder abgekühlt?“, fragt er, und legt eine Schachtel Halloren-Kugeln vom Spätverkauf auf den Tisch. „Kleiner Trost.“. Ohne den J.² anzuschauen, greife ich nach der Schachtel mit den Süßigkeiten. Blitzschnell zieht der J.² die Schachtel wieder weg und streckt mir einen Apfel entgegen. „Erst ein paar Vitamine. Wir werden ohnehin ein bißchen rundlich in letzter Zeit?“ – Knapp widerstehe ich der Versuchung, ihm den Apfel einfach ins Gesicht zu werfen und greife statt dessen verbal zu schwerem Geschütz.

„Schön, dich mal wieder zu sehen.“, verabschiedet sich der J.² einige Stunden gegenseitiger Beschimpfung später vor meiner Haustür. „Hast du Dienstag Zeit für ein spätes Bier?, fragt er und wendet sich Richtung Bahn“ „Für dich doch immer. Wenn´s geht diesmal friedlich.“, sage ich, und höre im Hintergrund eine Art Hühnerchor höhnisch lachen.

Die A. geht sich amüsieren

Die A. leidet. „Wirklich, Modeste,“, tönt es aus dem Hörer, „ich kann ihm absolut nichts vorwerfen, aber ich kann ihn einfach nicht mehr sehen.“ „Oha.“, sage ich, und klicke ein paarmal den „Refresh“-Button, während die A. sich über ihren Gefährten und Ernährer beschwert. „Er ist ein Engel, wirklich, aber hast du dich schon einmal mit einem Mann so gelangweilt, dass du angefangen hast, zu gähnen, wenn du ihn nur siehst?“, fragt die A., und ich denke ein bißchen wehmütig an den J., mit ich mich keine Minute der gemeinsamen sieben Jahre gelangweilt habe, völlig egal, ob gerade rote Luftballons oder schwarze Gewitterwolken den gemeinsamen Luftraum durchquerten. „Dann trenn´ dich doch endlich.“, liegt es mir auf der Zunge, aber eingedenk der Tatsache, dass man diesen Ratschlag seiner Umgebung unter keinen Umständen erteilen sollte, halte ich den Mund, und höre mir A.´s Lamento geschlagene zwanzig Minuten weiter an.

„Weißt du,“, sagt die A., und knistert mit irgendeiner Substanz, die vermutlich bis gerade eben irgendeiner Süßigkeit als Verpackung diente, „im Grunde brauche ich mindestens zwei Männer.“ „Ganz schlechte Idee.“, entfährt es meinem Munde, und ich weise warnend hin auf die schlechten Erfahrungen hin, die die A. doch erst vor kurzer Zeit mit diesem Modell gemacht hatte. „Ach, der.“, antwortet die A. mit deutlich wegwerfender Geste, kaut ein bißchen auf der soeben ausgepackten Süßigkeit herum, und entwirft statt dessen die Vision einer absolut wasserdichten Planung des neu anzuschaffenden Zweitbegleiters: Sie werde sich ein Hobby anschaffen. Einen Tanzkurs vielleicht. Oder Zeichenstunden.

„Und da jemanden kennenlernen?“, frage ich ein wenig ratlos, der die A. als eine Person bekannt ist, die kaum vor die Tür zu gehen braucht, um von fremden Herren mit Telephonnummern beworfen zu werden. „Ach was!“, zischt die A.: Sie werde da natürlich überhaupt nicht hingehen. „Ach so?“, frage ich, und höre die A. einen ausgefeilten Plan von wöchentlicher Freizeit entwerfen, die sie für einen Abend die Woche von allen Erklärungen freistellen werde, und Raum schaffen werde für alle goldenen Freiheiten außerhalb des eigenen Haushaltes ohne eine einzige lästige Nachfrage.

„Und schon einen geeigneten Kandidaten?“, frage ich die A., und hege ebenso wenig Zweifel an der baldigen Umsetzung des Plans wie am Scheitern der Vision eines komplikationslosen Zweitmannes. – „Noch nicht!“, schmettert die A. fröhlich durch den Hörer. Die Aquise sei indes für Samstag nacht geplant. „Langer Abend, ausgehen, schöne Männer – Modeste, hast du da schon was vor?“

„Ja.“, sage ich, und höre die A. am anderen Ende der Leitung ausgelassen lachen. „Modeste, Spielverderberin.“, sagt die A., und: „Ich rufe dich Sonntag an.“

Fortsetzung folgt.