Über Bücher

Im Entenfett

Sehen Sie hier, meine Damen und Herren, eine mittelalte und mitteldicke Dame in ihrem Nachthemd mit lustigen Volants im Bett sitzen und tippen. Was Sie nicht sehen: Diese Dame, verehrtes Publikum, ist ganz und gar getränkt mit Entenfett wie eine ägyptische Mumie mit Salben und Ölen. Auf dem Nachttisch zu ihrer Linken liegen wahnsinnig viele Bücher, entenfettdurchzogen auch sie, weil in den Regalen nebenan nun endgültig kein Platz mehr ist. Ganz oben liegt Iris Hanikas Treffen sich zwei, das ziemlich gut ist und von der Liebe zwischen einer hysterischen Galerieassistentin und einem Systemberater, beide so etwas über vierzig, handelt, wie die Liebe bei beiden zeitgleich in einem Café in der Oranienstraße zuschlägt, schwierig wird, zwischendurch ein bißchen unmöglich erscheint, und dann ganz klein, leise und schüchtern doch weitergeht.

Auf der Seite des geschätzten Gefährten J. (auch er riecht wahnsinnig intensiv nach Ente) liegt ein weiterer David Foster Wallace, weil der J. gerade im David Foster Wallace-Rausch lebt, und diesen nur unterbricht, um eine Runde an seiner sogenannten xbox zu spielen, die demnächst voraussichtlich kaputt gehen wird, wenn nicht ein Wunder passiert, und der J. von selbst aufhört, diese unwürdige Freizeitbeschäftigung zu pflegen. Möglicherweise, aber damit habe ich nichts zu tun, wird demnächst kaltes, gelbes Entenfett in ihr Inneres gelangen, und dann ist sie hin. Hierbei wird es sich um Zufall handeln, da bin ich mir sicher, denn überhaupt alles hier ist mit Ente … nun, man möchte fast sagen: kontaminiert, und da kann so ein Suppenlöffel Entenfett schon einmal dorthin gelangen, wo man gar nicht mit seinem Auftauchen rechnet.

Die Ente selbst, deren Fettmoleküle die Wohnung gerade ganz und gar durchdringen, existiert indes schon seit so gegen acht nicht mehr, denn nach sieben Stunden Zubereitung

(30 Minuten bei 225°, sechs Stunden bei 80°, und dann nochmal 30 Minuten hochfeuern)

habe ich Brust und Keulen des Tiers auf vier Personen verteilt, die den Fleischteil der Ente nicht restlos, aber doch in den entscheidenden Teilen verzehrt haben, flankiert von Semmelknödeln, Rosenkohl, Rotkohl und einer Portweinreduktion. Dazu gab es einen Pfälzer Spätburgunder und vom Besuch mit Parmesan gefüllte und mit Schinken eingewickelte Datteln vorab.

Der nicht essbare Teil der Ente liegt nun im Abfalleimer. Ein nicht unwesentlicher Teil des Entenfetts dagegen hat sich (um es einmal ganz genau zu erläutern) erst bei zunehmender Erwärmung verflüssigt und ist dann in einen gasförmigen Zustand übergegangen, um sodann in Vorhängen, Bettwäsche, Kleidungsstücken und auf der eigenen Haut wieder zu erstarren: Viel von dem Entenfett durchflockt noch die Luft dieser Wohnung, sackt langsam ab und wird uns und alles, was in der Wohnung ist, in den nächsten Tagen mit einem dünnen, schmierigen Film aus Ente überziehen. Die Ente, so könnte man es vielleicht nennen, hat sich einerseits ausgedehnt, ist aber andererseits auch als Körper im Raum verschwunden.

Ziemlich lange nachdenken könnte man über dieses Verhältnis von Ausdehnung und Verschwinden, gewiss so lange wie David Foster Wallace über das Hummeressen und vor allem -zubereiten in Maine nachgesonnen hat, aber zum Glück neigen mittelalte, mitteldicke Damen mit Volants am Nachthemd nicht zum Nachdenken, zumal dann, wenn das Entenfett nicht nur den Gegenstand so einer potentiellen Überlegung darstellt, sondern ihr auch von innen wie von außen anhaftet, sich absetzend in den Poren ihrer Haut und tiefer vordringend in Hautschichten, in die nicht einmal die kosmetischen Labore gelangen, weil diese halt nicht sieben Stunden lag an etwas herumbrutzeln, und die Dame also nicht nur eine Ente zubereitet und eine Ente verzehrt hat, sondern vielmehr die Ente ist auf eine ganz gewisse Weise, und so wird die Dame, oh verehrter Leser, ihre fruchtlose Überlegungen über Enten nun beiseite legen und sich dem Nachleben des George-Kreises zuwenden und den Entenduft ignorieren, der auch diese Seiten streng durchweht.

(Und vielleicht hilft ja auch ausgedehntes Lüften)

Der Dunst von Indochina

Diese Ungeheuerlichkeit, ein Land nicht einfach zu kaufen, sondern sich zu nehmen, gleichsam aufzuessen und als eigenes Fleisch am eigenen Körper zu tragen. Kleine Beamte aus der Provinz zu Herrschern zu machen, und mit ihnen Frauen zu senden, mit den Frauen Kinder, mit den Kindern Lehrer und all das, was man vermisst, wenn man am Ende der Welt in einem viel zu großen Haus ein viel zu fremdes Land regiert.

Das Land aber lässt sich nicht verdauen, und so wird Indochina nicht ein fernes, wärmeres Frankreich, sondern etwas ganz, ganz anderes, und im Dunst über dem Mekong, in den geschäftigen, schmutzigen Straßen Saigons entsteht eine eigene, unendlich flirrende Welt, über die man uns Schlechtes erzählt, und die wir uns doch schön vorstellen, träge und elegant: Staubige Straßen, Reisfelder, Bambus, Seide und lächelnde Diener. Die Schmerzen sehen wir nicht.

Die Liebe aber bleibt sichtbar. Vielleicht gerade, weil es eine kühle, ihrer selbst kaum bewusste Liebe ist, die die alte Marguerite Duras beschreibt, denn sie, die fünfzehnjährige Tochter der verwitweten Schulleiterin von Sadec ist keine Romantikerin, und was sie mit dem viel älteren, reichen Chinesen verbindet, ist mit S*x zwar nur ungenügend beschrieben, aber Liebe, Liebe in des Wortes reiner Bedeutung ist es nicht. Ein reines Utilitätsverhältnis aber mag man die Liaison auch wiederum nicht nennen, denn mehr als Geld und Lust und Hunger nach dem, was man so Leben nennt mit 15, liegt in der warmen, feuchten Luft dieses Romans, der 1984 erschienen ist, aber in den späten Dreißigern spielt, als die Herrschaft Frankreichs über diesen Teil der Welt schon müde geworden ist, und die Risse im Gebälk tief und sichtbar.

Dass es der Duras gelingt, eine Liebesgeschichte zu schreiben, deren männlicher Protagonist nicht begehrenswert erscheint, ein kraftloser, nicht einmal schöner Sohn, ist eine Kunst und zwar keine geringe. Ganz allein um das Mädchen kreist die Erzählung, die wie zum Hohn „Der Liebhaber“ heißt, als ginge es nicht allein um die Seele des Mädchens, die sich seiner schwächlichen Liebe nicht ergibt: Wie ein Baum einen prächtigen Parasiten tragen kann, eine blühende, tödliche Orchidee, die schillert und wuchert und ihm den Lebenssaft nimmt, so trägt der chinesische Bankierssohn die Liebe und das Begehren des Mädchens auf seinem schmächtigen Körper, und bisweilen erinnert – bei allen Wüsten der literarischen Distanz – dieser Bericht über Leidenschaft und Kälte der eigene Seele an Stendhal, und wie bei jenem liegt unter der gläsernen Klarheit des Wissens um die Regungen des eigenen Ich eine zweite, feine, silbrige Membran, in der sich eine zweite, schwärzere Geschichte spiegelt, die die Duras nicht aufschreibt, und die sich doch erzählt.

Der Stil freilich hält auch mit geringeren Konkurrenten nicht Schritt. Assoziativ malt die Duras Pinselstriche, Tuschezeichen, ein paar Sätze lang und bisweilen rankend ins Entlegene. Ein längeres Buch hätte an diesem Makel gelitten, doch wenn der Chinese lange Jahre später am Telephon über seine Liebe spricht, sind noch keine 200 spärlich bedruckte Seiten vorbei, und wir verlassen Madame Duras mit dem verlegenen Lächeln der Ertappten, auch wenn wir kaum wissen, warum.

Marguerite Duras
Der Liebhaber
1984

Ehe die Träume rosten und brechen

Die Welt dieses wohl berühmtesten Romans der Colette ist 1914 untergegangen. Es gibt die Belle Epoque nicht mehr mit ihrem geschliffenen Kristall, ihren gefältelten Vorhängen, den Fauteuils aus gelber, grüner, granatroter Seide, ihren üppigen Kissen und Chinoiserien und den verschlungenen, haarfeinen Rissen in ihrer Robustheit, die wir bisweilen besichtigen, ohne sie doch ganz zu verstehen.

Zu den Eigenheiten, die wir nur erinnern, nicht mehr nachfühlen, gehört die Heuchelei in der Liebe. Gewiss, wir heucheln, wenn es um Geld geht oder um Macht. In der Liebe indes heucheln wir selten, weil niemand es uns verbietet, unsere Tage und Nächte zu verbringen, mit wem wir wollen. Entsprechend gibt es für junge Männer genügend junge Frauen für einige Nächte, ein paar Wochen oder Monate, und so bedarf es keiner Kameliendamen, keiner Kurtisanen, wenn ein Mann nicht allein schlafen mag, bis er ein junges Mädchen frisch aus dem Kloster heiratet. Die Geschichte der Kurtisane Lea, die mit 49 Jahren von ihrem letzten Liebhaber, Chéri verlassen wird, ist daher heute kaum mehr denkbar: Ein schöner, berückender junger Mann, ein gedankenloser und vor Jugend grausamer Adonis mit frauenhaft langen Wimpern und dem fast unwirklichen Glanz der Makellosigkeit mancher sehr, sehr junger Männer würde heute selten oder nie seine erste Liebe mit einer alternden Frau erleben, die es sich am Ende eines langen Lebens von und mit der Liebe wechselnder Männer erlauben kann, zu lieben, wen sie will, wenn sie nicht erwartet, dass diese Liebe ewig währt. Es wird wohl selten heute eine Liebe sterben, weil die geliebte Frau (und auch Chéri liebt Lea) eines Morgens – gerade als ihr junger Liebhaber zurückkehrt zu ihr – als alte Frau erwacht.

Unsere Ängste sind in diesem schmalen, kaum einen Sommertag füllenden Roman also nicht versammelt: Wenn ich 49 bin, werde ich nicht von einem Mann verlassen werden, der gerade 25 wird. Wenn ich 49 sein werde, kann ich, wie die Dinge liegen, kaum mehr erwarten, von jungen Männern überhaupt noch geliebt und begehrt zu werden, höchstens vielleicht ein wenig gefürchtet und mit Glück geschätzt. Und doch rührt mich die Empfindung, die Trauer um die Fähigkeit, Liebe und Begehren zu erregen, nicht nur wegen der eindringlichen Farbigkeit der Schilderung, der Sensitivität der Colette, die die Farben, die Textur und den Duft jedes Raums, jeder Landschaft mit feinem Pastell verzeichnet, die leisen, oft bösen Akkorde der Gespräche zwischen Personen nicht vergisst, deren keine ihr für das Portrait zu minder erschien, und auch nicht, weil es schwer ist, sich der charmanten und brutalen Attraktivität des Chéri zu entziehen, den man, stelle ich mir vor, im Museum auf den Bildern Caravaggios wiederfindet. Die Rührung beim Wiederlesen dieses Romans rührt vielleicht eher daher, dass der Kern meiner Angst vor dem Alter derselben geblieben sein mag: Diese Kinderangst, zu verschwinden, sich aufzulösen in Luft, unsichtbar zu werden, und sei es auch nur für die Augen der Liebe, der Begierde, der Lust, und zu fürchten, dass dann nichts bleibt als eine alte, faltige Frau, einsam am Fenster mit knotigen Händen und einem Strauß gelber Rosen auf dem Tisch, die sie sich selber kaufen muss, weil der Kredit unseres Lebens so wenig für ein bißchen Nachsicht und ein paar freundliche Illusionen ausreichen wird wie für die verlassene Lea de Lonval.

Colette
Chéri
1920

Journal :: 04.06.

Nein, sage ich und schiebe mir ein weiteres Stück Rumpsteak in den Mund. Clemens Meyer hat mich nur sehr bedingt beeindruckt. Ich mag die oft derbe Sprache nicht so besonders, auch wenn die stilistische Gesamtkomposition alles in allem nicht unstimmig ist. Da ist schon was. Die einzelnen Geschichten dieses viel zu langen Romans um ein paar kleinkriminelle Jungen in der Leipziger Nachwendezeit sind auch teilweise nicht schlecht. Es kostet mich aber eine derartige Mühe, Interesse für die eher etwas randständigen jugendlichen Protagonisten aufzubringen, dass ich das Buch fast weggelegt hätte.

Nun gilt es ja als wünschenswert, sich für alles Menschliche zu interessieren. Man soll niemanden für seine ungepflegte Sprache, seine ungepflegten Träume oder sein ungepflegtes Äußeres verurteilen. Um 500 Seiten Papier zu lesen, reicht die Unterwerfung unter dieses gesellschaftliche Gebot der Vorurteilslosigkeit aber nicht aus, und da bieten mir Jugendliche, die sich prügeln und betrinken und zu grob sind, als dass ich sie gern bei mir zum Essen einladen würde, zu wenig Identifikationsfläche. Ich will nun nicht jeden Romanhelden lieben. Der Bel Ami ist ein grässlicher Kerl. Dostojevskijs Spieler ist fürchterlich in seiner Getriebenheit, und auch ein Sonnenkind wie Thomas Manns Joseph kann realiter schrecklich nerven. Eine Seite meiner selbst sollte aber auch ein abscheulicher Romanheld zum Klingen bringen, wie lächerlich dieser Wunsch auch sein mag, und in diesem, ganz und gar subjektiven Punkt sind mir die Gestalten Clemens Meyers so fern wie der Mars und so egal wie der Finanzminister.

Das ist kein schlechtes Buch, sage ich. Aber es hat mich nicht interessiert.

Clemens Meyer
Als wir träumten
2007

Journal :: 24.05.

Auf dem Weg zum Märchenbrunnen denke ich weiter über Siri Hustvedts Roman nach. Dass es stets riskant ist, wenn Autoren Kunstwerke etwas zu genau beschreiben, die ihre Protagonisten schaffen, fällt mir ein, ungefähr so, wie die wenigsten Schriftsteller ihren Geschöpfen einen Gefallen tun, wenn sie die Behauptung, jemand habe Humor, mit Beispielen unterlegen. Ist man nicht gerade Oscar Wilde (und wer ist schon Oscar Wilde?), dann geht das schief, und so belegen auch die seitenlangen Beschreibungen der Werke des Malers William Wechslers, der einen männlichen Hauptfigur von Was ich liebte, die Faszination nicht, die sie auf den Ich-Erzähler Leo Hertzberg ausüben.

Angenehm temperiert, filigran und doch glaubhaft wirken dagegen die Beziehungen der vier New Yorker untereinander: Das Ehepaar Erica und der Erzähler Leo, das in einer Art sorgsam gedrosseltem Glück miteinander lebt, bis das gemeinsame Kind bei einem Umfall stirbt. Das benachbarte, befreundete Paar William und Violet, der eine kühle, gläserne, erste Frau vorausging. Lucille. Das Altern beider Paare, die Beziehungen untereinander wie deren Veränderungen. Was Freundschaften sind, und vor allem: Was und worüber die Protagonisten arbeiten, denn tatsächlich irritiert mich an der deutschen Literatur der Gegenwart nicht selten, dass ihre Helden entweder gar nicht, oder irgendetwas sehr Seltsames tun, um ihre Miete zu zahlen. Etwas kupiert wirkt das nicht selten, denn das Leben der Menschen wird durch seine wirtschaftliche Seite ja meist nicht wenig geprägt. Zudem finden auch die großen Themen im Leben der Menschen zu einem ganz erheblichen Teil in beruflichem Kontext statt, und so empfinde ich es als angenehm, über die rund dreißig Jahre am Ende des letzten Jahrtausends, die der Roman umfasst, stets informiert zu bleiben, worüber die vier Hauptpersonen arbeiten und was sie denken. Insbesondere die psychohistorischen Arbeiten Violets nehmen so viel Gestalt an, dass ich sie gern gelesen hätte. Joachim Radkau fällt mir dazu ein, der vor circa zehn Jahren eine nicht unanfechtbare, aber lesenswerte Geschichte der Nervosität vorgelegt hat, die die pathologischen Auswirkungen des Vitalismuskultes im späten Kaiserreich und der Weimarer Republik in Beziehung zu den Reaktionen und Entwicklungen seiner Entscheidungsträger gesetzt hat.

Etwas künstlich wirkt der Themenwechsel im letzten Drittel des Buches. Der Todesfall des kleinen Jungen von Leo und Erica und die schmerzlichen, erstarrten Reaktion der Eltern hierauf wirken noch sehr gelungen dem Fluß des Lebens entnommen. Dann aber wendet sich Hustvedt dem Werdegang des Buben von Lucille und William zu, der spektakulär missrät, sich in den Raves der Neunziger verliert, Drogen nimmt, pathologisch lügt und schließlich im Umfeld eines ebenso verdorbenen wie lächerlichen Künstlers in einen Mordfall verwickelt wird. Das Motiv des Bösen, des seine Eltern verzehrenden Wechselbalgs wird hier etwas zu stark betont, so, als habe Hustvedt am Ende ihrer Geschichte noch einen stärkeren Akzent setzen wollen, dessen es nicht bedurft hätte, um eine gute Geschichte über das Leben zu erzählen, seine Abgründe und Verwerfungen, die Nähe zu Nacht und Nichts in unseren scheinbar sonnigen Straßen, und dass es sich trotzdem lohnt, sich zu lieben und zu befreunden, einander gut zu sein, auch wenn, was wir tun können, nichts hilft gegen das Chaos, die Zeit und die Dunkelheit, die – doch scheinbar nur – stets stärker sind als wir.

Siri Hustvedt
Was ich liebte
2003

In kalten Träumen

Manchmal bei Nacht gerät man in solche Welten. Es ist immer dunkel, fahl, die Sonne nicht sichtbar, und die Menschen scheinen – wie soll man es ausdrücken – durchtränkt von einer schwärzlichen Flüssigkeit. Die Welt überhaupt ist seltsam entfärbt. Der Traum hat Zeit und Raum die Richtung gestohlen; alles passiert gleichzeitig, und so verwundert es nicht, wenn in diesem düsteren, machtvollen Roman gleichzeitig der Römer Cotta nach Tomi reist, die eiserne Stadt am Schwarzen Meer, den verbannten Dichter Ovid zu suchen, und ein Filmvorführer dort eintrifft, in Mikrophone gesprochen wird, und ein Deutscher von den friesischen Inseln hängengeblieben ist hier am äußersten Rand des römischen Imperiums in einem großen Krieg.

Verformt, nein: sich verformend, scheinen die Bewohner Tomis. Was mit ihnen geschieht, geschieht vielleicht aufgrund oder aber vielleicht auch so wie es der verschollene Ovid aufgeschrieben hat, auf lauter kleine, wehende Fahnen, denn alles verwandelt sich hier, alles wird etwas anderes, Menschen versteinern, werden überlebensgroß und mythisch, das Stumme ist beredt, die Literatur webt die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit atmet die scharfe Luft jener Träume, in denen ein Mensch ein Wolf sein kann mit Haaren und Klauen, ein Dorfbewohner ein trauriger König, und jeder eines anderen Haut tragen kann, weil es in dieser Welt keine Unterschiede gibt, die nicht beizeiten verschwimmen.

En passant erzählt Christoph Ransmayr eine kleine Liebesgeschichte, sehr am Rande, zwischen Cotta und der stummen Echo. Eine Menge Geschichten werden so referiert, verwandelt nicht nur gegenüber den wehenden, verlassenen Skripten von Tomi, sondern auch (denn wir alle sind Teil der Handlung durch unser Wissen) gegenüber den Metamorphosen, dieser großartigen, unbescheidenen Dichtung, die wirklich und mehr als andere aere perennius aufgeschrieben und behalten worden ist bis in unsere spätesten Tage.

Ein postmoderner Roman sei Die letzte Welt, entnehme ich den Quellen im Netz. Was auch immer das bedeuten mag, diese Leerformel von der Postmoderne, die nicht mehr besagt, als das etwas vorbei ist, und etwas Neues noch nicht begonnen hat: Zu lesen lohnt es sich sehr, dieser Roman über die Wandlungsfähigkeit aller Verhältnisse, erst recht und in erster Linie sogar derjenigen, die wir für unabänderlich halten, weil der Verlust unserer selbst uns ängstigt und schreckt, mag auch die Erde beben.

Christop Ransmayr
Die letzte Welt
1988

Die Liebe, die passiert

Ernö Szep, Die Liebe am Nachmittag, dtv 2009

Man kennt solche Männer: Mit zwanzig sind sie unwiderstehlich (oder fühlen sich zumindest so), und was auch immer sie tun, man nimmt es ihnen nicht übel. Mit dreißig dann haben sie alles gesehen und fast alles getan, und wenn man sie mit vierzig irgendwo trifft, umweht sie eine leise Müdigkeit, ein Hauch von Ennui, eine Langeweile, die der Ahnung entspringt, dass der Kelch des Lebens von ihnen so hastig herabgestürzt wurde, dass jeder neue Wein nur schmecken kann wie längst bekannte Getränke.

Meist ist gut auszukommen mit diesen Veteranen der Nacht. Anders als manch anderer wissen sie, nichts verpasst zu haben, und dass ihnen statt einer Karriere nur viele Erinnerungen bleiben, ist den meisten kein Quell der Verbitterung, sondern ein schieres Faktum. Ein Preis, den man bezahlt. Ein bisschen staunen solche Männer manchmal, wie vollständig das Leben anderer erscheint, aber selten spürt man – trifft man sie an irgendeiner Bar, auf einem Fest morgens um vier in der Küche – Neid. Es scheint sich ausgegangen zu sein, dieses Leben, auch wenn es leicht wiegen mag gegenüber denen, die in diesen Jahren schwer beladen mit Verantwortung und Erfolgen im Wirtschaftsteil der Zeitung stehen.

Lieben aber möchte man solche Männer nicht. Nicht die schiere Zahl der Vorgängerinnen (ach, Arithmetik), die Gewöhnung vielmehr ist es, was einen zurückschrecken lässt. Nichts, meint man zu wissen, wird man den Erinnerungen und Erfahrungen solcher Männer hinzufügen können, und so nennt folgerichtig Ernö Szeps Held Mihaly seine verheiratete Geliebte nicht einmal mehr bei ihrem Namen, sondern nur bei ihrem Parfum. Cinq-Fleur.

Ein wenig zu routiniert, ein bisschen zu gleichgültig läuft diese Liebschaft durch die Seiten. Man trifft sich, man telefoniert. Man schätzt sich. Man liebt sich ganz ausgesprochen nicht. Ein bisschen erschreckend fährt diese Affäre auf allzu glatten Schienen, und am Ende – das sieht man voraus – werden sich Mihaly und Cinq-Fleur nicht trennen, sondern einfach nicht mehr sehen. Auf dem nächsten Empfang, der nächsten Premiere, werden sie sich dann zunicken, freundlich, kein Grund zu Groll, und dann ist es vorbei.

Auch Iboly wird nicht geliebt. Dass Iboly, Schauspielschülerin mit Anfang zwanzig, sich in Mihaly verliebt, weil er Dichter war und Stücke schreibt, weil er charmant ist und ihr zuhört, mag man verstehen, und ein bisschen sorgt man sich um das junge Mädchen. Noch fünf Jahre vor Beginn dieses Romans wäre Mihaly vielleicht der Grund für Tränen und Szenen und ließe sich für ein, zwei Wochen oder gar Monate hinreissen. Nun aber ist Mihaly 46, und sein Wunsch nach Ruhe überwiegt seinen Wunsch, neben einer jungen Frau zu erwachen. Als Iboly sich ihm anbietet, weicht er aus.

So gut wie nichts passiert also in diesem Roman, der erstmals 1935 in Ungarn erschienen ist. Nichts weiter, als dass ein kluger und müder Mann in einem versunkenen und doch seltsam zeitlosen Budapest altert, sich dem Alter noch ein wenig widersetzt, sein früheres Selbst gelegentlich in der offenen Hand wiegt und einen leisen Abschied feiert von sich selbst, seiner Vergangenheit und einer Zukunft, von der er weiß, dass sie nicht mehr stattfinden wird, denn irgendwann liegt alles hinter uns, was wir hätten werden können, und wenig später auch: Was wir geworden sind.

Calling Olimpia

Daniel Kehlmann, Ruhm, 2009, € 18,90

In einer der neun Geschichten dieses schmalen Bandes fällt eine Frau aus ihrem Leben einfach heraus. Auf einer Journalistenreise in eine namentlich nicht genannte Diktatur wird sie wegen eines Planungsfehlers in einem leeren Hotel untergebracht, am nächsten Morgen vergessen, ihr Visum läuft ab, und am Ende verliert sie sich irgendwo im namenlosen Nichts. In einer anderen Geschichte findet ein berühmter Schauspieler nicht in seine Existenz zurück, nachdem ein Doppelgänger seinen Platz eingenommen hat, jemand schickt sich todkrank zum Sterben und wird durch die Gnade seines Schöpfers erlöst, der nicht ein Gott ist, sondern ein Schriftsteller, und so verschwimmen quer durch diese lose verbundenen Episoden nicht nur die Identitäten, diese Kokons vermeintlicher Selbstverständlichkeiten, sondern die Grenze zwischen Existenz und Erfindung selber verliert Bedeutung und Gewicht, wird ebenso biegsam wie bodenlos und lenkt den Blick direkt auf das Prekäre, stets Gefährdete dessen, was uns ausmacht, wenn wir mehr sein wollen als Blut, Fleisch und Knochen.

Ein einziger Anruf, ein unbedachter Ausfallschritt, der Flügelschlag eines weit entfernten Wesens kann uns zerstören, behauptet Kehlmann und illustriert dies mit Beispielmenschen, die umhergehen, telefonieren, sich verlieben, Familie haben, arbeiten, schreiben oder geschrieben werden. Neugierig oft, stets amüsiert folgt man ihren Schritten, sieht ihnen zu, wie sie strampeln, laufen, sprechen, lügen, scheitern und leiden, und klappt nach zwei Stunden „Ruhm“ wieder zu. Als recht angenehm empfiehlt man das Buch seinem geschätzten Gefährten, und doch, meint man, stimme etwas nicht mit diesem Buch, ganz genau könne man nicht sagen, was. Ein Unbehagen mehr als ein Ärgernis. Dann ist es spät und man geht schlafen.

Das ist kein großes Buch, denkt man und legt seine Linsen in die weißen Schalen im Bad. Sicher hat man schlechtere, viel schlechtere Abende mit Büchern verlebt, überlegt man bei sich und putzt seine Zähne. Zwar sind die meisten – nicht alle – Beispiele klug gewählt, und bis auf eine (allerdings dafür sehr) missglückte Liebesszene und wenige etwas arg abgenützte Effekte und Einfälle geht sich alles rund und glatt aus und schnurrt reibungs- wie tadellos durch die knapp 200 Seiten. Doch am Ende, wieso auch immer, hinterlässt dieses Buch – das kein Roman ist, es sei denn in einem sehr erweiterten Sinne – eine seltsame Taubheit, nicht unähnlich der Empfindung nach Zahnarztbesuchen, eine Teilnahmslosigkeit, die erstaunt angesichts dieser Geschichten vom Grauen des Verlorengehens, und Stunden später erst, halbwach am Morgen zwischen vier und fünf, fällt es mir auf, dass nur echte Menschen Mitleid erregen und Erbarmen, Zorn über die Härten des Lebens und Freude über seine vollen Trauben. Dass Kehlmann fast perfekte Automaten geschaffen hat, täuschend echte Attrappen des Lebens auf den ersten Blick, und doch die Marionettenschnüre sichtbar gelassen hat, warum auch immer, und die Eierschalen der Imagination am Boden nicht gekehrt. Dass eine Geschichte, die von A nach B wandert – und zwischendurch passiert eine Menge – bisweilen nicht darauf angewiesen ist, wirkliche, warme und atmende Menschen durch die Wüste zu den Oasen oder ins Nichts zu schicken, überlege ich mir, aber ein Buch, das von der Zerbrechlichkeit des Lebens erzählt, Leben doch erst erschaffen muss, dessen Gefährdung und Untergang uns schmerzt wie der Tod der Rahel am Weg, das Leiden und Sterben der Anna Karenina, oder die Zerstörung Lolitas durch Humbert Humberts Liebe.

Über Regierung

Christoph Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, Wagenbach 2008, € 9,90

Es gibt ein vielfach verbreitetes Unbehagen an der Art und Weise, wie politische Entscheidungen in der Bundesrepublik getroffen werden. Oft steht hinter diesen Äußerungen die Vorstellung, es gebe eine „richtige“ Politik, die es nur zu erkennen (statt erst zu gestalten) gelte, und die bisweilen verschlungenen Wege demokratischer Willensbildung würden diesen Erkenntnisprozess eher behindern als fördern. In einer solchen Weltsicht erscheint dann weniger der manchmal fast unendliche Diskussionsprozess parlamentarischer Abläufe wünschenswert, sondern eine Art autoritäres Expertentum, das – beamtet oder bestellt – aus der Vielzahl denkbarer Handlungsalternativen die beste aussucht und verwirklicht. Ausfluss dieser sehr verbreiteten Ansicht ist neben dem bisweilen etwas hypertrophen Selbstbewusstsein der Ministerialbürokratie etwa das Kommissionsunwesen, das seit der Regierung Schröder die politische Willensbildung verschmiert.

Tatsächlich gibt es wenig Hinweise darauf, dass eine Expertenrepublik zu „besserer“ Politik führen würde, als der parlamentarische Betrieb. Wer dies annimmt, verkennt, dass es bei der Frage, wie regiert werden soll, grundlegende Vorfragen gibt, die nicht durch Sachkunde, sondern nur durch politische Entscheidungen getroffen werden können: Sollen die Belange der Tierschützer verwirklicht werden oder doch eher die der finanzschwachen Fleischesser mit ihrem Interesse an Schweinskoteletts zu € 2,99? Sind Arbeitsplätze in der Schwerindustrie wichtiger als der Schutz seltener, aber gutaussehender Kröten? Sollen die öffentlichen Schulen optimal auf die Bedürfnisse schwacher Schüler eingehen oder sollten die begrenzten Finanzen des Staates für die Spitzenförderung ausnehmend schlauer Kinder verwandt werden? Und wenn das Geld nicht reicht: Soll man Ausgaben kürzen, auch wenn die Gelder für an und für sich wünschenswerte Ziele ausgegeben werden sollen, oder sollen Steuern erhöht werden, und wenn ja: für wen? – Dass diese Fragen zu entscheiden nicht Sache von Experten sein kann, liegt an sich auf der Hand, denn niemand ist Experte für die Frage, welche Ziele eine Gesellschaft verfolgen soll, sondern höchstens dafür, wie man die einmal beschlossenen Ziele erreicht.

Bedauerlicherweise gibt es wenig lesbare Literatur, die das vorerwähnte Unbehagen thematisiert und auf seinen undemokratischen Kern hin untersucht. Eine Vielzahl politischer Bücher beschäftigt sich diesbezüglich mit Einzelfragen, und macht sich dabei den Wunsch mancher Bürger wie auch anderer Akteure nach einer Art Abschaffung der Politik nicht selten sogar zunutze. Manche andere, sicherlich verdienstvollen Werke scheitern an ihrer schlechten Verständlichkeit, zumal kaum jemand, dessen Beruf es nicht ist, derlei zu lesen, fette und anstrengende Wälzer schätzt, die man schon wegen ihres Umfangs weder in der Bahn noch im Bett konsumieren möchte.

Um so lieber empfiehlt man Ausnahmen wie das keine 150 Seiten lange Werk des Staatsrechtlers Christoph Möllers über Demokratie, in dem der Autor ebenso präzise wie temperamentvoll den Überdruss an demokratischer Politik von seiner narzisstischen Quelle bis ins Meer der unhinterfragten Fehlschlüsse nachzeichnet. Die leichte Lesbarkeit auch aufgrund der Rhythmisierung durch kurze, im Schnitt eine halbe Seite nicht überschreitende Abschnitte kommt dem faulen Leser zudem sehr entgegen.

Fast bis auf den Mir Samir

Eric Newby, Ein Spaziergang im Hindukusch, 1958

Zu den charmanten Seiten von Engländern gehört der Sinn für nutzlose Dinge und Tätigkeiten. Wo die Deutschen, hat man den Eindruck, vom Reisen eine Art Ertrag erwarten, in Form von Bildung beispielsweise, in Bräune oder aber in der schwer fassbaren Münze der Spiritualität, reicht es den Briten (zumindest ihrem schreibenden Teil) offenbar, unterwegs gewesen zu sein, dort Erfahrungen gemacht zu haben, die ihnen daheim entgangen wären, und auf diesem Unterschied, nehme ich an, beruht der immense Qualitätsvorsprung der englischsprachigen Reiseliteratur vor der deutschen. Zwar gibt es auch in deutscher Sprache angenehme Ausnahmen. So hoch allerdings wie die zu recht sehr berühmte Schilderung einer Reise durch den Hindukusch von Eric Newby ragen aber auch die deutschen Spitzen selten, und dass ich nicht auf der Stelle aufgebrochen bin, gleichfalls ohne jede Kenntnis des Bergsteigens in Zentralasien den Mir Samir, einen sechstausend Meter hohen Berg, zu erklimmen, lag einzig an der derzeit etwas unruhigen Lage vor Ort und an meinem Job.

Indes ist die politische Lage in Afghanistan offenbar schon immer etwas prekärer, und auch Newby war vor seiner 1956 keineswegs berufslos. Das Telegramm an seinen Mitreisenden Hugh Carless mit dem Wortlaut „CAN YOU TRAVEL NURISTAN JUNE“ beendete vielmehr eine zehnjährige Karriere in einem Londoner Modesalon, in dem Newby als eine Art Werbefachmann tätig war, und man würde wünschen, mehr von dieser sehr, sehr amüsanten Welt zu hören, wenn nicht die anschließenden Schilderungen eines kurzen Trainings der Kunst des Bergsteigens in Wales (!) und die sodann erfolgte Abreise über Istanbul Richtung Afghanistan nicht noch kurzweiliger wäre.

Natürlich klappt nichts. Schon auf der Hinfahrt wird ein Beduine überfahren. Das Wasser ist verkeimt. Das Essen schlecht. Newby und Carless haben die ganze Zeit Durchfall, und mangels Alternativen liest Newby immer wieder „Der Hund von Baskerville“. Es ist zudem wahnsinnig kalt, die Schuhe der Reisenden erweisen sich als ziemlich ungeeignet für die extremen Gegebenheiten vor Ort, und die Bewohner des Hindukusch lieben, schildert Newby, Reisende nicht. Nicht einmal die angeheuerten Führer machen einen auch nur halbwegs vertrauenswürdigen Eindruck, und dass die beiden Reisenden heil aus dem Land wieder herausgekommen sind, wirkt eher wie ein Zufall. Dabei gibt es durchaus Abstufungen des Unangenehmen zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme vor Ort, die teilweise schon immer sehr, teilweise aber erst seit einer Generation ein bisschen muslimisch sind, aber zumindest latent gewalttätig wirken fast alle.

Einige Exkurse über die Geschichte des Landes, die verschiedenen Stämme und Sprachen sind, wenn auch weniger raumgreifend, der Vorgehensweise des ohnehin stets sehr präsenten Robert Byron ähnlich, nicht ungeschickt eingeflochten. Kaum jemals doziert Newby, stets kehrt er nach kurzen Schleifen zurück zur Reisegruppe, die eine beachtliche Strecke durchquert, wie die eingeheftete Karte ausweist. Menschen, die sich mehr als ich für die Natur in exotischen Ländern interessieren, kommen vermutlich auch auf ihre Kosten, und dass die Besteigung des Mir Samir einige hundert Meter unter dem Gipfel scheitert, bildet eine reizende Arabeske der Sinnlosigkeit, die Newby indes kaum zu erstaunen und auch nicht besonders zu enttäuschen scheint.

Zu guter Letzt: Die deutsche Übersetzung von Matthias Fienbork ist gelungen. Der Umschlag der „Anderen Bibliothek“ dagegen außerordentlich lieblos und scheußlich.