Über Bücher

Die Verwandlung der Welt

Daniel Kehlmann, Beerholms Vorstellung (1997)

Wie belebt doch die Welt einmal war, als Wind und Bäume sprechen konnten, und im Geäst die Elfen laubbeschattet Lieder sangen. Wie reich war die Welt an Möglichkeiten, als man nicht wusste, ob die Wölfe vorm Dorf nicht des Morgens zuckend ihr Fell abwarfen und knurrend, doch menschlich, zurückschlichen in die Kate nebenan. Wie mächtig waren Worte, waren Gegenstände, als ein paar Silben ausreichten, ein Mädchen in Schlaf zu versetzen, und die Berührung mit einem Stab einen Kürbis wachsen ließ, bis er, versehen mit vier Rädern, eine aus der Asche entstiegene Prinzessin zum Ball fuhr und zurück.

Zwar hatte niemand, den man kannte, dergleichen schon erlebt. Gehört aber hatte jeder davon, dass im nächsten Dorf – in einem fernen Land – in jüngst vergangenen Tagen – derlei vorgekommen war, und fest glaubten die Menschen an die Möglichkeit, dass alles anders sein könnte, als es ist, und allen Dingen die Möglichkeit innewohnt, sich jederzeit zu verändern.

Die Welt aber wurde kleiner. Seefahrer fuhren los und kehrten zurück und hatten keine Menschen mit Hundeköpfen an Bord. Woanders, erzählten sie, wuchsen zwar andere Früchte auf den Bäumen, aber gebratene Tauben flogen überall nur wenigen in den Mund, und das Wasser floss auf der ganzen Welt nach unten. Forscher schlossen sich in Universitäten ein, und als sie herauskamen, verkündeten sie nüchterne Gesetze über den Lauf der Welt, die überall und jederzeit Geltung haben sollten. Wölfe blieben danach auch am Morgen grau und struppig. Die Bäche sprachen nicht, sondern flossen von der Quelle zum Meer, und aus der Asche stiegen weder Prinzessinnen noch bunte, unsterbliche Vögel.

Mit jedem Fetzen Wissen mehr um den Lauf der Welt vergrößerte sich die menschliche Herrschaft über die Natur. Frei wurde der Mensch dabei von vielen Ängsten, doch mit jeder Erweiterung seiner Freiheit verkleinerte sich die Welt, wurde eckig und grau, und die Ausnahmslosigkeit der Naturgesetze legte sich schwer auf die Gemüter.

Etwas melancholisch wurden die Menschen, ein wenig wehmütig ob der verlorenen Weite. So eng und drückend von allen Seiten wurde die Wirklichkeit dem 19. Jahrhundert, dass die Menschen sie nicht aushielten und trotzig an den Möglichkeiten festhielten, die die Wissenschaften ausgeschlossen hatten. Indes kann der Mensch eine ganze Menge Tätigkeiten ausführen, wenn er nur will. Kochen etwa oder Arbeiten oder zum Mond fliegen. An etwas glauben, von dem er weiß, dass es nicht stimmt, gehört aber nicht dazu, denn es kommt den meisten Menschen dumm vor, Unwahrheiten hinterherzulaufen, es sei denn, es gäbe einen guten Grund. Gute Gründe für die Pflege wohltuender Lügen wiederum gibt es nicht viele, und die Moderne kam nur auf eine: Die Kunst, und so wurde man denn romantisch und sammelte Märchen, schrieb blauscheckige Gedichte und malte die Welt eckig oder rund, bis sie sich selber vor lauter Verwandlung kaum mehr erkannte.

Indes ist stets etwas Schwankendes, Fadenscheiniges um diese Strategien der Verwandlung. Die Welt wird, so mutmaßen manche, eben doch nicht anders, nur weil man ihr mit Ölfarbe Zacken malt. Das Prekäre der Verwandlung aber ist der eigentliche Schmerz, denn diese oft haarfeine Spalte zwischen Wunsch und Erfüllung bildet den Graben zwischen dem alten Reich der Fülle und der Realität von Glaube und Kunst. Von diesem Schmerz, dem Scheitern der Verwandlung der Welt, handelt dieser Erstling des inzwischen zu recht sehr bekannten Autors Daniel Kehlmann.

Die Kunst, anhand derer Kehlmann dieses Scheitern vorführt, ist zunächst die der Illusionisten, der Zauberkünstler, die Hasen aus Zylindern holen und Jungfrauen zersägen. In ihrer Vortäuschung, die Last der Naturgesetze abschütteln zu können, ist diese Kunst sicherlich die, die den Schmerz um die bodenlose Weite der Welt am unverstelltesten abbildet, indem sie den Verlust schlicht negiert. Es mag sein, dass diese Direktheit dafür verantwortlich ist, dass der Zauberei in den Augen der Öffentlichkeit etwas Zwielichtiges anhaftet, etwas von Las Vegas und Vorstadtcabaret, und die Hochkultur mit ihren Förderfonds und Staatsministern einen Bogen um diese Künste schlägt. Zu Demonstrationszwecken hinsichtlich des Schmerzes an der entzauberten Welt ist die Zauberei aber ganz fabelhaft geeignet, und so lässt Kehlmann seinen Held – Herrn Arthur Beerholm – sich so sehr sehnen nach der wirklichen Gabe der Zauberei statt der meisterlich und erfolgreich beherrschten Täuschung, dass der Wunsch die Wahrnehmung formt, bis Beerholm bisweilen glaubt, die Dinge würden ihm gehorchen.

Am Ende aber siegt der Schmerz. Dass sich die Illusion stets an der Kaimauer der Naturgesetze bricht, treibt Beerholm fort, und aus dem gefeierten Künstler wird ein Gescheiterter, der am Ende auf einer Aussichtsplattform steht, bereit zu springen. Auf dieser Ebene des Buches, zerschellt der Wunsch nach der Fülle der Welt an der Wirklichkeit, an der stirbt, wer mit ihr nicht leben kann.

Unterhalb, nein: mit dieser Geschichte erzählt Kehlmann eine zweite. In dieser geht es gleichfalls um Beerholm. Es geht um denselben Jungen, den die Wirklichkeit schmerzt, seit – ein wenig plakativ – seine Adoptivmutter vom Blitz erschlagen wird. In einer Nacht kurz nach der Matura aber ändert sich der Verlauf. Denn statt Theologie zu studieren, schläft Beerholm, träumt, malt sich die ganze Geschichte von Studium, Zauberei, äußerem Erfolg und innerer Niederlage aus, und alles, was dann passiert, die ganze Geschichte, spielt nirgendwo als im Kopf des Helden, Schwaden, Tagesreste, und am Ende, beim Sturz, wird Beerholm vielleicht nicht sterben, wie die Gesetze es wollen. Er wird nicht fliegen, wie er es wünscht. Vielleicht wird er einfach erwachen, und der Kampf gegen die unerträgliche, nüchterne Enge der Wirklichkeit wird nicht verloren, sondern schlicht nicht einmal ausgetragen, denn Träume zählen nicht auf der Waage der Welt.

Wie eine Strähne von Gold in schwarzen Haaren taucht dieses Motiv von Traum und Unwirklichkeit immer wieder in der Geschichte auf, wird nach oben gespült als Anspielung, als offene Ansage eines Protagonisten, und der Charme dieser surrealen Bilder täuscht über den Ernst hinweg, in dem die Macht und die Kraft der Imagination – gleichermaßen Kunst wie Glaube . die Wirklichkeit scheinbar überwindet. Doch ist der Traum von vornherein mit dem Makel des Unwirklichen behaftet, und seit Freud zudem gebrandmarkt als Geburt allein der eigenen Seele und nicht einer Wahrheit, die auch außerhalb des Individuums gilt. Auf dieser Ebene also unterliegt der Wunsch nach der Rückkehr zur alten Einheit der Welt, zur unbegrenzten Vielzahl der Möglichkeiten, indem ihre Überwindung internalisiert wird, eingeschlossen in einen Kopf, der nach wie vor der Begrenzung der Moderne unterliegt.

Eine weitere Ebene des Scheiterns schreibt der Autor nicht selbst. Denn der Schriftsteller kann zwar einen ganz normalen Mann zaubern lassen. Seine Geschöpfe können mit den Winden treiben, oder gestorben wiederkehren, doch Kunst, Lüge, behauptet also, doch nicht wahr, bleibt alles, was der Autor formt aus nichts als 26 Buchstaben. Pixel im Nichts. An der Kunstfertigkeit des Autors hängt es, ob der Leser ihm glaubt, zumindest für ein, zwei Nächte, einige Stunden oder die paar großen Minuten, ob derer man einen Roman nicht vergisst.

Hier aber liegt dieses Buches Schwäche: Man bewundert. Man liest mit großem, selten erlahmenden Interesse, man fühlt sich mehr als nur gut unterhalten, doch ein wenig hüftsteif, ein wenig geruchlos, zu viel Papier und zu wenig Schweiß, Blut und Tränen haftet an Arthur Beerholm und seinen Gefährten. Schwer zu sagen ist es, was fehlt, doch Anteilnahme, Mitgefühl, all das, was man nur den täuschend echten Imitaten der wirklichen Welt spendet, bleiben aus angesichts dieses Treibens amüsanter, interessanter Marionetten, und so klafft auch hier die feine Naht, der stete Schmerz der Wunde zwischen Wunsch und Welt.

Von Kindern und Mördern

Saša Stanišić, Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006)

Kinder, das ist bekannt, haben äußerst unangenehme Seiten. Sie stinken. Sie sind laut. Sie sagen die Wahrheit, wenn man sie nicht im Geringsten brauchen kann, sie lügen schrecklich schlecht und sind, unter anderem aus diesem Grund, sehr, sehr miese Erzähler. Ihre Geschichten haben weder Anfang noch Ende, es fehlt ihnen zumeist vollkommen an innerer Folgerichtigkeit, und die kindliche Froschperspektive – bedingt durch den fehlenden Erfahrungshorizont – führt zu vielfachen Redundanzen und ärgerlichen Längen bei der Wiedergabe von Selbstverständlichkeiten. Die Wahl eines kindlichen Erzählers für ein literarisches Werk zieht damit zwangsläufige Probleme nach sich: Eine nur halbwegs realistische Wiedergabe des kindlichen Erzählens wäre vor Langeweile nicht auszuhalten. Eine nur vorsichtig infantiler Diktion angenäherte Sprache wirkt dagegen wegen der Überlagerung erwachsener und kindlicher Sprach- und Erlebnisebenen nicht selten altklug und ein wenig künstlich dazu.

Natürlich – andernfalls gäbe es solche Bücher ja nicht – hat die Wahl eines kindlichen Erzählers auch Vorteile. Die Fiktion, der Erzähler erlebe alles zum ersten Mal, erlaubt es, das Selbstverständliche mit dem Gestus des Staunens zu erzählen, der dem Leser im besten Fall das Mitstaunen erlaubt und zudem viele Bilder ermöglicht, die einem Erwachsenen schlechthin nicht abgenommen werden, ungefähr so, wie es die Öffentlichkeit einem Dreißigjährigen eher als einem Dreijährigen verübelt, sich bei Kaisers auf den Boden zu werfen, wenn er kein Eis bekommt. Zudem erwartet der erwachsene Leser von einem erzählenden Kind naturgemäß nicht, alles Erlebte und Gesehene auch zu verstehen, zu erklären gar, oder möglicherweise in unschöne Geschehnisse hilfreich einzugreifen. Dies wiederum prädestiniert die kindliche Perspektive für das Erzählen über den Krieg aus der Position einer natürlichen Unschuld, die Gewalt erleidet, sie beschreibt, aber weder ihre Entstehung erklären muss, noch Position bezieht. Gerade eher komplexe Auseinandersetzungen wie der Krieg im früheren Jugoslawien eignen sich damit als Gegenstand des Erzählens aus kindlicher Perspektive. An ein Kind – wie Saša Stanišić alter ego Aleksandar – trägt man die Fragen nicht heran, die ansonsten der Leser dem Buch stellen würde. Wie konnte das passieren, etwa. Oder: Was ist genau geschehen? Und nicht zuletzt: Wer hat schuld?

Tatsächlich beantwortet das Buch keine dieser Fragen, ohne dass man die Antwort vermisst oder auch nur erwartet. Die Geschichte dieses mir bis heute unverständlichen Krieges wird vielmehr erzählt als eine Vertreibung aus dem Paradies, das etwas zu genrehaft, ein bisschen zu sehr märchen-, klischeebalkanhaft erzählt wird, und hier stößt man sich hart an der etwas zu putzigen Sicht des ungefähr zwölf- oder dreizehnjährigen Helden. Anfang der Neunziger Jahre, am buchstäblichen Vorabend des Schlachtens hebt die Erzählung an, und klingt doch streckenweise sehr nach den Erinnerungen sehr, sehr alter Leute, ein bißchen zu niedlich und zu pläsierlich, ein Jugoslawien wie aus der handgewebten Dekoration der Balkanrestaurants Dubrovnik, wie sie vor Jahren in deutschen Kleinstädten bunt geschmückt Ćevapčići verkauften, und auch vom Tonfall ähnelt manche Passage fast den immer etwas zu simplen Anekdoten Roda Rodas von vor dem ersten Weltkrieg. Indes: Schlecht sind die Geschichten nicht. Man hat sich schon einmal besser amüsiert, zweifellos – aber amüsiert habe ich mich schon und streckenweise sogar prächtig.

Gut gemacht – und hier bewährt sich der Blick eines kindlichen Helden – ist der Einbruch des Krieges. Wie mitten in ein folkloristisches, balkanbuntes Fest der Krieg tritt, betrunken, bewaffnet und platzend vor Unreife, und die scheinbar noch geglätteten Wogen dann doch innerhalb weniger Seiten des Buches die Idylle auffressen, verleiht dem Bösen, dem Grauen einen Körper, der es erst fassbar macht, wie der Krieg das Paradies erst überschattet und dann zerstört. Die Szenen aus der besetzten Stadt sind grell, gut gemacht, und es liegt nicht am Erzähler, dass man meint, so etwas bereits gelesen zu haben. Das 20. Jahrhundert hat an seinen Kindern keinen Kelch vorübergehen lassen.

Nach der Flucht aus Bosnien indes wird das Buch etwas – nun: lang. Dass der zunächst im Ruhrgebiet langsam heranwachsende Protagonist die Vergangenheit idealisiert, glaubt man angesichts der durchaus trist illustrierten Flüchtlingsgegenwart unbesehen. Lesen möchte man die Früchte dieser Idealisierung durch den nun schon älteren Aleksandar allerdings nicht, oder zumindest nicht in dieser Breite. Auch öffnet sich in diesen Passagen, in denen der Held in Deutschland zur Schule geht, eine gewisse Schere zwischen dem Kinderblick und dem wachsenden Alter. Die Jahre werden so schnell erzählt, dass man nicht ganz mitkommt mit dem wachsenden Erzähler, und die schon in den anfänglichen Anekdoten ein wenig nervenzerrende Naseweisheit des Kindes verträgt die Sprünge durch manche Rückblenden nicht immer. Auch die Erzählung mittels Briefen an eine sehr, sehr schattenhafte Freundin, bosnischer Flüchtling im früheren Wohnhaus in Višegrad, zieht eine Distanz des Lesers zum Geschehen nach sich, die möglicherweise absichtsvoll angelegt, gleichwohl dem Vergnügen nicht förderlich ist.

Rund immerhin endet das Buch nach rund 300 Seiten. Vielleicht etwas zu rund, wenn das Grab des Großvaters, des ziemlich demonstrativ personifizierten Jugoslawien, des Geschichtenerzählers und Parteifunktionärs, besucht wird, der auf den ersten Seiten stirbt, aber wenige Seiten später legt man das Buch (nur ein paar Stunden nach Beginn der Lektüre, der Roman liest sich leicht) mit einem gewissen Bedauern zur Seite, flankiert vom Erstaunen, dass der erhebliche Charme dieses Romans seine Mängel am Ende doch und nicht ganz wenig überwiegt.

Aber von Kindern will ich die nächste Zeit weder hören noch lesen.

Ich habe Uwe Tellkamps Eisvogel abgebrochen

… und werde den Turm gar nicht erst kaufen.

Hab’ ich mich gelangweilt. Gott, hab’ ich mich gelangweilt mit diesem Buch in Kreta am Strand. Und dann habe ich – das passiert eher selten – einfach aufgehört und das Buch weggelegt, obwohl ich nach der ersten Urlaubswoche nichts Ordentliches mehr zu lesen hatte, und das liegt, ich schwöre, den begeisterten auf dem Buchrücken abgedruckten Kritiken zum Trotz an wirklichen und ernsthaften Mängeln des Eisvogels, als etwa da wären:

Es mag sein, dass Tellkamp (wie der Klappentext es nahe legt) eine abstrakt interessante Geschichte erzählt. Tatsächlich fängt es gar nicht schlecht an: Einer wird getötet, der Tötende kommt ins Krankenhaus und erzählt – so der etwas konventionelle Einstieg – seinem Verteidiger, wie es zu Tötung und Spital gekommen ist. Da menschliche Grenzsituationen wie die der Tötung andere Leute meistens interessieren, hilft einem dieser Cliffhanger über die ersten zwanzig oder dreißig Seiten hinweg, dann aber sank mein Interesse, börsenkursgleich in diesen traurigen Tagen, deutlich ab, kroch gelegentlich noch um matte drei, vier Prozente in die Höhe, um dann endgültig auf der Nullinie zu verenden.

Die Ursache dieses Sinkflugs ist simpel: Alle dargestellten Figuren haben mich nicht für fünf Pfennig interessiert. Der Schwager beim Fernsehen (um bei den Nebenfiguren anzufangen) ist ein quotensüchtiger und vulgärer Depp. Der bankmanagende Vater ist eine Karikatur der bundesdeutschen Babyboomer, und die karrierebesessene Assistentin und Kurzzeitgeliebte des Krankenhauspatienten scheint direkt der „Jungen Karriere“ entsprungen zu sein, oder besser: der Vorstellung, die sehr, sehr weltfremde Leute von den Junge-Karriere-Lesern so haben. Soweit sich das beim kursorischen Durchblättern feststellen lässt, wird es beim künftigen Mordopfer, einer Art rechtsintellektuellem Sektengründer, und seiner Schwester keinesfalls besser. Das Verführerische, das beiden zugeschrieben wird, wird nur behauptet, aber nicht illustriert. Bei der Anhängerschaft des künftigen Toten wird es dann ganz grauenhaft.

Etwas leicht macht es sich Tellkamp mit diesem Personal, denke ich mir, denn so sicher es Menschen geben wird, die ungefähr so sind oder bei ein bisschen bösem Willen zumindest so wahrgenommen werden können, so wenig überzeugend sind diese Fratzen als Personal eines Romans: Für ein repräsentatives Portrait der bundesdeutschen Funktionseliten und ihrer dysfunktionalen Abkömmlinge sind die Nebenfiguren (wie das Setting, auch der Tonfall der handelnden Personen generell) zu schlecht getroffen, und als Protagonisten einer guten Geschichte wünscht man sich zum einen etwas weniger holzschnittartige Charaktere, und zum anderen habe ich den großartigen Plot nicht gefunden. Möglicherweise hätte er sich beim Weiterlesen noch aufgeblättert, aber wozu ein Autor den Leser sich eine halbe Stunde langweilen lässt – ich habe keine Ahnung.

Nun schadet Nebenfiguren – gerade wenn sie der Leser nur durch die sicherlich befangenen Augen der Hauptperson sieht – eine gewisse Chargenhaftigkeit oftmals nur wenig. Allerdings möchte ich mich zumindest für diejenige Figur interessieren, die im Vordergrund der Bühne herumstolziert, zumal, wenn wie hier, die Hauptperson ihre Geschichte erzählt. Nicht, dass ich mich in Herrn Wiggo Ritter geradezu verlieben möchte, um an seinem Tun und Treiben Anteil zu nehmen, aber langweilen soll jemand, dem man ein paar Stunden lang zuhören möchte, nun auch nicht. Daran allerdings hapert es ganz gewaltig. Herr Wiggo Ritter macht es einem nicht leicht, nein: er macht es mir annähernd unmöglich. Dies aber liegt an der Auswahl eines Typs Mensch als Helden, der sich – zumindest was mich betrifft – als Träger von Interesse, vielleicht gar Sympathie, schlecht eignet.

Es mag ja vielleicht verständlich sein, dass arbeitslose Philosophen wie der Herr Wiggo Ritter dazu neigen, logischer Intelligenz und einer gewissen Formalbildung einen möglicherweise etwas übertrieben hohen Wert zuzuschreiben, denn was dem einen sein Jaguar ist dem anderen sein Heidegger, jedoch ist die Pose, die subjektiv unterbewertete Intelligenz oft annimmt, nicht gerade angenehm, bestenfalls rührend lächerlich, und strengt mich meistens, so auch hier, nicht wenig an. Ich gehe Menschen, die sich ihrer Umgebung für überlegen und von dieser für ungerechterweise unterschätzt halten, gern aus dem Weg, denn es gibt wenig Gründe, Zeit mit verbitterten, selbstgerechten, arroganten Leuten zu verbringen, und es gibt wenig denkbare Motive, hiervon abzuweichen, wenn sie einem als Personal eines Romans begegnen. Ein denkbarer Grund immerhin wäre Humor, und sicherlich hätte ich weiter gelesen, gäbe es etwas zu Lachen. Daniel Kehlmanns ‚Kaminski und ich’ funktioniert ja etwa mit einem durchaus anders, aber nicht sympathischer gestrickten Helden, allerdings habe ich den Verdacht: Uwe Tellkamp findet sein Geschöpf gar nicht so arg daneben und beschreibt einen Mann, der dem Leser angenehm sein soll. Dies allerdings darf als gründlich misslungen gelten, und zudem leidet die Nachvollziehbarkeit der Handlung ernsthaft unter der nahezu läppischen Beschreibung der vom Mordopfer Mauritz vertretenen elitistischen, sehr der Gedankenwelt der konservativen Revolution verhafteten Ideen in einer fast unerträglich kitschigen Version.

Es war nicht auszuhalten. Ich wurde immer müder. Die Sonne schien, der geschätzte Gefährte schmatzte vergnügt über der Lektüre von Adam Soboczynskis amüsantem Buch über die Kunst der Verstellung, und erstaunt stellte ich fest, nicht mehr wissen zu wollen, wie es zu dem Tötungsakt der ersten Seite gekommen ist. Weder wollte ich wissen, warum Mauritz stirbt, noch wie es dem tötende Wiggo Ritter vor und nach diesem Vorfall erging, und da habe ich die Lektüre beendet.

Berliner, die das Buch haben wollen, können es haben. Und nein, sagen sie mir nicht, wie es ausgeht. Es ist mir egal.

Liegen lesen

Leser, so las ich letztens beim jüngst verstorbenen Nicolaus Sombart, zerfallen ja in zwei Kategorien, von denen die erste aufrecht im Sitzen, die zweite aber im Liegen liest, und das letztgenannte, von orientalischer Schlaff- und Sinnlichkeit geprägte Lesen auf Bett oder Divan sei eine grundlegend andere Sache als das konzentrierte Studieren am Tisch oder, besser noch an einem Stehpult.

Tatsächlich, so stelle ich mir vor, unterscheidet sich nicht nur die emotionale und kognitive Grundhaltung des Lesens je nach Körperposition. Auch die gelesenen Bücher müssten sich unterscheiden, denn wer schon liest Mommsen im Bett? Oder Proust am Schreibtisch? Wer stellt sich an ein Pult zwecks Lektüre von Henry Miller?

Wechseln, nehme ich an, werden die meisten Leute daher je nach Buch den Ort ihrer Lektüre. Ich aber, meine Damen und Herren, ich bin den Stehpult- und Schreibtischbüchern von vornherein abhold. Faul bin ich und ein wenig vergnügungssüchtig dazu, und kaufe daher ausschließlich solche Werke, die in der Horizontalen lesbar sind, und habe gelernt, das für weiche, warme Lagerstätten Unpassende zu vermeiden, ungefähr so, wie man inzwischen weiß, welche Kekse man im Bett essen kann und welche nicht.

Schlüsselworte in Klappentexten wie etwa „radikal“ oder „mutig“, welche andeuten, dass das betroffene Werk Experimenten sprachlicher Natur gewidmet ist, vermeide ich. Durchweg kleingeschriebene Werke lasse ich wegen der Erschwerung des Lesevorgangs liegen, und überhaupt generell alle Bücher, die den Leser erkennbar anzustrengen bestimmt sind, schaffen es nicht bis an die Kasse. Gegenwartslyrik mag ich auch nicht.

Weil ich mich für Politik und Gesellschaft gleichermaßen gar nicht interessiere, kaufe ich keine Bücher, die entweder direkt diese Themen betreffen oder aber im Gewande des Romans gesellschaftliche Probleme thematisieren, im schlimmsten Falle getragen von der Hoffnung, der empörte Leser werde hierzu eine Position entwickeln und den Misstand abstellen. „Groß angelegte Panoramen der Gegenwart“ oder so ähnlich, erwerbe ich deswegen nie, und zudem – das nur nebenbei – mag ich keine Bücher über Freaks, außer sie sind exorbitant unterhaltsam. Eine weitere Abneigung gilt Büchern, in denen Hitler vorkommt.

Weil man im Bett schneller ermüdet als am Schreibtisch, scheiden auch die meisten Bücher aus, auf denen seitenweise nichts passiert. Langweilige Bücher lese ich auch dann nicht weiter, wenn man mir von berufener Seite ihre Kunstfertigkeit preist.

Am Ende bleibt nicht viel über bei einem Rundgang bei Dussmann, und wenn man tage- ja wochenlang liegt, ab Montag nämlich auf Kreta, dann steht man da, die mitzunehmenden, bereits vorhandenen Bücher sind nicht allzu zahlreich, und dankbar ist man für Benennungen, welche neu oder alt, Roman oder Sachbuch, sein mögen, aber nur eins sein müssen:

Im Liegen lesbar.

Am Vorabend der Schlacht

Patrick Leigh Fermor, Die Zeit der Gaben

Es ist der Winter 1933, in den aufgebrochen wird, doch der Reisende, der dreißig Jahre später seine Erinnerungen aufschreiben wird, wird von einem anderen, einem älteren Deutschland erzählen, als all die anderen, die von den Jahren berichten werden, die letztlich auch dem Deutschland Patrick Leigh Fermors ein Ende in Schutt und Asche, Scham und Schande bereiten werden. Mag es am Alter des Reisenden liegen, der achtzehnjährig Englands grüne Hügeln verlässt, um bis Konstantinopel zu wandern, mag es eine ausnehmende Naivität in politicis sein – das hässliche Deutschland jener Jahre scheint nur in Fetzen auf, in grellen, brutalen Flecken auf einem Bild, das idyllisch ist, rotwangig und gutmütig, und in dem die Äpfel schwer und golden des Reisenden Weg zu säumen scheinen, auch wenn die Wanderung durch ein winterliches Deutschland führt.

Kurs vor Weihnachten überquert Patrick Leigh Fermor den Ärmelkanal. Von den ehrwürdigsten Privatschulen der britischen Inseln geflogen, die Offizierslaufbahn in Sandhurst gar nicht erst ernsthaft begonnen, beschließt der Sohn eines britischen Kolonialbeamten, Europa zu bereisen. Zu Fuß sollen Mitteleuropas alte Wege beschritten werden, und Freundlichkeit, Hilfbereitschaft und eine versunkene Gastfreundlichkeit von einnehmender Arglosigkeit geleiten Patrick Leigh Fermor den Rhein abwärts, durch die Niederlande erst, durchs Rheinland, Baden, Bayern, über Österreich und Tschechien bis Ungarn und weiter, weiter bis an die Hohe Pforte und zurück. Vier Jahre wird die Reise dauern, deren erste beide Teile bereits als Buch erschienen sind. Ein dritter soll folgen.

Es ist ein märchenhaftes Deutschland, das der Brite durchquert. Die alten Schlösser öffnen sich dem Wanderer, der durch Empfehlungen angekündigt ein warmes Willkommen bei einer schon verblassenden Aristokratie erfährt, die weiß, dass ihre große Zeit vorbei ist, und deren Schlösser beginnen, zu verfallen. Öffnen sich keine Türen, so übernachtet er schon einmal bei der Heilarmee, in der einen oder anderen Scheune, und in Gasthöfen, hinter deren Butzenscheiben Bier und Wein, kümmelbestreutes Brot, frische Butter und Schinken auf ihn warten.

Freundlichkeit erfährt der Reisende von Unbekannten, von Arbeitern wie Grafen, vom behäbigen, selbstbewussten Bürgertum, seinen höheren Töchtern und alten Herren, wie von Bauern und Vagabunden. Schwer, atmend wie ein Tier im Winter schläft die alte Erde an Rhein und Donau und die Aufgeregtheit dieses Jahres scheint sehr fern, selbst dann, wenn der junge Engländer ins Wien der letzten, verzuckenden Zwischenkriegszeit gerät, wo ein rauschender Fasching gleichwohl präsenter erscheint als die Schreie der sterbenden Marxisten im Karl-Marx-Hof.

Nicht die Unruhe der Dreißiger, sondern die Unruhe einer länger versunkenen Zeit, der Landsknechtjahre, der Holbein, Cranach und Dürer, das Deutschland des Grünwald-Altars, der Schlösser und Burgen steht vor dem Wanderer noch einmal auf. Die leeren Felder scheinen belebt von längst vergangenen Schlachten mit Piken und Hellebarden, berühmten Schwertern und ihren noch berühmteren Besitzern, und die Herren des Dreißigjährigen Kriegs sind präsenter als die, die dem kommenden Krieg gebieten. Unter den verschneiten Haseln, den Ulmen und Buchen, der Einsamkeit eines Friedhofs am Wegesrand, meint man die blonden Feen vom Rhein lachen zu sehen, und die grobe Fröhlichkeit der deutschen Renaissance sitzt stets mit am Tisch. Fast, so meint man, verbergen sich hinter den Schwänen verwunschene Prinzen, und die Weiden am Fluss beschatten das Rohr, aus dem Eichendorffs Taugenichts seine Flöte schnitzt.

Ein welt- und zeitabgewandtes Deutschland zeichnet Leigh Fermor, bieder, entschieden vormodern und verträumt. Es ist noch ganz das Deutschland der Madame de Staël, und dieses „noch“, die Risse und Brüche dieser versinkenden Welt, das Sinken und Neigen selber, werden farbig unter den feinen, impressionistischen Federstrichen des in der britischen Welt bekannten Reiseschriftstellers, der die Farben des winterlich verwesenden Himmels, der saftigen, grausigen Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts, der Kathedralen und der Kirchen im rührendsten Bauernbarock, den Geschmack von Luft und Wasser, die verwitterte Pracht vergehender Städte, heiterer, eulenspiegelhafter Episoden ebenso zeichnet wie das unterirdische Grollen, das den Fahrenden durch alle Länder begleitet.

Es mag die Wehmut des Untergangs sein, die dieses – leicht zu lesende, einnehmende – Buch verzaubert. Das letzte Atmen am Vorabend der Schlacht, aus dessen Stürmen ein nüchternes, entzaubertes Land hervorgehen wird, voll der Stadtsparkassen und Oberstufenzentren, in dem breite Schneisen aus Beton den spitzweghaften Charme der Städte begraben. Es werden unserer Sehnsucht Glocken sein, die klingen nach einem Deutschland voll der Märchen und Legenden, nach den Bischöfen in ihren Burgen und der Biederkeit der Bürger in den kleinen Landstädten hinter alten Mauern. Die Zeit der Rosenstöcke, der Lieder (es wird ständig gesungen auf dieser Reise), der goldenen Trauben der Romantik neigt sich lächelnd vor dem Leser, und dass wir es besser zu wissen vermeinen, dass das harte Leben der Bauern, die Ungerechtigkeit und Enge der Verhältnisse, die Borniertheit der Bürger und der Hochmut der Aristokratie in anderen Büchern glaubhaft versichert werden, ändert nichts an dem Heimweh, das dieses Buch hervorruft, an dem Neid sogar auf diese von Jugend und einem halben Jahrhundert besonnte Rückschau auf ein vergangenes Land.

Patrick Leigh Fermor
Die Zeit der Gaben
1975

Madame entspannt sich

Auf dem Rücken liegend geht es etwas besser. Auf der Seite dagegen pocht und sticht es, und ich fahre mit der flachen Hand ein paarmal über meinen Brustkorb, um die Regelmäßigkeit der Herztöne zu prüfen. Es sieht nicht gut aus. Besorgt – Tiere haben ein feines Gespür – sitzt auf dem Sessel neben meinem Bett der Kater. Er wird es schwer haben, wenn ich nicht mal mehr bin.

Gegen eine ernsthafte Erkrankung spricht immerhin, dass diese Beschwerden zwar regelmäßig, aber nur, also ausschließlich und ansonsten nie, im Urlaub auftreten, und zudem nicht in jedem Urlaub, sondern nur während längerer Phasen freier Zeit daheim. Verlasse ich die Wohnung, sind die Schmerzen wie weggeblasen. Auch führen Zigaretten nur bei Konsum allein zu Hause zu Beklemmungen im Brustkorb und einem brennenden Gefühl im Mund.

In der Badewanne lässt der Schmerz nach. Leider fällt mir, da bin ich schon ganz schrumpelig, Leo Perutz‘ dritte Kugel ins Wasser, weicht auf, und ist bei Gefahr des Zerreißens für heute nicht mehr lesbar. – Ob man Bücher föhnen sollte?, frage ich mich, ein bißchen verärgert über die Leseverzögerung, und greife dann doch, eingehüllt in J.‘s neuen Bademantel, zum nächsten Buch im Stapel.

Bei Thomas Glavinic letztem Roman, mir als amüsant empfohlen, geht es gleich auf Seite 1 um die Furcht vor Erkrankung. Hodenkrebs lässt mich kalt!, befehle ich mir, und verbiete mir jeden Gedanken an diejenigen Krankheiten, die Frauen statt dessen befallen. Sterben eigentlich mehr Frauen an Brust- als Männer an Hodenkrebs? Wahrscheinlich ja, sage ich mir, und lege das Buch mit leisem Bedauern zur Seite. Nicht allein, nicht im Urlaub, sage ich mir, und versuche, eine halbwegs bequeme Stellung einzunehmen. Der Kater liegt immer noch neben dem Bett.

Ein bißchen blass bin ich auch, stelle ich fest und drehe den Spiegel vorsichtshalber um. Überdies bekomme ich auf dem rechten Augenlid andere Falten als auf der linken Seite. In Ansehung meines nahen Todes ist aber auch das egal, beschließe ich und vereinbare telefonisch einen Termin im Hedwig-Krankenhaus. Ja, bitte vollständiger Check-Up.

Zwei Stunden später sage ich wieder ab. Wozu das alles. Die Beine eng an den Oberkörper gezogen liege ich auf dem Sofa und lese Vizinczey. Wie ich lernte die Frauen zu lieben. Neben mir schläft immer noch Kater Willy und tritt mir ab und zu träumend in den Bauch.

Vizinczeys reife Frauen sind wahrscheinlich jünger als ich, fällt mir ein. Die Ansichten über das weibliche Alter haben sich bekanntlich etwas verschoben im Laufe der Jahre. Wahrscheinlich ist Strauss‘ Marschallin Werdenberg jünger, mutmaße ich besorgt um mein künftiges Liebesleben und drehe den Spiegel wieder um. Nur eine kurze Kontrolle. Nun schmerzt es wieder. Beim plötzlichen Aufspringen, als das Telefon schellt, schmerzt es erst recht.

„Was machst du gerade?“, fragt die J. und schlägt einen Museumsbesuch vor. „Als Exponat?“, verkneife ich mir gerade noch.

„Nichts. Mich entspannen.“, antworte ich statt dessen.
Der Kater grinst.

Ein zum Rühmen Bestellter

Bücher des Jahres (3)

Friedrich Sieburg, schreibt Marcel Reich-Ranicki 1967, habe mehr Geist als Format besessen, mehr Macht als Autorität, und seine Koketterie habe seinen Geschmack beeinträchtigt. Die zeitgenössische Literatur habe Sieburg – immerhin einer der einflussreichsten Kritiker gerade der Fünfziger Jahre – verkannt. Weder Marie-Luise Kaschnitz, noch Koeppen, weder Nossack noch Hildesheimer, weder Dürrenmatt nicht Peter Weiss, Schnurre, Eisenreich noch Johnson habe er auch nur einer Erwähnung wert gefunden. Das rasche Verblassen des Renommés des damals erst einige Jahre verstorbenen Kritikers der FAZ erkläre sich zumindest maßgeblich auch aus dieser Abkehr von der Gegenwart.

Uns aber, die diese vierzig, fünfzig Jahre vergangene Gegenwart nicht mehr im selben Maße als maßstäblich gilt, vermag dieses Diktum wenig zu beeindrucken. Kein Buch der als Beleg für das mangelnde Verständnis der Gegenwartsliteratur von Reich-Ranicki herangezogenen Autoren gehört zu jenen, die ich auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen würde, und insbesondere diejenigen Schriftsteller, die man der Gruppe 47 zuordnet, haben mich herzlich gelangweilt. Die Abkehr dieser Autoren von einer Tradition, deren moralische Diskreditierung ihren ästhetischen Glanz aus unserer Sicht nicht zu zerstören vermochte, erscheint uns aktuell nicht mehr als verdienstvoll, und so könnte es durchaus erstaunen, dass eine Renaissance derjenigen Essais Sieburgs, die nicht nur der schnellen Vermittlung des tagesaktuell Lesenswerten dienen, bisher – dem konservativen Zeitgeist zum Trotz – ausbleibt. Ganz unerklärlich ist dies allerdings nicht:

Mag auch das allzu Saloppe beginnen, ein wenig zu langweilen, und die Annäherung der Schrift- an die gesprochene Sprache uns nicht mehr als frisch, als neu und unmittelbar erscheinen: Das allzu gravitätische, allzu parfumierte Deutsch, mit dem Sieburg all das, was er beschreibt, verpackt wie die Verkäuferin einer teuren Boutique ein Stück Seife in drei Lagen Tüll und glänzendes Papier einwickelt, versperrt die Sicht auf den Gegenstand seiner Betrachtung oftmals nicht wenig. Entsprechend erfährt man etwa aus Sieburgs Frankreich-Büchern wenig über Frankreich, kaum etwas über die französische Gesellschaft, nicht viel über die französische Literatur, und auch die Charaktere, die Sieburg beschreibt, kann man sich nur mit Mühe vorstellen. Tatsächlich weiß man nach vollendeter Lektüre nur wenig mehr über das Paris der Zwischenkriegszeit als zuvor. Viel aber – und bisweilen lohnt dies den Kauf und die aufgewandten Stunden – erfährt man über den Autor.

Nicht besonders sympathisch erscheint freilich Sieburg selbst nach eigenen Zeugnissen. Auffallend die Larmoyanz, die fast alle konservativen Stimmen nach dem 2. Weltkrieg vereint, als habe man dieser Generation bürgerlicher Denker Unrecht getan, als man ihre Fehler und Verbrechen nicht auf der Stelle vergaß. Ich kenne keine Ausnahme: Der denkende Konservatismus der letzten 60 Jahre tritt einem stets mit einer leicht beleidigt wirkenden Miene entgegen, die es schwer macht, diese an sich nicht vollkommen unsympathischen Menschen posthum ernst zu nehmen. Sieburg ist hier keine Ausnahme.

Befremdlich auch der geradezu putzige Snobismus. Die Selbstgefälligkeit, mit der manche freilich gelungene Formulierung auch dort angebracht wird, wo sie der Natur der Sache nach keinen Glanz entfalten kann noch soll, strengt auch den bereitwilligen Leser mächtig an, und doch, jeweils kurz vor dem Moment, in dem man zu einem anderen Buch greifen würde, das den Nachttisch beschwert, berührt ein poetisches Bild, ein schöner, demütiger Satz, und man schlägt Unsere schönsten Jahre, die Bilanz eines halben Lebens in Frankreich, trotz des scheußlichen,überaus kitschigen letzten Kapitels mit einem kopfschüttelnden Lächeln zu.

Auf dieses Päckchen Nachsicht sind die Biographien Sieburgs keinesfalls angewiesen. Die Betrachtung Robespierres, vor guten zehn Jahren gelesen, kann all das für sich in Anspruch nehmen, was die literarische Biographie an Vorzügen für sich geltend machen kann. Für diesen Satz hätte Sieburg mir Strychnin in den Sekt geschüttet, indes meine ich, behaupten zu dürfen: Wer an Stefan Zweigs Biographien nichts als den allzu schlamperten Stil bemängelt, wird mit Sieburg glücklich werden. Ein Sinn für das Dramatische, für den großen Moment, für die welthistorische Sekunde, in der sich aus dem Alltäglichen das Überlebensgroße formt, und ein Stil, der sich – zumeist wenigstens – dem Gegenstand der Betrachtung unterordnet, macht hier das Lesen zum Vergnügen. Die große Biographie Chateaubriands, die Darstellung der hundert Tage der Rückkehr Napoleons: Eine fast ungeschmälerte Freude, bei allen Abweichungen der Art und Weise, wie wir Geschichte betrachten, stets angenehme, nie langweilige Stunden.

Großartig auch die Miniaturen über die großen Toten. Maupassant. Heine. Kleist, in denen Sieburg sich, bewahrend und bewundernd, dem Geist einer Epoche, eines Menschen, dem Duft der Sprache selbst nähert, um bisweilen all das, was wir als Leser spüren, ohne es fassen und ausdrücken zu können, in einer einzigen, einer schlagenden Formulierung zärtlich zu umfassen.

Hier mag der Kreis sich schließen. Der – gleichfalls verblassenden – Gegenwart seiner Tage mag Sieburg das Angemessene schuldig geblieben sein. Dort aber, wo die ferne Vergangenheit nach Bewunderung verlangt, nach Liebe sogar, dort bleiben ein paar Aufsätze, der Abdruck einer Sehnsucht nach dem ganz gerundeten Schönen, nach dem, was an Sprache der Anbetung wert erscheint, und wenn es auch nicht mehr sein mag, was bleibt: Für diese zwei, drei schmalen, längst vergriffenen Bände lohnt es sich, diesen einst mächtigen Mann nicht ganz und gar zu vergessen.

Friedrich Sieburg, Unsere schönsten Jahre, 1950;
ders., Robespierre, 1935;
ders., Chateaubriand, 1959;
ders., Napoleon, die hundert Tage, 1956;
ders., Nur für Leser. Jahre und Bücher, 1974 (Anthologie).

alle antiquarisch

Lew Tolstoj, Die Kreutzersonate

Bücher des Jahres (2)

Posdnychev, erzählt uns Tolstoj, hat sich nach oberflächlicher Bekanntschaft unglücklich verheiratet. Ständig streitet sich Herr Posdnychev mit seiner Frau, die er kaum mehr liebt, gleichwohl aber begehrt, und zeugt mit ihr ein Kind nach dem anderen. Schließlich übersiedelt die ganze Familie vom Land in die Stadt.

Dort – der einundsechzigjährige Tolstoj ist kein Freund des Stadtlebens – ist es dann ganz aus mit dem Eheleben der Posdnychevs, wie es sich der erzählende Eheherr vorstellt. Frau Posdnychev soll nach ärztlichem Rat keine Kinder mehr bekommen, und blüht, endlich und nach Jahren ohne Säugling an der Brust, wieder auf. Eine reife, üppige, nach wie vor schöne Frau führt uns Tolstoj vor, eine besorgte, wohl gute Mutter, eine den Attacken ihres Mannes hilflos ausgesetzte Frau, deren Zorn letztlich wohl nichts als eine Reaktion auf die auch für den Leser kaum nachvollziehbaren Launen ihres Mannes darstellt.

Als ein Herr Truchatschevskij auftaucht, ist eigentlich schon alles vorbei. Als habe Posdnychev nur auf einen Anlass gewartet, zieht er den neuen Bekannten förmlich an den Haaren zu seiner Frau, lässt beide allein, schafft Gelegenheit, wartet, umkreist seine Frau wie ein Greif seine Beute, und stößt schließlich zu. Mit der ganzen erzählerischen Meisterschaft des 19. Jahrhunderts legt Tolstoj uns die Hand um den Griff eines Dolchs, führt uns in die Wohnung der Eheleute, und lässt uns schließlich zustechen, links unter den Rippen, den Widerstand des Korsetts überwinden, und ihr das Fleisch zerschneiden, bis sie sinkt, blutet und stirbt. Mit blauen Schatten unter den Augen zeigt Tolstoj am Ende die tote Frau, am Bett ihr Mann und Mörder.

Einen widerlichen Kerl führt uns Tolstoj mit diesem Posdnychev vor, und lässt ihn zudem allein erzählen, unangenehm nah, gefiltert nur durch die dürftige Rahmenhandlung einer Zugfahrt. Schwer auszuhalten ist die Suada, in die er seine Geschichte einbettet, und auf die es Tolstoj ankam, wie es scheint, denn immer wieder führt er uns, führt er Posdnychev zurück zu seiner Lesart der Dinge.

Dabei ist es nicht die Eifersucht des Mannes, die uns anwidert. Kaum ist es die Raserei. Abstoßend ist vielmehr die Selbstgerechtigkeit, mit der Tolstoj seinen Posdnychev ausstattet, der – so will es der Erzähler – am Ende herausgefunden haben will, dass es die körperliche Liebe sei, die seine Ehe ruiniert und seine Frau umgebracht habe. Etwas reichlich Selbstgefälliges, Fettiges, hat Tolstoj seinem Geschöpf mitgegeben, wie es da sitzt, im Eisenbahnabteil und schwadroniert, etwas Rechthaberisches und gleichzeitig Heuchlerisches, denn wenn die Gesellschaft mit ihrer Akzeptanz der Leidenschaft schuld am Tod der armen Frau gewesen sein soll, so sinkt wohl die Verantwortung des Posdnychev im gleichen Maße nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren.

Dass der von Posdnychev vertretene Erklärungsansatz, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz genossener Geschlechtlichkeit habe den Tod seiner Frau verursacht, nicht überzeugt, versteht sich fast von selbst. Dass abseits moralischer Fragen die fehlende Logik im Verhältnis von Ursache und Wirkung an dieser These nicht bereits 1889 aufgefallen sein soll, ist an sich unvorstellbar. Dass der Schöpfer von Posdnychev und seiner Frau dies nicht bemerkt haben will, wie aus einem 1890 verfassten Nachwort Tolstojs hervorgeht, streift das Unfassbare, und nur die Verblendung, die mit starken Überzeugungen stets einherzugehen pflegt, erklärt, dass Tolstoj offenbar tatsächlich der Überzeugung war, ein wirksames Plaidoyer für die Keuschheit verfasst zu haben, für die es gute Argument gibt, nicht zuletzt die Bequemlichkeit, kaum aber jene, von denen Tolstoj spricht.

Zudem kaum zu erklären und eine – sicherlich existierende – eigene Notiz wert ist der immense Eindruck, den der schmale Band bei Zeitgenossen hinterlassen haben soll. Mit der psychologischen Disposition, die diesen Erfolg verursacht hat, möchte man nicht gefrühstückt haben, und den Einfluss der Erzählung kann man sich zudem kaum als wohltuend vorstellen. Sollte allerdings neben diesem erzieherischen Effekt ein ästhetisches Vergnügen den Erfolg der Novelle mitbegründet haben, so wäre auch dies nicht absolut, aber relativ zu den anderen Werken des Autors nur bedingt nachvollziehbar, gleichwohl nicht völlig abwegig, denn gelangweilt habe ich mich tatsächlich keine Zeile dieses ansonsten – sofern dies auszusprechen verstattet ist – etwas ärgerlichen Buches.

Lev N. Tolstoj, Die Kreutzersonate.
1889, € 7,–

Thomas Karlauf, Stefan George

Bücher des Jahres (1)

Mit Stefan George geht es einem ja wie mit manchen entfernten Bekannten, die man ständig irgendwo zufällig trifft. Man geht also meinetwegen einkaufen, Kaisers am Teutoburger Platz, und an der Käsetheke steht der W. und kauft ein halbes Pfund Gorgonzola. „Hallo W.!“, grüßt man über seinen Wagen hinweg, denkt sich nichts dabei, aber zwei Tage später trifft man den W. wieder, diesmal bei einem Konzert.

Trifft man den W. in den nächsten Monaten auch noch im Alten Museum, in der U 2, und abends im 103 so rein zufällig und nebenbei, und versucht der W. auch nicht, einen in Gespräche zu verwickeln, weil er einen heimlich liebt, und die Treffen keineswegs zufällig zustande kommen: Dann schätzt der W. ganz offenbar und rein zufällig lauter Dinge, die man selber gleichfalls mag, und wohnt zudem auch noch um die Ecke.

Ähnlich Stefan George: Man liest, Jahre ist’s her, etwas über die Wirkungsgeschichte des Caius Iulius Casesar, und siehe da: Stefan George schaut, leicht versteckt, Friedrich Gundolf über die Schulter, an dem vorbei man diesbezüglich ja kaum kommt. Man blättert, irgendwann als Studentin, in einer Geschichte des deutschen Widerstandes und sieht auf einer Photographie den alten, etwas krötenhaften Dichter mit den sehr, sehr jungen Brüdern Stauffenberg, die wahnsinnig sportlich aussehen und unsympathisch rotwangig und robust. Friedrich II., quasi persönlich (und großartig) erfunden von Ernst Kantorowicz. Der geliebte Hofmannsthal. Max Weber: Wo man hinkommt, George ist schon da, und sieht etwas gelangweilt, titanisch mit wallendem, grauen Haar über einen hinweg. George hat viele Leben begleitet, streckenweise manchmal, manchmal prägend, deren Ertrag mir etwas bedeutet, wie man so sagt.

Einmal herüberzugehen, und dem Dichter die Hand zu schütteln – schön haben’s geschrieben, herr dichter, so in etwa – verbietet sich in diesem Fall von selbst. Ich habe mich nie länger oder intensiv mit George beschäftigt. Auch das Lächerliche, das speziell den Kosmikern auch in den Augen Gutwilliger anhaftet, diese immer etwas anrüchige geistige Nähe zu unguten Gefilden: Man hält sich fern von denen, die etwas zu lauthals den Dichter loben und schätzt die Gedichte eher aus sicherer Entfernung.

Wie es aber so geht mit dem entfernten Bekannten W. – ganz umsonst trifft man sich nicht. Wer schätzt, was man selber schätzt, wer in den selben Bars ein Stammgast ist, der ist gar so weit weg nicht, und so liest man die vielgelobte Biographie von Thomas Karlauf gern und mit durchaus gesteigertem Interesse, leise kopfschüttelnd von Zeit zu Zeit, grammweise befremdet, bisweilen abgestoßen von diesem aufs Äußerste stilisierten Leben und dem Sicht-Ernst-Nehmen in einem sehr, sehr unüblichen Maße, und doch mit einem spürbaren Neid auf den Besitz einer gefügten, steinernen Vorstellung von sich, von der Welt, und von der Weise, wie die Welt sich um einen zu drehen hat, wenn man ein großer Dichter ist, denn das – und dies tritt in dieser ansonsten sehr gut lesbaren, sehr angenehmen und nichts aussparenden Biographie ein wenig in den Hintergrund – das war er eben auch, um nicht zu sagen: Dies ist des Pudels Kern, und alles andere nur flüchtige, nur zeitliche Verkleidung.

Thomas Karlauf, Stefan George – Die Entdeckung des Charisma.
2007, € 29,95.

Das tägliche Leben

tua res non agitur

Von keiner europäischen Epoche, will mir scheinen, ist unsere Vorstellung so präzise wie von den knapp 150 Jahren zwischen dem Aufstieg Napoleons und dem Tod Adolf Hitlers. Dies mag zum einen an den technischen Möglichkeiten der Dokumentation liegen. Überdies fördert die zeitliche Nähe und die massenhafte Existenz von Zeitzeugnissen in Form von Tagebüchern, Briefen etc. aus so gut wie allen europäischen Regionen und Gesellschaftsschichten unsere Vorstellung, wie das Leben der Menschen tatsächlich verlaufen sein muss. Zu einem nicht geringen Teil aber beruht unsere Kenntnis dieser Jahrzehnte auf der Präzision ihrer Literatur.

In jenen Jahren, so wissen wir, gelangt der Roman zu einer seither kaum mehr übertroffenen Meisterschaft, die Gegebenheiten des äußeren Lebens mit einer Genauigkeit abzubilden, die es uns ermöglicht, den Speiseplan einer Lübecker Kaufmannsfamilie ebenso nachzuvollziehen wie die genauen Umstände des Aufstiegs eines französischen Journalisten, die Urlaubsgewohnheiten einer Wiener Arztfamilie oder die Art und Weise, wie ein russischer Aristokrat Weihnachten feiert. Wir wissen, welche Vorbereitungen ein Ball in der britischen Provinz erfordert. Wir kennen aber auch nicht minder die Ängste eines Pragers Angestellten, die Inkonsequenzen einer Gesellschaft, die eine russische Dame am Ende unter die Eisenbahn bringen, und hören den Lügen dieser Epoche ebenso zu wie ihren Witzen, ihren Wahrheiten, ihren Traurigkeiten und ihrem Tod. Wir sind, mit einem Wort, mit dem alltäglichen Leben des Bürgers des 19. Jahrhunderts und des frühen 20. in hohem Maße vertraut.

Mit dem Krieg, mit der Gruppe 47 vielleicht, vielleicht auch noch später, hört die deutschsprachige Literatur langsam erst, dann schneller auf, das alltägliche Leben zu beschreiben. Es scheint, als ob insbesondere das Leben des Durchschnittsbürgers stark an Interesse für diejenigen verloren hat, die es zwar meist – dem eigenen Herkommen nach – kennen müssten, es zu beschreiben aber wenig Liebe zeigen. Spielt ein Roman doch einmal in der Welt der dauergewellten Vorzimmerdamen, der rheinischen Notare oder der Sachbearbeiter in einer großen Behörde, so scheinen die Autoren ihrem Sujet nie ganz zu trauen.

Nun gibt es sicherlich keinen Grund, die Welt eines badischen Hosenfabrikanten langweiliger zu finden, als die Welt der vermutlich überaus banalen Madame Bovary. Gleichwohl flüchtet die Literatur entweder in die vermeintlich pittoreske Welt an den Rändern der Gesellschaft, die – so meine Vermutung – keinesfalls so beschaffen sein kann, wie sie in den Romanen insbesondere der letzten drei Jahrzehnte auftaucht. Das Leben auf der Straße mag des Erzählens wert sein – Gründe, es interessanter, reicher oder vielschichtiger zu finden als das Leben desjenigen, der sich Gedanken nicht über das „Ob“ eines Bettes zur Nacht, sondern über das „Wie“ seiner Schlafzimmereinrichtung macht, sind nur schwer ersichtlich.

Flüchtet die Literatur nicht aus dem Leben der Mittelschicht (die gerade amerikanische Autoren zeitgleich durchaus zu inspirieren scheint), so misslingt die Darstellung des alltäglichen Lebens oft aus einem etwas überraschenden Grunde: Die Verachtung des Bohémiens für den Bürger ist weder neu, noch war das 19. Jahrhundert frei von diesem Dünkel. Allerdings scheint es den Autoren jener Jahre besser gelungen zu sein, der Kraft ihrer Worte vertrauend, auf übertreibende, ihren Gegenstand verzeichnende Darstellungen zu verzichten. Dem gegenüber entspricht die Darstellung des Alltagslebens der letzten Jahrzehnte und der unmittelbaren Gegenwart keineswegs der Realität, noch sind die Protagonisten so flach, so dumm oder so brutal, wie dies die Gegenwartsliteratur nahelegt. Ob hier Unerfahrenheit oder schlichte Arroganz die Quelle der Fehldarstellung bilden, gehört zu denjenigen Dingen, über die nachzudenken wohl ebenso wenig brächte wie ein paar direkte Fragen.

Dieses etwas eigenartige Verhältnis zur bürgerlichen Realität führt zu sonderbaren Konsequenzen: Da der Held einer tragischen Liebesgeschichte offenbar nicht Mitarbeiter der Schadensabteilung einer Versicherung sein darf, und die erfolgreiche Umsetzung einer Firmenfusion keinen Gegenstand von Romanen bildet, spielt ein guter Teil der Gegenwartsliteratur in einer Welt, die es so nicht gibt. Die Einbettung in eine vollkommen künstliche oder schlicht nur angedeutete Umgebung enthebt den Autor der Notwendigkeit, eine realistische Darstellung der Welt zu liefern, wie sie aussieht, wie sie riecht und schmeckt, und wie diejenigen, die sich in ihr bewegen, denken, wie sie lieben, was sie ärgert, und wie sie sprechen. Das in der deutschen Kunstprosa der Gegenwart gesprochene Idiom ist vollkommen artifiziell.

Im Ergebnis findet eine Dokumentation des Alltagslebens, wie sie für das 19. Jahrhundert mit einer fast beängstigenden Lückenlosigkeit existiert, nicht mehr statt: Die ernste Literatur, die auf Kritiken und Preise schielt, will ihre Kunstfertigkeit nicht auf das Leben der Mehrheitsgesellschaft verschwenden. Die Unterhaltungsliteratur ist, soweit ich sie kenne, dazu nicht in der Lage. Die Tragik, die Ambivalenz und das ganz normale Leben des Bürgers dieser Tage findet damit keinen Niederschlag in der anspruchsvollen zeitgenössischen Literatur, die den Wunsch, ihre Zeit abzubilden, aufgegeben zu haben scheint zugunsten eines Anspruchs, der viel mit Artistik zu tun hat, und wenig, will mir scheinen, mit dem Wille, uns aufzubewahren mit unseren Abenteuern, unseren Träumen, unseren Fehlern und Verbrechen und dem, was unsere Tage tatsächlich füllt, und so wird unsere Welt mit uns sterben.