Über Liebe

Die B. wird offensiv (Ende Mai, Teil 1)

„Ihr kommt ja wenigstens auch mal vor die Tür.“, stöhnt die B. und beklagt ihre Internierung in einem Büro, welches sie allabendlich eigentlich nur zum Schlafen verlässt. Sie, so behauptet die B., treffe beruflich keine männlichen Leute, weil das entweder ihr Chef abwickele, oder ohnehin nur Verträge in vielfach abgeänderter Fassung hin- und hergeschickt würden. Privat dagegen existiere sie aus Zeitmangel faktisch nicht mehr, und das Internet habe sich als ein für die Partnersuche völlig ungeeigneter Ort erwiesen, an dem normale und ungebundene Leute männlichen Geschlechts schlicht nicht verkehren.

„Ha!“, widerspreche ich. Ich komme zwar einigermaßen herum, erkläre ich der B. Indes treffe ich mit großer Ausschließlichkeit vorwiegend alte, dicke Leute in schlechten Anzügen, deren Libido nicht zu denjenigen Dingen gehört, die man sich einmal aus der Nähe ansehen will, und junge, überaus ehrgeizige Leute, die mich aus irgendwelchen Gründen merkwürdig finden und nie ansprechen. Diejenigen aber, die Kontakt aufnehmen, sind mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verrückt und wollen mir im 8.50 von Berlin Tegel nach Frankfurt am Main aus einem Buch von Coelho vorlesen, oder im ICE meine Füße photographieren.

Auch bei ihr, stimmt die D. zu, sei das nicht viel anders. Der letzte Herr, der sie am Rande einer Tagung angesprochen habe, habe bei einem von ihrer Seite absichtslosen Kaffeetrinken aus heiterem Himmel den Wunsch geäußert, sie einmal unbekleidet zu betrachten und versprochen, dabei einige Meter Abstand zu halten. Ein anderer habe sich nach einem längeren Gespräch auf einem Empfang nie wieder gemeldet, nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie nicht evangelisch sei.

„Ihr sucht ja auch nichts.“, schneidet die B. weiteren Referaten das Wort ab. Sie allerdings werde nun ihre Strategie vollkommen ändern. Sie werde jetzt offensiv. „Noch offensiver?“, fragt die D., die schon den Versuch der Anbahnung per Internet als geradezu schamlos direkt erachtet hatte. Die B. nickt.

Sie werde, führt die B. aus, neue Kleider kaufen, die tiefausgeschnitten zu sein haben, und – so habe sie es beobachtet – direkte Kontaktaufnahmen eher fördern als dezente, rosafarbene oder weiße Blusen. Sie werde jeden anstrahlen, der halbwegs gut aussehe, und sobald einer zurücklächele, auf ihn zuschreiten und ihn in Gespräche verwickeln. Sie werde immer dann, wenn sie ein weiteres Treffen angenehm fände, nach Telephonnumern fragen und Termine anbieten.

Und wenn es dann nicht hinhaue, dann schwöre sie der ganzen Veranstaltung ab.

Als wir lebendig waren

Nur noch einmal irgendwem entgegenatmen, der durch das Warten zu jemand ganz besonderem wird. Noch einmal, ach, nur zehn Minuten, diese Unruhe, die einen ganz und gar erfüllt. Das Zittern, wenn man den Hörer in der Hand hält, um niemals anzurufen. Die zaudernde Hand auf der Maus (Möchten Sie die Änderungen speichern?).

Das Gefühl, lebendiger zu sein als sonst. Vor dem Badezimmerspiegel zu stehen, und es wäre nicht egal, was man darin sieht, und man würde leiden wie früher, nicht schön zu sein, und niemand, dem die Herzen vor die Füße fallen.

Jemandem gegenüberzusitzen, und es wäre lebens-, nein: sterbenswichtig, was er denkt. Was hält er von mir?, die Freundinnen zu fragen, die zuckersüße, ganz und gar gelogene Gedanken erfinden, und um so gespannter vor dem Telephon zu sitzen, und keiner ruft an.

Zu warten. Zu leiden. Zu vergessen. Und dann alles von vorn. Und sich nicht vorstellen können, es ganz und gar für unmöglich halten, dass es eines Tages vorbei sein könnte, weil die Glocken reißen, der Boden ergraut, und das Meer nur noch leeres Wasser sein wird, wüst wie der Mond.

Der Nachbar

Meistens sah sie den Nachbarn nur so ungefähr von der Brust abwärts. Seine Wohnung lag im Hinterhaus, vierter Stock, und sie wohnte ihm schräg gegenüber. Vorderhaus, 5. OG. Ganz sah sie ihn meistens nur, wenn er am Küchenfenster stand, rauchend, und dabei manchmal den linken Arm ausgestreckt an den Fensterrahmen hielt, den Kopf schräg an den Oberarm gelehnt.

Dunkelblond war der Nachbar, vielleicht 25, vielleicht ein bisschen älter, und offenbar Student. Manchmal sah sie ihn, oft nur in Jeans und ohne T-Shirt schon im April, von ihrem Schreibtisch aus am Küchentisch sitzen, das Notebook aufgeklappt, einen Kaffeebecher in den Händen.

Der Küchentisch an dem er öfters saß – sie sah dann alles außer seinem Kopf – war aus Kiefer. Überhaupt war so gut wie alles, was er besaß, aus Kiefer, und in dem Wohnraum, in dem er auch schlief, hing ein bunter Druck, der offenbar ein Südseemotiv von Paul Gauguin abbildete. Um welches Bild es sich handelte, konnte sie allerdings nicht ausmachen. Sie sah nur die braunen, gemalten Füße von Frauen, die auf einer gelben Fläche ruhten.

Eine Freundin schien er nicht zu haben. Zumindest sah sie nie eine Frau bei ihm. Er aß billiges Essen, einmal sah sie sogar eine geöffnete Dose auf der Küchenplatte schräg vor dem Fenster, und ab und zu kamen männliche Freunde, tranken Bier und gingen wieder. Abends verließ er die Wohnung meist und kam zwischen eins und zwei zurück.

Monatelang, das ganze Frühjahr eigentlich, sah er nicht einmal auf. An einem Morgen im Mai jedoch, er lehnte am Fenster und rauchte, fiel ihr ein Topf Basilikum von der Fensterbank und zerschellte an einem der Fahrradständer im Hof. Einige Sekunden lang starrte er nach unten, wo blaue Scherben liegen musste, die sie nur sehen konnte, wenn sie sich so weit vorgebeugt hätte, wie sie es ungern tat. Dann schaute er auf.

Ernst habe er geschaut, ein wenig irritiert, so, als sei er überrascht gewesen, dass sie dort stand, und als sei es überhaupt erstaunlich, dass ein menschliches Wesen ein Stockwerk höher als er aus dem Küchenfenster sah. Sie lächelte, rief halblaut – er konnte sie sicher nicht hören – einen Gruß. Dann schloß sie das Fenster.

In den nächsten Wochen sah er öfter nach oben. Manchmal bemerkte sie seinen Blick, sah ebenfalls auf und grüßte mit einem flüchtigen Lächeln und ein paar Worten, von denen er nur die Bewegungen ihrer Lippen wahrnehmen konnte. Vielleicht nicht einmal das.

Auch nachdem er wusste, dass sie ihn sah, saß er mit freiem Oberkörper am Tisch. Wie zu den Zeiten, als er sich unbeobachtet glaubte, lief er nach dem Duschen, oder vielleicht auch einfach so, nackt durch den Raum, kratzte sich am Bauch, zog ein Handtuch über seinen Rücken, und einmal sah sie ihn, wie er sich eincremte, langsam und – wie ihr schien – nicht ohne Genuß.

Gelegentlich, schien es ihr Anfang Juni, ging er sogar nackt besonders langsam am Fenster vorbei. Einmal meinte sie sogar, seinen Blick zu spüren, als er wiederum nackt – nun, es war seine Wohnung – auf dem Küchentisch saß, und sie musste sich beherrschen, nicht so auffällig zu ihm herüberzuschauen, dass er es bemerkte.

Von Zeit zu Zeit, aber nur angezogen, lächelte er sie an und formte mit dem Mund einen Gruß. Ab und zu winkte er sogar, wenn er rauchte, und sie am Schreibtisch saß, und gegen Hochsommer war sie sich sicher, dass er sich für sie auszog, oder zumindest so, dass sie ihn sehen musste, und für ein paar Tage zog sie mit dem Notebook in eins der Zimmer zur Straße um, denn der Abgabetermin ihrer Magisterarbeit rückte näher, und ein nackter Nachbar schien ihr für die Einhaltung dringender Fristen kontraproduktiv.

Wenige Tage später saß sie wieder am gewohnten Platz. Er saß am Küchenfenster, telefonierte, trank Kaffee aus einem bunten Becher, und als er sie sah, lächelte er. Dann verließ er den Raum.

Als er wiederkehrte, setzte er sich ans Fenster. Er hatte ein Handtuch um seine Hüften geschlungen, rauchte, zog beide Beine an den Oberkörper und rieb sich mit den Händen die Knie. Gelegentlich sah er auf.

Sie winkte und grüßte. Sie ging in die Küche und trank Wasser, denn der Tag schien besonders heiß, und die Luft so trocken wie selten. Als sie wiederkehrte, saß er immer noch da. Das Handtuch allerdings hatte er abgenommen. Wie eine Frotteefahne, rot mit bunten Fischen, hing das Handtuch im Fenster. Neben dem Handtuch saß der Nachbar, ein wenig weißhäutig und nicht sehr muskulös, und trank seinen Kaffee. Minutenlang sah er nicht einmal auf. Einmal beugte er sich so weit nach vorn, dass sie dachte, er fiele vom Brett, richtete sich wieder auf, eine Zigarette zwischen den Lippen und zündete sie langsam und sehr, sehr umständlich an. Sie wollte nicht brennen, und ein Streichholz nach dem anderen warf er aus dem Fenster in den Hinterhof, wo Brennnesseln wuchsen und wilder Rhabarber.

Als er aufgeraucht hatte, warf er die Kippe den Streichhölzern hinterher. Einen Moment blieb er noch sitzen, bewegungslos, rieb wieder seine Knie, als würden sie schmerzen, und dann sah er auf. Sie nickte ihm zu. Er lächelte. Er sah weg, dann sah er wieder zu ihr hoch, und kurz bevor sie ging, Sekunden bevor sie das Fenster schloss, deutete er einmal mit der linken Hand – in der rechten den Becher – auf das Handtuch und in den dunklen Raum hinter dem Fenster.

Sie aber hatte das Fenster geschlossen und zog die Vorhänge vor, denn der Tag war zu heiß, und die Sonne zu hell, schon so früh am Morgen.

Defätismus

Nicht einmal das Vergnügen mache noch Spaß, erzählt die B.. Ablenken habe sie sich wollen von der ganze Misere, ein paar Wochen vor Weihnachten. Ausgegangen sei sie, und weil keiner mitwollte, eben allein. Im Würgeengel habe sie ganz allein einen Wodka Sour getrunken. Am Boxhagener Platz habe sie ebenso allein noch viel mehr getrunken, und mit irgendwelchen Leuten über irgendwas gesprochen. Sie könne sich nicht mehr erinnern. Quatsch halt, lacht die B., und kaut ihr Nigiri, als gelte es, jedes Reiskorn ganz, ganz fein zu zermalmen.

Schließlich saß im Lido in irgendeiner Ecke. Nach Tanzen war ihr nicht zumute. Nach noch mehr Alkohol aber auch nicht, nur ein bißchen reden wollte die B., saß herum, ließ sich ansprechen, erzählte irgendwas über Musik oder so, und hörte mit halbem Ohr jemandem zu, der neben ihr saß. Besonders deutlich sehen konnte sie ihn nicht. Zum einen war es dunkel, zum anderen war die B. schon ziemlich angetrunken, und groß interessiert hatte sie das alles nicht. Als der Fremde nach ihrer Hand griff, ließ sie sie trotzdem liegen.

„Ist das deine Wohnung?“, habe der Fremde sie am nächsten Morgen gefragt, als sie erwachte. Ziemlich nackt und sehr, sehr jung sei der Fremde durch ihre Charlottenburger Wohnung gelaufen, habe ab und zu mit dem Kopf geschüttelt, die Bilder an den Wänden angeschaut und die vielen Bücher. „Schöne Möbel hast du.“, hatte er gesagt. – „In meiner WG studiert auch eine Jura.“, hatte er ihren Schreibtisch kommentiert.

„Gefragt hat er nicht, wie ich alt ich bin.“, sagt die B. und knetet ihre Knöchel. 24 Jahre sei er alt gewesen, elf Jahre jünger als sie, teilt sie mit, und verschweigt, woher sie das weiß. Ein etwas wortkarges Frühstück sei es gewesen, und dann sei er gegangen. Nach einem zweiten Treffen hatte keiner gefragt.

„Ist das nicht trist?“, fragt die B. und sieht aus dem Fenster. Alt habe sie sich gefühlt. Alt und etwas schmutzig. Nicht wie die Prinzessin aus dem Märchen, nicht wie eine schöne, begehrte Frau, sondern wie eine fette, betrunkene Mänade. Wie die Knusperhexe, die den Hänsel abtastet, ob er schon schlachtreif sei.

Noch zwei, drei solche Affären, sagt die B., und dann gar nichts mehr, und am Ende allein in der Badewanne sterben, weil man nicht mehr rauskommt aus dem ganzen Schlamassel.

Was sie falsch gemacht hat, fragt sich die B. „Gar nichts.“, sage ich und suche nach ein paar beruhigenden Worten. – „Um so schlimmer.“, seufzt die B. und wirft einen Zehner auf den Tisch. Bis bald. Und 2008 werde auch nicht besser.

Da müsse man jetzt durch.

Die Motivation

Die eine, hört man, hat ihren Freund verabschiedet, weil er sie nicht heiraten wollte. Die andere, weil der ihre so unappetitlich aß. Eine andere hat die Trennung ausgesprochen, weil ihr Liebhaber so selten Zeit für sie hatte, seit er Vater eines Kindes geworden war, dessen Mutter beruflich viel eingespannt gewesen sein soll. Die Trennung meiner lieben Freundin, der X., von ihrem Liebhaber jedoch ist einzigartig bezüglich ihrer Motivationslage, und verdient eine ausführliche, öffentliche Würdigung ob ihrer Originalität. Sie spielte sich nämlich folgendermaßen ab:

Eines Tages, die X. und ihr Liebhaber lagen zu Bett, wurde es ihr langweilig. Langeweile, auch in Gegenwart geliebter Personen, kennt jeder. In Gegenwart von nicht direkt geliebten, wenngleich intim verbundenen Personen, scheint die Langeweile noch etwas häufiger aufzutreten, und so setzte sich die X. auf, verließ das Bett und setzte sich an ihren Rechner.

Neue E-Mails waren keine eingegangen. Auch mit anderen Neuigkeiten sah es schlecht aus, und so schwang sich die X. einfach so von Homepage zu Homepage, las hier ein wenig, und dort ein bißchen, und ihr Liebhaber lag herum und las.

„Was tust du?“, fragte er wohl, und die X. murmelte etwas von „Nachrichten“. „Lass mich mal schauen, was meine Frau macht.“, erscholl es plötzlich aus dem Bett. „Muss nicht sein.“, gähnte die X. „Ach komm, eine Minute.“, schwang sich der Liebhaber aus dem Bett und stand auf einmal neben ihr.

Die – der X. unbekannte – Frau des Liebhabers nämlich hatte kurze Zeit zuvor ein Preisausschreiben gewonnen. Der Preis bestand aus einer Kurzreise, einer Promotion-Tour des veranstaltenden Unternehmens , bei der die Gewinnerinnen – jeweils in Begleitung einer Freundin – auf eine Insel eingeladen wurden. Ihr Tun und Treiben dort wurde live, oder zumindest unwesentlich zeitversetzt, im Internet übertragen, und so konnte man die Frau des Liebhabers sehen, wie sie es sich begleitet von einer reichlich ordinären Freundin lautstark gutgehen ließ.

„Modeste, ich bin fast umgefallen.“, stöhnte die X. Die Frau des Liebhabers nämlich war von erschreckender Beschaffenheit. Groß und massiv wie ein deutsches Mittelgebirge ragte die Frau in den Bildschirm und jodelte ihre Lebensfreude in ungebremster Vulgarität durch das Netz. Ob die Person auf den bewegten Bildern nun die Frau des Liebhabers oder nicht doch sein Bruder sein sollte, war tatsächlich ausschließlich anhand der Ausführungen des Liebhabers auszumachen, der schließlich wissen musste, wen er einmal geheiratet hatte.

Sprachlos saß die X. vor ihrem Rechner. In ihrem Inneren zog sich alles zusammen. Mit Befremden erst, dann auch mit Ekel betrachtete sie den Mann in ihrem Schlafzimmer, der zufrieden ein Bild nach dem anderen per Mausklick vergrößerte. Schelchte Haut hatte die fremde Frau auch.

So also, dachte die X. und betrachtete ihren Liebhaber: So also sah die Frau aus, die dieser Mann geheiratet hatte. Kein Wunder, dass es ihn in andere Schlafzimmer zog. Wahrscheinlich, so erschien es ihr, war es überhaupt nur die Tatsache, dass andere Frauen sich zumindest kurzzeitig seiner erbarmten, die eine Ehe mit dieser ganz und gar unmöglichen Person stabilisierte. Sie, wurde ihr klar, war also dafür verantwortlich, dass dieser Mann mit dieser Frau verheiratet war.

Abscheu ergriff sie. „Kein Wunder, dass du herkommst, wenn das deine Frau ist.“, sagte sie, und der Liebhaber schaute sie erstaunt an. Er liebe doch nur sie, wandte er ein. „Das wundert mich nicht.“, schüttelte sich die X. mit einem Blick auf das unglaubliche Geschöpf auf den Bildern im Netz.

„Nun komm schon.“, zog sie der Liebhaber am Arm zu ihrer Bettstatt. „Lass mich los.“, entzog sie sich seinem Griff. Völlig unmöglich erschien es ihr auf einmal, diesen Mann zu berühren. Den Mann einer solchen Person – es würgte sie ein bißchen.

„Fahr nach Hause.“, dachte sie erst, und dann hörte sie sich laut sagen, dass er seine Sachen packen, sich anziehen und verschwinden solle. – „Was ist denn los mit dir?“, wunderte sich der Liebhaber erst, dann regte er sich ein bißchen auf, wurde traurig, winselte, und am Ende ging er doch.

Die X. werde, sagt sie, ihn nicht wieder anrufen.

Madeleine

Eine Madeleine in Lindenblütentee, nein: eine Plastiktüte, gepackt von der Küche des Hotels, gefüllt mit Früchten und dick belegten, weißen Semmeln. 2007 haben wir, der Zug fährt mich von Karlsbad nach Usti nad Labem, und fährt doch rückwärts, fällt von diesem Jahr in ein anderes, früheres, und 1989 sitze ich in einem anderen Zug, zwischen anderen Städten, und nicht allein sitze ich in dem Abteil auf rotem, etwas abgeriebenem Cord. Neben mir liegt nicht eine Plastiktüte, sondern ein grüner Rucksack, mit Edding haben längst versunkene Schulfreunde ihre ungelenken Namenszüge auf den Kunststoff geschrieben, aber der Geruch, dieser Geruch von warmen, atmenden Früchten und belegtem Brot steigt hier wie dort aus den offenen Taschen zu mir auf.

Kühl und blau zieht Böhmen an mir vorbei. Kleine Städte, gesäumt mit den Resten verfallender Fabriken, rostendes Metall. Melancholie einer verwesenden Moderne, und ein paar gellgeschminkte Frauen am Gleis mit billigen Kopien von Taschen, deren Original man hier nicht einmal kaufen kann, so weit weg ist der Wohlstand, der kommen sollte, und nicht gekommen ist. – „Ihr Fahrschein, bitte.“, streckt die blauuniformierte Schaffnerin mir ihre Hand entgegen.

Einen eigenen Fahrschein brauche ich nicht, 1989, denn nicht ich, sondern Frau S., die Chorleiterin, kramt in ihrer riesigen, schwarzen Handtasche nach dem Gruppenfahrschein für uns alle. Ich sitze ihr gegenüber. Frau S. mag mich nicht, und nicht ihretwegen habe ich mich als letzte in das Abteil gedrängt, aber der G., der lange, hochaufgeschossene G., der ebenso gut singen wie rudern kann, sitzt ihr gegenüber und spricht über Händel und Brahms. Halblaut beugt er sich weit nach vorn, spricht knapp und konzentriert mit einer Gemessenheit, die seinen siebzehn Jahren voraus zu sein scheint, und die ihn selten verlässt. Nicht an mich wendet er sich. Mich kennt er nur als die Freundin der N., die als verrückt gilt, als schön, obwohl keiner sagen kann, was eigentlich das Schöne an ihr ausmacht, und als so hemmungslos, das niemand zu wissen glaubt, was sie in fünf Minuten oder in fünf Jahren zu sagen oder zu tun beliebt. Sehr höflich und freundlich ist der G. zu mir. Immerhin bin ich die beste Freundin des Mädchens, das er vergeblich liebt, und dass die N. ihn auslacht, nimmt er weder ihr noch mir, der widerwillig Mitlachenden, übel.

Dass sich niemand in mich verlieben wird, wenn die N. daneben sitzt, ist so selbstverständlich, dass ich es nicht einmal bedaure. Keine Sekunde nehme ich an, der G. sei auch für mich zu haben, und so laufe ich ihm hoffnungslos hinterher, unauffällig, halte Abstand und schielen nur ein bißchen, nur so aus den Augenwinkeln, wenn er in einer Gruppe auf einer Party steht, am Rande des Chorraumes mit den anderen guten Sängern über Chorwerke spricht, und melde mich nicht einmal, als er einmal in der Pause ins Blaue fragt, ob jemand mitkäme zu Schönbergs Lulu in der dreißig Kilometer entfernten Stadt, denn nicht ich bin es, auf dessen Begleitung er hofft.

Zu schöngeistig sei ihr der G., lacht die N. und küsst statt seiner viele andere. Ein Tenor sei kein Mann, sagt sie so laut, dass er es hören muss, und aufschaut, errötend und betroffen. Tenor bleibt er trotzdem, einer der besten Sänger des Chores, dem ich keine Zierde bin, und auch die N. singt weiter ihren etwas gläsernen Sopran.

Auf dieser Zugfahrt aber ist sie nicht dabei. Ihr Vater hat sie zwei Wochen vor den Ferien vom Unterricht befreien lassen, um mit ihr und ihrer kleinen Schwester in Urlaub zu fahren. Etwas verloren fühle ich mich, ein wenig einsam ohne beste Freundin, und plaudere tapfer vor mich hin. Seitlich, fast schon außerhalb meines Gesichtsfeldes aber, geht der G. zum Waggon, unterhält sich mit Frau S., die er weit überragt, und streicht sich ab und zu die Haare aus der Stirn. In einigen Metern Abstand folge ich.

„Ist hier noch frei?“, höre ich mich auf den letzten Platz im Abteil deuten, und Frau S. nickt kühl und ein wenig abwesend. Ich bin keiner ihrer Lieblinge. Sie schätzt nur die Jungen, unter ihnen nur die hochaufgeschossenen, schlanken Oberstufenschüler, und von diesen wiederum nur diejenigen, die gut singen und mindestens zwei Instrumente beherrschen.

Die Fahrt dauert lange. 2007 ist es wieder, zu meiner Rechten fließt die Elbe, und bei Bad Schandau kommt ein schwitzender, riechender Beamter durchs Abteil und fragt nach meinem Ausweis. Lange schaut er erst mich und dann mein Photo an. „Ist gut.“, sagt er, und verschwindet. Ich bin müde.

Müde bin ich auch damals, im vollen, heißen Abteil, und kaue schläfrig einen Apfel. Die anderen Chorsänger schlafen bereits. Frau S. lächelt im Schlaf ein wenig, lehnt sich sogar leicht an den G., der aus dem Fenster schaut, als sei Frau S. nicht da, und auch sonst niemand anders. Schließlich schläft auch er.

Seine Beine sind zu lang für das enge Abteil, und im Schlaf streckt er die Füße weit von sich, bis herüber auf die andere Seite. Nur ein paar Zentimeter von meinen Schuhen entfernt, zucken die Beine des G. ab und zu im Traum, und langsam, sehr, sehr langsam, strecke auch ich meine Beine, nähere mich und schiebe meinen rechten Fuß eng an den Turnschuh des G. Die Augen habe ich geschlossen, denn unabsichtlich soll die Berührung wirken, erwacht einer der Schläfer. Ich zittere, mein Puls schlägt hart und metallisch in meinen Ohren eine hastige Polka, und zehn, zwanzig Minuten, vielleicht länger, sitze ich da, jede Faser angespannt bis aufs Äußerste, und spüre dem leichten Druck und der Wärme seines Fußes nach.

Es ist nichts geworden mit der N. und dem G., und mit mir und dem G. auch nicht. Die Frau S. ist heute Rentnerin, den Chor habe ich beizeiten verlassen, aber der dumpf-säuerliche Dunst von Obst und Broten riecht noch ebenso wie einst, denn nur einige Dinge ändern sich, und viele andere bleiben so, wie sie immer waren.

Du und ich im Garten Eden

Nach dem Mittag werde ich ein bißchen schlafen, und du schläfst neben mir. Ein alter Mann wirst du sein, mit hängenden Backen und schlaffer Haut. Vielleicht wirst du schnarchen. „Mein Guter, mein Bester“, werde ich dir am Bart zupfen, damit du aufwachst, und du wirst lächeln, als sei ich noch jung. Vielleicht siehst du mich dann manchmal so, wie ich einmal war, du alter Mann ohne Brille in der Nachmittagsdämmerung um vier.

Bevor es dunkel wird, willst du in den Garten. Du harkst die Blätter von den Beeten, und freust dich über die Knospen und Triebe der Büsche und Stauden. Die zeigst du mir und stützt deine Hände auf die Knie, wenn du dich wieder aufrichtest. Du bist zu schwer geworden für deine Muskeln und Gelenke.

Mit einem sehr, sehr alten Hund sitze ich im Wintergarten und schaue dir zu. Von hinten siehst du manchmal aus wie der junge Mann, den ich vor fünfzig Jahren im ersten Semester kennengelernt habe, und ich lächele bei der Erinnerung an den Abend, als dein Freund H. mich zu dir brachte, weil er meine Freundin kennenlernen wollte. Daran erinnere ich mich gut. Die Feuerzangenbowle. Deine Gitarre, das eiskalte Bad, und die braune Couch, mit der du bis Berlin umgezogen bist.

An das, was gestern, vorgestern oder letztes Jahr passiert ist, erinnere ich mich nicht mehr. Vielleicht hat mein Gehirn schon ein paar Löcher, ein bißchen Zeitmottenfraß, ein bißchen mürben, braunen Verfall. Vielleicht lohnt sich das Behalten aber auch nur nicht, weil gestern, vorgestern, letztes Jahr, wenig passiert ist, was ich aufheben will. Wenn du im Garten die Beete harkst, erzähle ich die alten Geschichten dem Hund. Was alles passiert ist, und der Hund gähnt.

Dass wir Königskinder waren, leuchtend in den Nächten der Stadt, flüstere ich dem Hund in die Ohren. Die Kälte und der gleißende Dreck und die großen Zeiten unter dem Rad. Unsere blutende Haut in Fetzen, aber wenn ich zu lange erzähle, steht der Hund auf und trinkt ein bißchen Wasser.

Wenn es dunkel wird, kommst du ins Haus. Die Schuhe stellst du neben die Terrassentür und wäschst dir lange die Hände, die sich langsam ausbeulen. Knoten an den Gelenken hast du, als würden deine Knochen langsam weich und schöben sich hin und her. Ab und zu, wenn wir beisammen sitzen, streichele ich dir über die Hände und ängstige mich vor dem ersten Morgen ohne dich.

Tee werde ich kochen und Kuchen schneiden, den ich selbst gebacken habe. Vielleicht schlage ich Sahne. Du deckst den Tisch und wirst den Kuchen loben. „Meine Liebe, meine Schöne.“, wirst du mich nennen, als sei das noch wahr, und vielleicht küssen wir uns sogar noch, wenn keiner hinsieht. Auch nicht der Hund.

Vielleicht gehen wir später spazieren, zwei sehr alte Leute, langsam, die Straße entlang, wo es gut beleuchtet ist und die Wege glatt. Vielleicht koche ich abends Früchtetee und schmiere Brote, weil du das selbst nicht mehr gut kannst. Du wirst Witze machen, als nähmest du das leicht.

Am Abend gehen wir zu Bett. Ich werde mich nicht mehr ausziehen vor dir, und nur noch selten in den Spiegel schauen, wenn ich mich umziehe, um die alte Frau nicht zu sehen mit dem fleckigen, bleichen Fleisch voller Dellen. Im Nachthemd lege ich mich zu dir ins Bett, denn du bist warm, und ich friere jede Stunde, jede Nacht und überhaupt immer.

Nachts höre ich dir zu. Die Dämonen sind tot, weiß ich, und kann doch nicht schlafen. Sanft streiche ich dir übers Haar, dass du nicht erwachst, und halte manchmal besorgt meine Hand vor dein Gesicht, und atme auf, wenn du noch atmest.

Alte Beschwörung. Bann.

Am Ufer nimmt die Nacht dich auf, die Stimmen werden leiser, und nur Carla Bruni singt von der Liebe oder von etwas, was der Liebe manchmal täuschend ähnlich sieht. Westlich der Oberbaumbrücke glänzt die Stadt dir etwas vor, und auf einmal spürst du die rauhe, warme Hand der Müdigkeit auf deinen Lidern.

Komm heim, zieht dich deine warme Wohnung nach Norden, und du lächelst über die Kinder an der Haltestelle, die sich Bier trinkend an den Händen halten und etwas singen, was du nicht verstehst mit der Musik in den Ohren. Vielleicht sind die Kinder nur drei, vier Jahre jünger als du, überlegst du und versuchst, nicht allzu auffällig hinzuschauen und bist ein bißchen traurig, weil das nun vorbei ist und nicht wiederkommt. Keiner wird dich mehr so durch die Luft schwenken, fällt dir ein, als ein Junge ein Mädchen an beiden ausgestreckten Armen um sich herumwirbelt, dass ihre Haare fliegen.

Daheim ist es warm, wünscht du dich die paar Kilometer weiter, wo Licht brennt und jemand auf dich wartet, und schaust doch den Kindern an der Haltestelle nach, die nicht in diese Bahn steigen und stehen bleiben, als du fährst. Ach, und für einen Moment stellst du dir vor, auch du würdest irgendwohin fahren, wo alles anders ist als hier, wo man auch dich herumschwenken würde, dass deine Haare fliegen, wo dein Leben leuchten würde vor Feuer und Kristall, und wo die Stadt glänzt von lauter frischem, grellen Blut auf ihren Straßen.

Normalverteilung

Auch nie verstanden habe ich ja die rein mathematische Seite des Liebeslebens, die Frage der Verteilung nämlich, mit der es sich folgendermaßen verhält:

Jeder alleinstehende Deutsche verliebt sich ungefähr zweimal jährlich. Rechnen wir das immerhin ausbaufähige Interesse dazu, so kommen wir auf drei verschiedene Personen, auf die sich Hoffnungen richten. Fragen wie „Wer war eigentlich der Typ, der….“, oder „Kennst du den X., der immer kommt, wenn…“, werden gestellt, und auffallend häufig wird von X oder Y gesprochen. Es wäre ganz nett, so gibt die betroffene Person meistens nach einiger Zeit zu, wenn X oder Y einfach mal anriefe. Die interessierende Person indes ignoriert die Versuche, möglichst zufällig miteinander auszugehen, so hartnäckig, dass selbst gute Freundinnen empfehlen, den Betreffenden einfach zu vergessen.

So weit, so gut. Alle alleinstehenden Leute, die ich so gut kenne, dass sie mir derlei Dinge mitteilen, verlieben sich also zwei- bis dreimal jährlich. Gehen wir also davon aus, dass das bei allen Leuten so ist, so müsste sich doch rein rechnerisch auch in jeden – abgesehen von sehr unvermittelbaren Fällen – alleinstehenden Deutschen auch zwei bis drei Personen pro Jahr verlieben? Und selbst wenn man einen großzügigen Faktor von 50 % Abweichung aufgrund differenzierter Attraktivität einbezieht, so kommt immer noch 1,5 Verliebter auf jeden Single, und auf manche eben 4. Da wir besonders schöne und besonders abstoßende Menschen bei dieser Berechnung aus Vereinfachungsgründen einfach weggelassen haben, gleichen sich Models und Monstren gegenseitig aus und tauchen in unserer Alltagsbetrachtung gar nicht auf.

Nun indes zeigt das Leben uns einen sonderbar gewachsenen Pferdefuß, denn beileibe nicht alle Personen, die ich kenne, stoßen in diesem Umfange auch auf Anklang, ohne dabei hässlich, sonderbar oder mit anderen Ausschlussmerkmalen behaftet zu sein. Statt dessen schwören die meisten mir bekannten Alleinstehenden Stein und Bein, exakt niemand habe sich 2006 in sie verliebt, null Liebesbriefe inklusive elektronischer Mitteilungen seien eingegangen, und keine Seele sei ihnen in physischer Hinsicht nachgelaufen.

Da bleiben wenig logische Schlüsse, die mit unseren zuvor eingeführten Axiomen vereinbar wären. Entweder ist die Verteilung noch schlechter als der bisher angenommene Attraktivitäts-Ausgleichsfaktor von 50 %, und nahezu alle Leute verlieben sich in bildschöne, perfekte Geschöpfe, denen nicht – wir erinnern uns – vier, sondern 44 Anbeter anhaften. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Alterung der mich umgebenden Menschen, die das dreißigste Lebensjahr unterdessen so gut wie alle überschritten haben, und mögicherweise der männlichen Vorliebe für zweiundzwanzigjährige Studentinnen beim ersten Betriebspraktikum zum Opfer fallen. Indes war auch mit 22 die Bewerbersituation überschaubar, und denn Männern scheint es nicht anders zu gehen.

Oder die Welt besteht aus heimlich Verliebten die sich gegenseitig ängstlich, gespannt, aber schweigend umkreisen, kein Wort dabei sagen, und irgendwann erschöpft aufhören, verliebt zu sein, weil der andere sie nicht von selbst erhört, was als Alternative weniger deprimierend wäre, aber gleichfalls nicht eben wahrscheinlich.

Das fast gemeine Fräulein M.

„Der steht total auf dich!“, versichert die blonde Freundin ihrer dunkelhaarigen Begleitung am Nachbartisch im 103. „Und warum ruft er dann nicht an?“, fragt die mit den langen, dunklen Haaren ihre blonde Freundin nach den Beweggründen eines gewissen Florian und rührt mit einem langstieligen Löffel in einem Glas frischen Pfefferminztees, als ginge es darum, die schwimmenden sattgrünen Blätter möglichst klein zu hacken. „Der ist total schüchtern.“, behauptet die Blonde und zieht das „a“ bei „total“ ganz, ganz lang. „totaaaaal“, sagt sie, so ein bißchen nasal.

Der anrufverweigernde Florian traue sich einfach nicht heran an eine so starke Frau wie die dunkelhaarige, erklärt die Blonde die Psyche des unbekannten Florian ihrer Nachbarin und greift sich energisch in die dünnen Haare. Florian, der irgendwo auflegt, markiere zwar die coole Sau, aber das sei alles nur Fassade. Florian müsse deswegen ermutigt werden, ordnet sie an. Ihre Freundin nickt.

Einfach anrufen ginge aber nicht, denn die Dunkle, die anscheinend Nicki heißt, hat Florian offenbar schon einmal angerufen. Ziemlich wortkarg sei er am Telephon gewesen, berichtet die Dunkle und spielt mit einem riesengroßen Plastikring. „Klar!“, nickt die Blonde, als habe sie genau das erwartet. Der Anruf der Dunkelhaarigen habe Florian so aus dem Konzept gebracht, dass er gar nichts hätte sagen können. Deswegen riefe er jetzt auch nicht an, erläutert sie weiter. Florian hege Versagensängste und hätte die Befürchtung, einer so tollen Frau wie der Nicki nichts zu sagen zu haben.

Leicht mokant, mit der winzigen Hebung der linken Augenbraue, die ich nie beherrschen werde, nimmt meine Begleitung die Ausführungen am Nachbartisch zur Kenntnis. „Oh mein Gott.“, murmele ich, nehmen einen tiefen Schluck aus meinem Glas heißer Zitrone, und hole tief Luft.

„Geht’s euch noch gut?“, überlege ich einen kurzen Moment meine Nachbarin einmal laut anzusprechen. „Florian wird überhaupt nie anrufen.“, würde ich fortfahren. „Florian hat einfach kein Interesse an dir, denn jenseits des zwanzigsten Lebensjahres pflegen nur noch diejenigen Menschen heimlich verliebt zu sein, die guten Grund zu der Annahme haben, ein Geständnis ihrer Gefühle werde vom Adressaten als lästig empfunden. Wer interessiert ist, dem merkt man das auch an.“

Wenn ich schon so schön in Fahrt wäre, würde ich natürlich gleich weitermachen: „Florian, wer auch immer das ist, hat auch keine Angst vor starken Frauen, sondern höchstens eine Antipathie gegen dicke Frauen, und dick ist für den durchschnittlichen Berliner DJ jede Frau, die mehr als 45 Kilo auf die Waage bringt. Florian hat vermutlich auch kein Faible für Frauen über dreißig, nicht mal dann, wenn sie sich benehmen, als seien sie zwölf.“

Statt dessen trinke ich weiter. Die beiden Frauen zahlen und gehen, und in der Tür dreht sich die Dunkelhaarige noch einmal um. Sehr alt sieht sie in diesem Moment aus. Noch sieht man die Falten neben ihrem Mund nicht so genau, und nicht die hängenden Wangen. Man ahnt ein bißchen, wo die Markierungen einmal sein werden in nicht mehr ganz so vielen Jahren.

Unseren täglichen Selbstbetrug gib uns heute, murmelt es halb amüsiert, halb sarkastisch neben mir, und ich schwöre mir, so ehrlich wie möglich zu sein, wenn es einmal so weit ist, und fürchte, dass mehr Ehrlichkeit den beiden Frauen nicht möglich ist, die jetzt an den Fenstern der Bar vorbeigehen, die Kastanienallee hoch, und sich freundlich anlügen, weil das Leben kalt und grau und nicht auszuhalten ist, wenn Florian nicht anruft, und auch keiner sonst.