Über Nichts

Ohrmilben, Paradontose

„Okay“, sagt der Tierarzt vor fast vier Wochen. Beide Katzen haben Milben in den Ohren. Die Katze habe deswegen eine Ohrenentzündung und brauche Antibiotika. Der Kater dagegen müsse nur Salbe in die Ohren und dann eine Ohrspülung bekommen, am nächsten Samstag nämlich, dann gehe das sich alles schon wieder aus, und Ohrentropfen müsse ich reichen, gut angewärmt morgens und abends.

In den dem Tierarztbesuch nachfolgenden Tage werde ich von den eigenen Katzen verachtet. Bis Mittwoch spricht man in Katzenkreisen eigentlich gar nicht mit mir, und dann ist man immer noch sehr kurz angebunden und äußerst unwirsch. Ich fühle mich wie ein Hausmädchen, das einer Meißner Tänzerin ein Bein abgebrochen hat, und komme mir schrecklich ungerecht behandelt vor. Tu quoque, felis, schaue ich dem Kater nach und frage mich, wer überhaupt eigentlich nett zu mir ist dieser Tage. Überdies nimmt man mir übel, dass die Futterrationen abgenommen haben, obwohl auch an diesem Umstand nicht ich schuld bin, sondern ganz allein der Tierarzt, der die 7,4 kg pro Katze als eindeutig zuviel gebrandmarkt hat. Demnächst würde ich ernährungsberaten, wird mir angekündigt.

Am nächsten Samstag bin ich nicht da, sondern laufe durch Prag. Der J. stopft an meiner statt die Katzen in eine Box, schleppt die erbärmlich maunzenden Tiere durch den Prenzlauer Berg über die spiegelglatten, buckeligen Wege bis zum Tierarzt, und dann wartet er ab. Die Katzen werden narkotisiert, die Ohren gespült, die toten Milben entfernt, und dann nimmt der J. die Katzen irgendwann wieder mit. Medikamente sollen sie nehmen, alle beide. € 420,– kostet die Ohrenspülung samt Narkose. Weil die Katzen aber nun schon narkotisiert waren, hat der Tierarzt als eine Art Draufgabe beiden Katzen zusätzlich die Zähne gereinigt. Der Kater, so wird der J. informiert, habe zu alledem auch noch Paradontose.

„Alle Tiere stinken aus dem Mund.“, sage ich, als der J. mich über den Zahnschaden informiert und weise Zahnpflegemaßnahmen von mir. So weit kommt es noch, sage ich, dass ich meinen Katzen die Zähne putze. Der J. aber zeigt sich störrisch. Man müsse etwas unternehmen, wird mir beschieden, und am nächsten Samstag kauft der J. eine grüne Flasche VET Aquadent.

Zu Hause schaue ich mir die Flasche an. Sie ist deutlich kleiner als eine Flasche Mundwasser für Menschen, kostet gleichzeitig erheblich mehr (aber darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an), und hinten ist sie beschriftet.

„VET AQUADENT ist eine erfrischende und schmackhafte Lösung mit Chlorhexidin und Xylitol, die von Tierärzten zur Bekämpfung von Mundgeruch beim Tier entwickelt wurde.“, lese ich. „Die beste Wirkung wird erzielt, wenn VET AQUADENT als Teil eines umfassenden Mundhygiene-Programms angewendet wird. Fragen Sie Ihren Tierarzt.“, heißt es weiter, und dass man das Zeug in das Wasser gießen soll, das die Katzen trinken.

Nun ist das Zeug schon einmal da und steht in der Küche. Der J. weilt in Essen. Ich allein hege und pflege die Katzen, spritze Ohrentropfen in die Katerohren, versage, unbeliebter von Tag zu Tag, den Katzen die gewohnt üppigen Portionen, und abends, ja abends, gieße ich ein wenig vom VET AQUADENT in das Katzenwasser und komme mir ein wenig dämlich vor, nicht gerade spätrömisch dekadent, das nun auch nicht, zumal jedermann weiß, dass Dekadenz nur in den Kreisen der Erwerbslosen ein ernsthaftes Problem darstellt, aber irgendwie, nun, Sie wissen schon, ein wenig lächerlich halt, und bisweilen kommt mir es vor, als lachten die Katzen mich von der Fensterbank herab hämisch aus.

Pailletten

Weißt du, es war doch der charming Herr Glam. Das goldfarbene Paillettenkleid, das ich anziehen durfte auf seiner Party letztes Jahr, und sah damit großartig aus, hätte das Kleid anbehalten wollen die ganze Nacht und überhaupt immer. Wahrscheinlich hätte ich sogar singen können in diesem Kleid und Kunststücke mit wilden Tigern, und wenn ich mit dem Kleid auf die Straße gegangen wäre, wären die Passanten auf die Knie gefallen und hätten mich und das Kleid umjubelt und photographiert.

Ein eigenes Paillettenkleid aber hatte ich nicht. Ein eigenes Paillettenkleid hätte ich niemals gekauft, denn ich führe kein Leben für Paillettenkleider, ich kann nicht singen, ich kenne keinen einzigen Tiger, und wenn ich auf die Straße gehe, dreht sich nicht einmal die Müllabfuhr um. Das Kleid aber, Herrn Glams goldenes Kleid, hat mich behext.

Ein goldfarbenes Paillettenkleid aber gibt es nirgends zu kaufen. Übers Jahr vergaß ich also das Kleid, hängte grau und grün, lila und blau, Tweed und Wolle in den Schrank, dachte nicht an Gesang und nicht an die fehlenden Tiger, und dann hing es da doch: Schwarz zwar, und nicht golden. Kurz zwar, und nicht lang, aber gerade, eng, ziemlich ausgeschnitten für meine Verhältnisse und ganz und gar besetzt mit Pailletten. Ich habe das Kleid sofort gekauft.

Dann aber gingen die Wochen ins Land. Weihnachten? Unmöglich. Silvester? Doch nicht bei der sehr gemütlichen und ganz und gar tigerfreien Party bei M. und M. Ausgehen? Keine Ahnung, was Sie tragen, wenn Sie ausgehen, aber ich bevölkere die Bars von Berlin, und da lachen vermutlich alle, wenn ich aufkreuze mit meinen Pailletten. Mein geschätzter Gefährte J. lacht wahrscheinlich am meisten. Bälle? Der J. kann nicht tanzen. Premieren? Wir sind in Berlin … Parties? Ich wüsste nicht wo.

Da hängt das Kleid nun also im Schrank. Sogar das Etikett ist noch dran. Ab und zu fällt das Licht durch die offene Schranktür und bricht sich funkelnd in hundert Pailletten. Fernab der Stadt zucken die Pfoten der Tiger in Träumen, und ich trage das Kleid wohl nur für mich und zu Haus und allein.

Geschenk (10.12.2009)

Männer und Frauen, so sagen aufgeklärte Leute, sind eigentlich ziemlich ähnliche Wesen, und meistens ist das wahr. Fähigkeiten und Unfähigkeiten verteilen sich recht gleichmäßig auf die Geschlechter, und dass die Damen von diesen weniger profitieren, nun, dies fällt ganz eindeutig in die Kategorie der veritablen Schweinerei. Aber nicht hiervon wollen wir reden, denn heute soll einmal nicht von den Punkten die Rede sein, in denen wir uns gleichen, nein, die Punkte, die uns trennen, seien thematisiert, denn mit rasender Geschwindigkeit, um nicht zu sagen: Viel zu schnell für jemanden, der noch kein einziges Geschenk gekauft und nicht einmal einen ordentlichen Weihnachtsablaufplan hat, nähert sich das Fest und will gefeiert sein.

Einen Baum werde ich also auch dieses Jahr erwerben. Eine Ente wird gebraten, gefüllt mir Maronen und Schalotten und Pilzen und Brot, Rotkohl und Knödel gibt es wie jedes Jahr, und vielleicht finde ich sogar die Strohsterne wieder und die roten Kugeln. Ich stecke Bienenwachskerzen, die riechen am besten.

Neben dem Baum sitzen dann also Heiligabend zumindest der J. und ich. Vielleicht kommt Besuch. Jeder von uns hat ein Glas Champagner in der Hand, der J. hat einen Anzug an, und ich mein neues lila Kleid von parapluie. Vermutlich läuft Musik.

Wahrscheinlich sind wir beide ein bißchen zu satt. Überall steht Gebäck herum, Plätzchen vielleicht oder Quarkstollen mit Butter, und während bei den Nachbarn mit den kleinen Kindern der Weihnachtsmann selbst erscheint, überreichen wir uns einfach so kleine Geschenke. In dem Päckchen für mich ist vielleicht Schmuck. Oder eine neue Tasche. Oder eine der verlockenden Duftkerzen von Annick Goutal aus dem Lafayette, die ich sehr gern hätte, auch wenn ich zu geizig bin für eine Kerze für 80 Euro. Vielleicht ein orangefarbener, zentnerschwerer Bräter von Le Creuset, den hätte ich auch gern. Oder ein wunderschönes Seidentuch, vielleicht so eins mit Pferdeköpfen und goldenen Ketten.

Was aber in dem Päckchen des J. steckt, weiß keiner, und erst recht nicht ich. Schmuck scheidet für einen Mann eigentlich aus. Anzuziehen hat der J. genug, die Taschen stapeln sich, Koffer hat er auch genug für sehr lange Reisen, und all die Kleinigkeiten, die Frauen Männern zu Weihnachten kaufen, sind entweder zu groß wie ein Billardtisch, zu hässlich wie goldene Krawattennadeln in lustigen Formen, am Empfänger vorbei wie ein Kochkurs oder Skier, oder der J. hat das Erwünschte schon und braucht es nicht zweimal.

„Mein lieber J.“, trete ich also alle paar Tage an den J. heran und frage nach seinen Wünschen. Wunschlos sei er an sich, wirft mir der J. die härteste Nuss des Jahres zum Knacken vor die Füße, und verzweifelter werde ich von Tag zu Tag. Im Internet, stelle ich fest, wirbt man nur für abscheuliche Dinge, Magazine, die sich dem männlichen Leben verschreiben, gehen an der Lebensrealität des geschätzten Gefährten vollends vorbei, und am Ende, ich sehe es kommen, gibt es nichts als ein

Die anderen Nächte (09.12.2009)

Aber die Tram fährt vorbei. Ein paar Jungen heben Bierflaschen hoch wie Pokale gegen die Fenster der rollenden Bahn, ein Mädchen lacht laut, an die Scheibe gelehnt, den Kopf weit im Nacken, und zwei küssen sich so, als ob morgen die Welt zu Ende sei und die Liebe vorbei. Heute aber ist die Nacht noch jung und riecht so elektrisch nach Benzin, nach Parfum und gebrannten Mandeln vom Markt.

Du aber läufst nur heim: Eine dickliche Frau in zu dünnem Mantel, die Hände ganz tief in den Taschen. Dunkel, fürchtest du, wird es sein in deiner Wohnung, und keine Seele wartet auf dich mit blitzenden Kelchen, Gesang und sprühenden Küssen. Niemand flüstert dir lauter hübsche Lügen ins Ohr, niemand lacht und nimmt dich warm in die Arme. Neblig und kalt wird es sein und frieren wirst du bei laufender Heizung, und wenn du heute nacht stirbst, dann stirbst du allein.

Tilly (07.12.2009)

„Sehr okay!“, sage ich, als ich von der Weihnachtsfeier heimkomme, und packe meine Gewinne aus. Pappsatt bin ich und ein wenig angetrunken von einer ungeordneten Melange aus Glühwein, Rotwein, Weißwein und Sekt. Als ich mich aufs Sofa setze, springt mir die Katze auf den Bauch und rollt sich zusammen. Ich bin ein weiches, warmes Kissen.

Was eine Katze eigentlich den ganzen Tag so denkt, frage ich mich und streichele mit der linken Hand der Katze über Rücken und Kopf. Leise erst, dann lauter beginnt Tilly zu schnurren, streckt sich, dehnt sich und dreht mir den breiten, schwarzen Kopf entgegen. „Meine Süße!“, sage ich und wünsche mir, auch bei einem viel, viel größeren, freundlichen Wesen zu wohnen, das mich füttert und liebevoll kratzt.

Nachts würde auch ich auf einem Kissen auf einem alten Sessel schlafen und leise schnarchen. Hätte ich Hunger würde ich maunzen, liefe auffordernd in die Küche und bliebe so lange vor meinem Napf sitzen, bis dieser sich füllt. In der Sonne würde ich liegen, den ganzen Morgen, von Mäusen träumen, die ich nicht jagen müsste, spielen würde ich wie eine Prinzessin sich herablässt zu ihrem Hofstaat, und stolz wäre ich auf mein schönes, glänzendes Fell und meine Augen aus heller, chinesischer Jade.

Italien, Italiener (06.12.2009)

Ganz München ist voller Italiener. Mailand und Rom müssen nahezu entvölkert sein, denn Massen lauthals italienisch parlierender Personen schieben sich die Maximilianstraße entlang, bleiben vor jedem Schaufenster stehen und bevölkeren dann einen der offenbar unzähligen Weihnachtsmärkte der Innenstadt.

Die Weihnachtsmärkte sind recht nett, es gibt zu essen und zu trinken, es riecht gut, und anders als in Berlin gibt es weder Dosenwerfen noch Fahrgeschäfte, denn so radikal säkularisiert, dass Weihnachtsmarkt und Rummelplatz synonym verwendet werden können, ohne etwas Falsches zu sagen, ist man offenbar nur an der Spree.

Dass wir morgen mit ganz vielen Kollegen eine Weihnachts-Trash-Rallye auf dem Weihnachtsmarkt am Alexa feiern, löst bei der Münchenerin M.3 daher auch eher Belustigung aus. Mit unseren Feuerzangenbowlen stehen wir in drangvoller Enge eingeklemmt zwischen lauter Italienerinnen im Pelz, die glühweintrinkend geradezu aggressiv überaus teure Handtaschen schwenken.

Die Kinder, die über den Weihnachtsmarkt geschoben werden, erwerben vermutlich gerade alle eine manifeste Klaustrophobie. Es kann nicht amüsant sein, wenn eine ganz, ganz viele Hosenbeine umzingeln und bedrohlich nahe kommen, und entsprechend brüllt ab und zu eins der Kinder ziemlich laut los.

Vor der Theatinerkirche kaufen Leute Weihnachtsbäume, die anscheinend fürchten, die Bäume könnten in den nächsten Wochen zur Neige gehen. Noch auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich einen Mann unter einem riesenhaften Baum fast zusammenbrechen, den er alle paar Schritte abstellt, um kurz zu verschnaufen.

Als ich im Flughafenbus sitze, höre ich hinter mir wieder Italiener. Ein Mädchen singt ein Weihnachtslied mit einem Rentiergeweih aus Filz auf dem Kopf, und ein Bub, der ihr Freund sein kann oder auch ihr kleiner Bruder, lacht sich schier tot und schlägt sich buchstäblich auf die mageren Schenkel.

Am Terminal 2 verlassen beide den Bus, noch immer lachend.

München (05.12.2009)

10.00 Uhr

Ganz kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach den ganzen Tag in meinem sogenannten Alpenzimmer (einer Art Laura-Ashley-Imitat im Chalet-Stil, überraschend geschmackvoll ausgefallen) im Bett zu bleiben. Wie es die Hotels bewerkstelligen, diese komplette Reinheit raschelnd weißer Bettwäsche zu schaffen, frage ich mich und taste nach meiner Brille, die ich brauche, weil ich sonst auf dem Weg zu meinen Kontaktlinsen verunglücke oder etwas zerstöre.

Weil ich nichts zu lesen habe, verwerfe ich den Gedanken an einen Tag im Bett dann doch und stelle mich nackt vor den Spiegel. Die Frauenzeitschrift Brigitte, habe ich gehört, werde künftig keine Models mehr ablichten, aber selbst diese Anhängerinnen normal dicker Frauen würden mich – würde ich dort vorstellig – vermutlich nach kurzer Ansicht heimschicken: Meine Körpermitte wirkt irgendwie breiig. Meine Körperspannung tendiert in den negativen Bereich. Mein Rücken tut weh.

An sich bin ich noch von gestern abend komplett gesättigt. Wirklich sehr schlanke Personen würden nun auch eingedenk des unerfreulichen Anblicks des eigenen Körpers auf dem Weg zum Bad einfach nichts essen, aber ich schleppe mich ungeduscht ins Erdgeschoss, lese in der Süddeutschen etwas über den Untergang der Welt wegen schlechten Wetters und stopfe mir zwei Weißwürste, eine Brezel, Rührei und Tee in den ohnehin vollen Magen.

Dann lege ich mich wieder ins Bett.

12.00 Uhr

Mein Nacken ist neunzig. Den ganzen Tag drücke und presse ich an meinen Halswirbeln herum und versuche, den archimedischen Punkt meiner Rückenmuskulatur zu finden, an dem selbiger aus den Angeln gehoben werden kann, um sich fortan wieder normal anzufühlen. Leider suche ich völlig vergeblich. Als ich vor den Spiegeln in der ersten, zweiten, dritten Boutique stehe, sehe ich mich eigentlich mangels Bewegungsfähigkeit nur frontal von vorn.

Auch eine Massage wirkt sich nur kurzzeitig wohltuend aus. Es fühlt sich gut an, das schon, man sollte viel öfter massiert werden, aber das merkwürdige Gefühl völliger Versteifung lässt nur für etwa eine halbe Stunde nach. „Sie sind verspannt.“, teilt mir die Physiotherapeutin mit, eine kleine, lebhafte Ungarin, und zieht kräftig an meinem Rücken und meinen Wirbeln. Das Mädchen wiegt maximal 50 Kilo, schätze ich und frage mich, was sie eigentlich über Leute denkt, die so teigig wirken wie ich. Kein Wunder, dass mich keiner umsonst massiert, ziehe ich den Bauch ein, aber das nützt natürlich gar nichts.

14.00 Uhr

Rund um mich herum sind alle Frauen blond, sogar die M. ist erblondet. Gelangweilte Männer sitzen auf niedrigen Hockern und warten auf ihre Freundinnen, die in immer neuen Kleidern aus den Kabinen kommen, sich drehen, in den Spiegel schauen und dann in die Kabine zurückkehren. Die meisten sind fabelhaft schlank.

„Ist der okay oder brauche ich den größer?“, frage ich eine der ebenfalls blonden Verkäuferinnen, die zur 38 rät. Tatsächlich geht es eine Größe größer besser, und mit einem Kleid, einem Pullover und einem Shirt verlasse ich das Geschäft. 5 Kg, schätze ich, müsste ich abnehmen, um akzeptabel schlank zu werden, aber das mache ich nächstes Jahr. Die M. will auch abnehmen, sagt sie, und wir verabreden eine München-Berlin-Diät mit montagmorgendlichem Contest.

16.00 Uhr

Ich trinke heiße Schokolade. Ich glaube, der Laden heißt Vianne und erinnert ein bißchen an das kakao am Helmholtzplatz, das ich mochte und das nicht mehr da ist, leider. Die heiße Schokolade im Mokkatässchen mit Orange und die halbe, kandierte Orangescheibe dazu, erinnere ich mich mit einem Löffel Wehmut und blättere ein wenig zerstreut in Marguerite Duras Liebhaber, den ich aus irgendwelchen Gründen nie gelesen habe.

Hier gibt es Schokolade und Milch getrennt mit einem Mini-Schneebesen zum Selberrühren, angenehme Musik im Stil der Dreißiger und ich werde etwas müde. Ich würde gern ein paars Stunden einfach auf einem Sofa liegen und mir etwas erzählen lassen und dabei vielleicht eine Katze kraulen, die leise schnurrt.

18.30 Uhr

Eigentlich bin ich schon hungrig. Neidisch schaue ich meinem Begleiter auf das Haloumi und den anderen Leuten im Café Puck auf das gebratene Fleisch. Demnächst gibt es etwas, sage ich mir und trinke heiße Zitrone.

Träge fließt der Abend durch den langgestreckten Raum, ich höre zu, antworte, beobachte meinen Begleiter, der seine Worte ab und zu mit den Hände unterstreicht. Nett ist es hier, überlege ich mir und schaue mich um. In Städten bin ich immer daheim, da geht es immer, egal wo, nur am Land fühle ich mich stets fremd, wie ein Alien, im besten Fall wie ein Besucher im Zoo.

20.00 Uhr

Sie sitzt schon an der Bar. Sie ist schlank geworden, so schlank, dass ich sie fast nicht erkenne, aber lacht dann doch wie in Berlin und ist so klug und schnell und witzig, wie Leute sind, die ich mag. Den Laden mag ich auch, der Schmock heißt, in der Augustenburger Straße, und der gut und etwas zu reichlich kocht.

Die Maronensuppe mit Jacobsmuschel ist sehr kompakt, an sich eine ganze Mahlzeit, und mir fällt die Maronensuppe in Wien vor zwei Jahren ein, die ein Weihnachtsmenu eröffnen sollte, und danach hätte ich eigentlich aufhören können zu essen. Statt dessen erschien der Kellner mit einer Scheibe Gänsestopfleber, die wiederum zur Speisung eines Hungrigen auch ganz allein gereicht hätte.

Hier erscheint ein Kalbfilet, butterweich, rosa und mit einer sehr schaumigen, zartweißen Emulsion. Wir trinken einen schweren, sehr dichten israelischen Cabernet Sauvignon und ich erzähle von der Weinprobe in Israel auf einem Weingut das Carmelwein oder so hieß, zu der mein Vater mich mitnehmen musste, weil meine Mutter krank war, und ich war elf und saß drei geschlagene Stunden traubensafttrinkend zwischen meinen Onkeln und langweilte mich so vor mich hin.

Nach dem Kalb bin ich unglaublich satt. Ein Dessert kann ich unmöglich essen. Noch vor drei Jahre hätte ich die Nachspeise trotzdem einfach bestellt, aber zu den Nachteilen des Alters gehört offenbar auch eine Art natürlicher Mäßigkeit, die noch viel Langeweile verursachen wird in den nächsten fünfzig Jahren. Immerhin geht es mir gut: Ich lache fürchterlich viel, rauche vor der Tür und laufe schließlich zu Fuß zurück zum Hotel.

Es ist nicht spät, aber ich bin müde.

Michael Jackson (28.11.2009)

Der Spätkauf führt alles. Wer ein knallrotes Sparschwein haben will, ist hier ebenso am Ziel wie derjenige, den es nur nach drei Flaschen Sternburger und einer Schachtel L&M gelüstet, und wer Grünkohl mit Wurst der Marke Kohlkönig kaufen will, ist hier gleichfalls goldrichtig. Entsprechend ist der Laden, richtig, richtig voll: Vor dem Tresen hängen Regale, auf den Regalen stehen runde Dosen voller Haribo und Schokoriegel, Klebebildchen in einer halbgefüllten Pappschachtel und mindestens zehn verschiedene Kaugummisorten. Auf dem Tisch liegen Zeitungen und noch mehr Süßes, und hinter dem Tresen steht der Verkäufer, der eigentlich ein bißchen zu jung ist, um Inhaber des Spätkaufs zu sein, aber genau weiß man das nicht. Ich schätze ihn auf 25.

„Eine Schachtel Pepe light und ein Feuerzeug!“, brülle ich gegen das Radio an, das auf einem kleinen Wandregal hinter dem Verkäufer hängt und quietscht, keckert und scheppert. Unsere Zigaretten sind im Habermeyer um die Ecke irgendwie verschwunden.

Der Verkäufer dreht sich zweimal um die eigene Achse, bevor er hinter sich greift. Jeder Berliner Spätkauf führt mindestens sechzig Sorten Zigaretten, Pepe gehört nicht zu den am häufigsten verlangten, und so sucht der Verkäufer erst einmal ein bißchen zwischen all den anderen bunten Schachteln. „Zweite von unten, rechts.“, helfe ich nach.

Im Radio hört Duran Duran gerade auf zu spielen, und für eine Sekunde vielleicht ist es still. Dann aber jodelt wieder ein Moderator wie die Leute, die auf der Kirmes Karusselle betreiben. Michael Jackson werde singen, verheißt der Moderator und dreht die Stimme hoch, höher, am höchsten. Michael Jackson singt Billy Jean.

„Magst du Michael Jackson?“, dreht sich der Verkäufer zu mir um. „Ja.“, sage ich. Wer mag Michael Jackson nicht, hätte ich hinzufügen können, aber ich bleibe still und warte auf meine Zigaretten. Der Verkäufer hat es schon in der Hand.

Der Verkäufer aber macht keine Anstalten, mir das Päckchen zu geben. Statt dessen schlingt er die Arme melodramatisch um den Leib und beginnt zu tanzen. „Ich tanze wie Michael Jackson!“, behauptet der Verkäufer und hat gar nicht mal so unrecht. „Du tanzt total gut.“, lobe ich den Mann und sehe ihm halb ungeduldig, halb amüsiert bei erstaunlich elastischen Verrenkungen auf dem halben Meter zwischen Tresen und Zigarettenregal zu.

Billy Jean sei nicht sein Lover, proklamiert der jüngst verstorbene Sänger, und der Verkäufer reißt an geeigneter Stelle die Arme hoch und singt mit. Michael Jackson, vernehme ich, sei eigentlich Muslim gewesen, tanzt der Verkäufer immer weiter. Zwischendurch wirft er mir die Zigaretten auf den Tisch, aber weil er keine Anstalten macht, zu kassieren, stehe ich immer noch im dem winzigen Friedrichshainer Spätkauf und komme mir reichlich dumm vor. Ab und zu gehen Leute draußen vorbei und schauen fasziniert in das Innere des Geschäfts.

Als der Verkäufer aufhört zu tanzen, ist er ein ganz klein wenig außer Atem. € 4,25 bekomme er, hält er mir die Hand entgegen. Schlanke Hände hat er, fällt mir auf, sehr feinnervig und grazil.

„Ich könnte im Fernsehen auftreten.“, behauptet der Verkäufer ganz unbescheiden. Er werde das aber nicht tun, fährt er fort, denn für sogenannte Talentshows sei er sich zu schade, und ansonsten habe man in den Medien als Mann keine Chance. „Oha.“, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Für einen Moment sagen wir beide nichts.

„Du kannst drei Cola-Flaschen für zehn Cent kaufen.“, deutet der Verkäufer auf die Haribo-Packungen, und ich nicke. Zwei Fruchtgummiherzen bekomme ich gratis oben drauf und wende mich zur Tür.

„Light my fire!“, singt der Verkäufer mit dem Radio weiter, als ich gehe, und von der anderen Straßenseite aus sehe ich den Mann auf dem einen Quadratmeter hinter dem Tresen rhythmisch hin und her laufen, immer einen Schritt nach vorn und einen nach hinten, und die Faust hält er hoch direkt neben die gelbe, staubige Lampe.

Wie man jemand anders wird (24.11.2009)

Nehmen wir beispielsweise meine Freundin C. Die C. ist sehr klug, sehr schnell, sehr charmant, wenn sie möchte, und zu alledem sieht sie auch noch gut aus. Meine Freundin C. ist ziemlich super. Derzeit wohnt sie in Brüssel, arbeitet wie ein Pferd 15 Stunden am Tag, aber ob und was sie davon haben wird, ist noch völlig offen. Die C. lebt nicht schlecht, aber verdient jeden Euro, den sie ausgibt, selbst.

Auf der anderen Seite der Anstrengungsskala sitzt meine Freundin A. in einem sehr bequemen Feuteuil. Morgen früh wird sie ungefähr drei Stunden länger schlafen als die C., dann wird sie frühstücken, und während die Putzfrau kommt, geht sie spazieren. Oder nein, morgen ist Mittwoch. Am Mittwoch hat die A. Gesangstunden. Das alles finanziert ihr Mann. Weil die A. ihn sonst nicht geheiratet hätte, gibt es keinen Ehevertrag.

Natürlich ist das alles von schreiender Ungerechtigkeit. Die C. ist nicht nur viel klüger als die A., sie sieht auch noch besser aus (finde ich), und doch ist keineswegs absehbar, dass sich die Verhältnisse eines Tages verkehren. Ganz im Gegenteil: Es spricht Einiges dafür, dass der Schreibtisch der C. sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter füllen wird. Dabei werden die Belange, um die es geht, vermutlich immer wichtiger. Die A. aber wird während dessen zu Hause herumsitzen und das Haus einrichten, einkaufen, sich mit Freundinnen im Café treffen, und ansonsten tut sie vermutlich auch künftig wenig. Befragt, ob sie sich nicht langweilt, antwortet sie wohl auch künftig mit einem erstaunten „nein“.

Mir persönlich gefällt das Lebensmodell der A. eigentlich ganz gut. Ich würde sehr gern morgen ausschlafen. Ich sitze auch gern im Café. Gleichwohl arbeite ich ähnlich viel wie die C., und bin vor einer halben Stunde nicht aus einer Bar, sondern aus dem Büro gekommen. Die Frage, die sich mir nun stellt, ist angesichts dessen vermutlich rein rhetorisch, aber nicht weniger drängend: Wie wird man jemand anders? Und wenn dies – erwartungsgemäß – nicht möglich sein sollte: Auf welchen Umstand geht es zurück, dass die Umstände aussehen, wie sie aussehen, und ist da wirklich nichts zu machen?

Um über diese Fragen ernsthaft nachzudenken, habe ich aber keine Zeit.

Im Innern eines Kürbis

Es ist nicht leicht, einen Kürbis zu betreten. Bisweilen öffnet sich der Kürbis gar nicht, klopft man noch so kunstvoll an. Manchmal weitet sich die Schale auch an ganz unvorhergesehener Stelle, und nicht jeder, meine sehr verehrten Damen und Herren, passt durch die schmale Pforte der herbstlichen Frucht.

Schon mancher ist zurückgeschreckt vor dem wuchernden Fruchtfleisch. Kenner bahnen sich mit Macheten den Weg. Die großen, runden Bohrer aus dem Fachgeschäft aber werden von vielen verachtet. Für den Anfänger ist der Spaghettikürbis geeignet, dessen aufgelockertes, fasriges Fleisch den Wanderer locker umgibt.

Nicht vergessen werden darf die Sicherung des Rückwegs. Bisweilen – denn nicht jeder Kürbis ist freundlich – schließen sich hinter dem Wanderer die Wege, und manchmal gibt der Kürbis einen am Ende nicht frei. Die Krankenkassen kommen für die Folgen solcher Einschlüsse nicht auf. Wer in einem Kürbis verunglückt, kann mit der Solidarität der Versicherten also ebenso wenig rechnen wie mit groß angelegten Rettungsaktionen der Feuerwehr und der Polizei. Manche Versicherungen bieten einen Sondertarif an.

Manchmal hört man von Fällen, die früh, schon im Sommer, durch die offene Blüte den Kürbis betreten. Die Kronröhre des Kürbis erlaubt den Zugang indes selten vor Juli. Der wachsende Kürbis umfängt den Wanderer dann wie eine zweite, fleischige Haut, und wer einmal im Innern des Kürbis über Wochen campierte, wird nur mit Bedauern, mit Trauer sogar, des Welkens der leuchtenden Beere, der Fäulnis und schließlich des Endes des Kürbis gedenken.