Über Nichts

Schlechter Ruf

Schließlich fasse ich mir ein Herz. „Wir kennen uns …“, setze ich an und füge hinzu, dass ich mich dermaßen null und gar nicht an den Namen meines Gegenübers erinnern kann, und nicht einmal mehr weiß, woher wir uns kennen. Insgeheim hoffe ich, dem nicht ganz fremden Herrn an der Kaffeetafel gehe es ähnlich. Indes: Weit gefehlt. „Wir haben vor 21 Jahren in Regensburg zusammen gerudert.“, höre ich, und werde der Begleitung des Hamburger Rechtsanwalts zutreffend vorgestellt.

Ich bin bekümmert. Mein Gedächtnis ist nicht nur schlechter, als es mir lieb ist, sondern auch offenkundig schlechter als das Erinnerungsvermögen anderer Leute.

Auch die Mutter des Bräutigams erinnert sich meiner genau. Der dritte der anwesenden Schulfreunde erkennt mich gleichfalls wieder, und für einen kurzen Moment peinigen mich Visionen, in denen ich stets und ständig auf der Straße Menschen begegne, mit denen ich zur Schule gegangen bin, mit denen ich irgendwann einmal im juristischen Seminar gesessen habe, die mit mir beim Repetitor waren oder die in irgendeiner Referendarsstation meine Kollegen gewesen sind. Alle wissen ganz genau, wer ich bin, nur ich, ich kann mich an nichts erinnern und laufe ohne aufzusehen an freundlich lächelnden alten Bekannten vorbei.

„Arrogante Kuh.“, knirschen die Vergessenen dann – irgendwo in Mitte vielleicht oder an irgendeinem Flughafen – die Zähne, schreiten davon und erzählen Dritten, ich hätte mir in den letzten zwanzig, zehn oder fünf Jahren ja eine Arroganz zugelegt, zu der mich nichts berechtigt, und habe auf der Friedrichsstraße, in der Victoria Bar oder in der Flughafenlounge in Frankfurt an alten Bekannten einfach vorbeigesehen.

„Ich werde Sie vermutlich, wenn auch ohne jede Missachtung Ihrer Person, in den nächsten Jahren gründlich vergessen.“, könnte ich mir präventiv auf die Visitenkarten drucken, wahlweise auch auf T-Shirts, fällt mir ein, um dann derart gerüstet möglicherweise nicht als übermäßig eingebildet, sondern nur als ein bißchen komisch zu gelten, wobei unklar bleibt, vorerst, ob dies vorzugswürdig sei gegenüber dem jetzigen Zustand.

Madame ist erkältet

Morgens stehe ich also auf und friere. Das an sich überrascht mich nicht, ich friere meistens in den letzten Tagen, seit der Sommer letzten Montag schlagartig vorbei war, aber heute friere ich auch in der heißen Dusche weiter, und als ich mich anziehe, fühle ich mich auch irgendwie komisch an. Weil sich zudem auch noch das Verhältnis zwischen Schädel und Schädelinhalt so nachteilig verschoben hat, wie es für Erkältungen charakteristisch ist, lege ich mich nach einigem Hin und Her wieder ins Bett. Alles dreht sich.

Als ich wieder aufwache, so ungefähr drei Stunden später, ist mir wieder warm. Dafür fühle ich mich irgendwie schwach, so schwach, dass ich fürchte, nicht aufrecht bis in Bad zu kommen, aber dann geht es doch. Tee kochen kann ich auch. Den trinke ich dann so nach und nach aus und nehme insgesamt und über den Tag verteilt fünf Grippostad. Ab und zu rufen Leute an und wollen, dass ich etwas sage oder kaufe.

Als ich so gegen drei beschließe, etwas zu essen, ist leider kaum etwas da. Das Brot, das ich vorgestern gekauft habe, enthält zu meinem Ärger Leinsamen. Den habe ich nicht gesehen beim Kauf. Ich hasse Leinsamen, deswegen esse ich ein Stück Käse ohne Brot und schiebe mir einen Löffel Marmelade so in den Mund. Dann schlafe ich weiter.

Als der J. heimkommt, wird es betriebsam. Der J. will nach Düsseldorf, einen Freund besuchen, und eigentlich soll ich mit. Weil das aber gerade gar nicht geht, schnappt sich der J. seinen Koffer und meine Boarding-Karte und verschwindet allein. Eine Stunde später werde ich nach München umgebucht, im Dezember. Ich bin ganz gern in München, das ist okay. Ich könnte irgendwo ins Umland fahren, beschließe ich. Dann schlafe ich wieder ein.

Im Traum reite ich einen sehr, sehr großen, schwarzen Hund, der wild wirkt und schrecklich kläfft. Der Hund ist überaus furchterregend und hat wirklich große Zähne, aber ich finde den Hund gut. Sogar ein bißchen stolz bin ich auf das geifernde Tier. Erst als das Telephon klingelt, wache ich wieder auf.

Diesmal ruft ein Bekannter von mir an, den der Wahlsieg vom Sonntag mächtig enthusiasmiert zu haben scheint. Das deutsche Volk, verkündet er mir, habe es den trägen und ängstlichen Politikern gezeigt und ein klares Mandat für entschlossene Reformen erteilt. Man dürfe das deutsche Volk nun nicht enttäuschen. Ich greife nach dem Tee neben meinem Bett und höre ihm schweigend zu. Erst als er das vierte Mal „das deutsche Volk“ sagt, verweise ich auf meine fiese Erkältug und lege auf. Dann schlafe ich weiter.

Diesmal taucht der schwarze Hund nicht ein einziges Mal auf. Statt dessen erscheinen verschwommene, glänzende und glitschige Wesen und rutschen auf heißen, farbigen Steinen umher. Leider darf ich nicht mitmachen. Bevor die Lage sich klärt, wache ich wieder auf. Es ist 0.35 Uhr.

Verkäufer

Eine Berliner Klage

1. Der Übereifrige mit Eigensinn

Vor mir steht die Speerspitze der Dienstleistungsgesellschaft und hält mir ein Paar Schuhe entgegen. „Nimm mal die da.“, befiehlt er. Ich zögere. Die angebotenen Schuhe sind türkis, vorn rund und mit einem Budapester Lochmuster verziert. Ich habe nichts gegen Budapester, solange sie an Männerfüßen stecken, aber bevor ich in türkisfarbenen Budapestern mit einem klobigen Absatz auf die Straße gehe, bleibe ich barfuß zu Haus.

Ich schüttele den Kopf. Der Übereifrige ist beleidigt. „Ich stell dir die Schuhe mal hier hin.“, deutet er auf seinen Kassentisch. Ich sehe mich um. Ein Paar schwarze Pumps sind zu flach. Ein anderes Paar hat weiße Nähte, die mir nicht gefallen. Ich verabschiede mich.

„Ich lege dir die Schuhe bis Dienstag zurück!“, ruft mir der Übereifrige hinterher.

2. Die Unfähige

„Ich mach‘ hier nur Aushilfe!“, schickt die Frau an der Metzgertheke vorweg. Sie ist hübsch, blond, würde sie erzählen, eigentlich dem Schauspiel oder der Kunst zu obliegen: Ich wäre nicht überrascht. „Das bekommen wir hin.“, sage ich so freundlich wie möglich, denn die Verkäuferin scheint nervös zu sein. Ich will sie beruhigen.

Eine halbe Minute später wird sie noch nervöser. „500 Gramm vom Rinderschmorfleisch.“, ordere ich, und ganz offensichtlich wird ihr in diesem Moment erstmals klar, dass ein Rind aus unterschiedlichen Stücken besteht. Hilflos betrachtet sie abwechselnd den Rost- und den Lungenbraten, die Nuss und das Ausgelöste aus der Keule. „Von dem da?“, fragt sie mich irgendwann und deutet auf ein beliebiges Stück Fleisch. Immerhin hat sie das Rind erkannt, denke ich, und verneine. „Das hinter dem Gulasch.“, deute ich auf das Stück, das ich haben will. Die Verkäuferin bekommt hektische Flecken.

Immerhin gelingt es ihr einigermaßen fehlerfrei, ungefähr ein Pfund abzuschneiden. „Bis du so nett …“, fragt sie mich, „mir den Preis anzusagen?“ – „€ 12,80“, antworte ich brav (denn niemand soll nur wegen Unfähigkeit Nachteile erleiden). Dann verlasse ich den Biomarkt. Das Mädchen wird es schwer haben in den nächsten Tagen und Wochen.

3. Die Preussische

Wer in Berlin lebt, und die S-Bahn nicht hasst, kommt ohne weitere Untersuchung wegen schweren Realitätsverlusts in die Psychiatrie. Wer wegen der S-Bahn mit der Regionalbahn aus Potsdam zurückgekommen ist, hasst nicht nur die S-Bahn, sondern die Stadt, ihre Einwohner generell und speziell jeden der tausend anderen Menschen, die auch mit der Regionalbahn gefahren sind. Wer dann noch einkaufen geht und feststellen muss, dass der fertig gezogene Strudelteig aus dem Kühlregal heute aus ist, hat ohnehin schon unsagbar schlechte Laune, und wer dann mit abgesehen vom Strudelteig gefülltem Korb an der Kasse auftaucht, will garantiert nicht hören, wie die dauergewellte Megäre, der das Kassieren obliegt, schon beim Glas mit Essigzwetschgen kritisch schaut, um dann ein simples Glas Tessiner Senffrüchte mit den Worten über den Scanner zu ziehen:

„Sie leben ja auch wie die Made im Speck.“

Herzlich willkommen!

Sie, meine lieben Reisenden, mögen diese Stadt. Sie sitzen gern vor den Cafés am Hackeschen Markt. Sie mögen die Restaurants am Kollwitzplatz, von denen ich mich immer frage, wer da eigentlich hingeht, und Sie besuchen Orte und Attraktionen, von denen ich vermutlich gar nichts weiß oder noch nie da war. Im Reichstag beispielsweise war ich nur beruflich und auf dem Fernsehturm am Alex noch nie.

Einige Vorlieben, meine lieben Reisenden, haben Sie und ich gemein. Auch Sie mögen beispielsweise den Wochenmarkt am Kollwitzplatz und photographieren aus ungeklärten Gründen dort Stände, an denen es Brot zu kaufen gibt, Würste oder Fisch, und sicher sind Ihre Freunde zu Hause sehr, sehr begeistert, wenn Sie Bilder mitbringen, auf denen lauter Artischocken abgebildet sind. Ich würde Sie gern einmal fragen, ob es dort, wo Sie herkommen, eigentlich keine Wochenmärkte gibt, aber ich habe es am Samstagmorgen meistens eilig und für längere Gespräche daher eigentlich keine Zeit. Übrigens machen Sie mich wahnsinnig, wenn Sie so ganz, ganz langsam über den Markt schlendern und nie etwas kaufen außer vielleicht ein Stück Seife oder so, weil Sie mit einem Steinbutt oder einem Huhn ja ohnehin nichts anfangen könnten in Ihrem Hotel.

Dass Sie ein wenig Geld in diese Stadt bringen, finde ich natürlich toll. Umfangreiche Erfahrungen in unterschiedlichen Regionen haben mir nämlich die Erkenntnis vermittelt, dass Städte, in denen viel gearbeitet wird, schlecht sind fürs Gemüt. Denken Sie nur etwa an Stuttgart, Brüssel oder Frankfurt am Main. Da hebt sich Berlin natürlich sehr vorteilhaft ab. Städte, in denen kein Geld zirkuliert (Görlitz zum Beispiel oder Bremerhaven), sind aber auch kein guter Ort zum Leben, weil es da an den Dingen einfach fehlt, die man halt so braucht für ein glückliches Leben. Eine ordentliche Pâtisserie etwa. Gute Bars. Läden, in denen schöne, gut angezogene Menschen mit Geld um sich werfen. Da lobt man sich doch Berlin, wo ziemlich viele Mittel unter die Leute gebracht wird, die nicht hier, sondern sonstwo verdient wurden. Bitte geben Sie daher angemessen viel Geld aus, und zwar ausschließlich für irgendwelchen unnützen Krempel. Sie werden es nicht bereuen.

In einigen Punkten kann ich Ihr Tun und Treiben allerdings nur verurteilen. So werfen Sie Straßenmusikanten immer wieder etwas in den Hut. Beispielsweise die Zwei-Personencombo, die gestern wieder vor dem Mao Thai stand, bis die Kokosmilch flockte, gäbe endlich Ruhe, behielten Sie Ihr Geld für sich, und auch die Frauen, die Hein spielt so schön auf dem Schifferklavier auf der Zieharmonika intonieren, gehören abgeschafft und nicht entlohnt. Geben Sie besser möglichst geräuschlosen Bettlern milde Gaben, die einfach so dasitzen. Das wird eine erzieherische Wirkung auf Straßenmusikanten ausüben. Bitte geben Sie auch den Obdachlosenzeitungsverkäufern nichts, die sind auch immer so laut.

Überhaupt Ruhe: Ich will an dieser Stelle gar nicht Ihre Kinder thematisieren, die ich super finde, weil sie ausschließlich nach Berlin kommen, um zu feiern und ganz viel zu trinken. Ich finde das völlig nachvollziehbar, denn schließlich ist die Ausrichtung von Festen fast das Einzige, was hier wirklich gut funktioniert, und wenn ich dahin gehe, wo auch Ihre Kinder tanzen, weiß ich, dass es laut wird, und begebe mich meistens sogar extra dahin. Gar nicht gut finde ich es aber, wenn Sie selbst lärmen, etwa als übergewichtiger Teil eines Junggesellenabschieds, als sogenannte Kollegensause oder weil Sie und ihre Freunde glauben, die Berlinerinnen, eingeboren oder zugezogen, hätten auf Sie nur gewartet. Wer auch immer Ihnen eingeredet hat, die Frauen Berlins gingen auf Einladungen trinkfreudiger Männergruppen zum Bier gern ein: Er hat Sie belogen.

Ach, liebe Reisende. Viel gäbe es noch zu sagen. So sollten Sie (aber wo gilt das nicht) sich im Interesse eines angenehmen Straßenbildes einfach so kleiden wie immer und nicht wie jemand, der einen Berg besteigt oder eine Morast durchwatet. Seien Sie versichert: Das Dickicht der Städte ist nur so eine blöde Redensart. Wenn Sie S-Bahn fahren, sollten Sie daran denken, nicht unmittelbar hinter der Rolltreppe anzuhalten, um zu überlegen, wo Sie hinwollen, und wenn Sie etwas Typisches essen möchten, nehmen Sie bitte Abstand von Eisbein und Currywurst; das riecht so komisch und sieht auch nicht gut aus. Wenn Sie Leute ansprechen, die nicht berlinern, sagen Sie Ihnen nicht, dass Sie das enttäuscht, und wenn Sie jetzt noch aufhören könnten, auf irgendwelchen beliebigen Plätzen der Stadt aus großen Wasserflaschen Wasser zu trinken, als durchquerten Sie die Wüste Gobi und nicht den Helmholtzplatz, verzeihe ich Ihnen sogar die erhebliche Verkehrsbehinderung, die Sie verursachen, wenn Sie so bedächtig auf einer dieser Fahrradstadttouren durch die Gegend fahren, als säßen Sie das erste Mal seit zwanzig Jahren auf einem solchen Gefährt.

Ansonsten: Herzlich willkommen. Haben Sie Spaß.

Strandbad

Dass es all das noch gibt, denke ich und trinke noch etwas Wasser. Die Tafel hinter dem Kassenhäuschen, auf der die Luft- und Wassertemperatur steht. Das Riesenschach mit den alten Männern und den Buben davor. Die Kette aus kleinen Plastikbojen, die markiert, bis wohin Nichtschwimmer dürfen, und die Strandkörbe, die vielen, bunten Badetücher mit Familien drauf, die Kühltaschen, Schwimmtiere, Bälle und kleine Klappstühle mitgebracht haben. Ab und zu kommen kleine Kinder aus dem Wasser zu einem der Handtücher gelaufen, holen sich irgendetwas, putzen ihre Nasen und stecken sich etwas in den Mund, und dann sind sie wieder weg.

An einem kleinen Häuschen gibt es Pommes Frites, billige Bratwürste, Eis und Süßes. Auf ein paar Plastikstühlen sitzen rotbraune alte Männer und trinken Bier, und im dunkelgrünen Schatten der Bäume sitzen auch wir auf einem Handtuch, lesen Zeitungen, überlegen, wo und wann wir was essen und bestätigen uns, dass es eigentlich nicht so besonders schön ist hier, ein wenig schäbig und unelegant, höchstens mittelmäßig gepflegt, und doch genau richtig für uns an einem Sonntag im August, der so heiß ist wie die Sommer unserer Kindheit vor dreißig Jahren: Irgendwo in einem versunkenen Land.

Entfernt von jenem Ort

Hey, sage ich. Ich habe doch schon vor Jahren meine Seele irgendwem verkauft, der gerade vorbeigekommen ist, und wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, sehe ich meinen Resten beim Zähneputzen zu. Ich habe irgendwann nachts um vier auf dem Heimweg beschlossen, dass das alles so zu reichen hat für jemanden wie mich, und jetzt beobachte ich, wie die Petrischale sich füllt mir irgendwelchem grünem Schleim, und wenn der Deckel sich hebt, fange ich an zu husten und dann bin ich tot.

Das macht nichts, könnte man sagen, denn nichts, was mich interessiert, wird die nächsten zwanzig Jahre passieren. Wer sich ausgerechnet in mich verliebt, ist selber schuld. Was ich noch imstande bin, kann man auf Papier lesen, das irgendwo abgeheftet wird, und das keiner liest. Schon in Ordnung, sage ich dazu. Und: Passt schon.
Vielleicht auch: Wozu.

Rauche, Mädchen, rauche

Am Samstagabend habe ich gar nicht so arg viel geraucht. Drei oder vier Zigaretten vielleicht auf dem Sommerfest, das der J. und ich um elf verlassen haben. Zwei oder so vor dem Visite ma tente. Die letzte – das weiß ich ganz genau – habe ich halb geraucht ausgedrückt. Gut hat sie nicht geschmeckt, obwohl der Abend so schön war: Warm und leuchtend auf den Stühlen vor der Bar. Dazu ein Martini auf Eis.

Am Sonntag mochte ich nicht rauchen. Manchmal ist das so, eher selten, und dann ekeln mich alle meine Aschenbecher ein bißchen, sogar der weiße, rechteckige aus Porzellan und mein Lieblingsaschenbecher aus javanischem Messing. Den ganzen Tag hatte ich nicht einmal Lust aufs Rauchen, und als ich draußen war, mit dem M., der M. und dem J. im Mauerpark zum Karaoke, hatte ich nicht einmal Zigaretten mit. Montag habe ich auch nicht geraucht. Heute eine, weil ein Kollege nicht allein rauchen wollte. Geschmeckt hat sie nicht.

Das ist ja großartig, Frau Modeste, höre ich es nun schon aus dem Netz rauschen. Mit dem Rauchen aufzuhören, ist ja sehr populär. Indes: Nichts auf Erden gibt es einfach so und ohne bittere Dreingabe. Denn hier, meine Damen und Herren, sitze ich, löffele Kartoffelsuppe, sortiere mich nach meiner wie üblich etwas zu späten Heimkehr aus dem Büro vor vierzig Minuten und nichts fällt mir ein. Nichts. Heute bleibt dieses Blog leer. Dabei war gestern und heute nicht weniger los als sonst. Dabei habe ich letzte Nacht sogar etwas besonders Bizarres geträumt. Aber ohne den weißen Rauch, ohne das Knistern von Tabak, ach: ohne die langsamen, trägen Züge fällt mir nichts ein, was zu erzählen sich lohnt. Vielleicht schmeckt es morgen wieder.

Nett

Nett, denke ich und schaue mir im Weinbergspark die Männer an, wie sie träge auf ihren Decken liegen, Bier oder Bionade trinken und rauchen, telephonieren oder mit kleinen Kindern spielen. Fast alle sind so circa 30. Die meisten sehen okay aus, ganz gut im besten Fall, und im schlechtesten immer noch so, dass es keine Frechheit darstellt, wenn sie das Hemd ausziehen und blinzeln halbnackt in die Sonne. Gute Sonnenbrillen haben die meisten und fast keiner hat Haare auf der Brust, weil man das gerade nicht so trägt.

Reizende Leute, denke ich mir und zünde mir eine Zigarette an. Fast alle hören ordentliche Musik, haben anständige Ansichten über die meisten Dinge im Leben, sind hinreichend klug und wissen ihre vernünftigen Ziele von den unvernünftigen zu unterscheiden. Die meisten sind ein bißchen träge. Wenn sie Frauen treffen, erklären sie sich und ihre Empfindungen, manche machen Musik daraus, einige schreiben ironische Lieder, und wenn man sie einmal trifft, nachts um drei: Sie diskutieren über Gott und die Welt und die Gesellschaft und alle diese Dinge.

Wirklich nette Jungs, gähne ich ein bißchen, weil ich schlecht geschlafen habe letzte Nacht mit zwei tobenden Katzen in der Küche, und frage mich, ob die Männer auf den Decken im Park eigentlich so sein wollen, wie sie sind, oder ob sie heimlich, ganz allein zu Hause vielleicht, davon träumen, die Muskeln spielen und die Kiefer krachen zu lassen, statt zu schreiben oder zu singen Heldentaten zu vollbringen, Frauen ohne viele Worte unanständige Anträge zu machen, und einfach aufzuhören, sich die Haare auf der Brust zu entfernen, und warum sie, falls sie das wollen, das nicht ab und zu einfach tun.

Man weiß sehr wenig über Männer, fällt mir auf, mit meinem doppelten Espresso im Pappbecher im Weinbergspark, und lächele ein wenig ins Leere, denn die netten Jungs lächeln mich nicht an, und ich weiß nicht, ob sie nicht wollen, oder ob sie es nur nicht tun, und wieso eigentlich nicht, am Donnerstag abend zwischen sieben und acht oder auch zu ganz anderen Zeiten.

Früchte

Im Stockwerk über dem Atelier ist es still. Unten holt eine ganze Familie ein Bild ab, ein Mann lässt sich offenbar portraitieren und bespricht, wie er gemalt werden will, und die Frau des Malers verpackt mein Bild ordentlich zum Mitnehmen. Schön sieht es aus, eine schlanke Frau in kurzen Hosen, wie sie im Sommerlicht auf der Straße steht und konzentriert mit etwas hantiert, was ein Telephon sein könnte. Nach Hitze sieht das Bild aus, nach dem Sommer in der Stadt, den ich liebe. Nach Asphalt, Benzin und Staub und jenem Zauber, der den Berliner Sommer leuchten lässt, als sei alles möglich und jeder Rausch nur einen Lidschlag entfernt.

Ich könne mich noch etwas umschauen, werde ich aufgefordert, und wandere von Bild zu Bild. Es ist kühl hier, Hochparterre im Gartenhaus, und auch ohne die roten Vorhänge aus Samt sähe der Raum aus wie aus anderen Zeiten. Hier säße ich gern und würde lesen, denke ich mir und ziehe den Dunst von Ölfarben ein, den ich mag und mit etwas verbinde, was weiblich ist, etwas von Federn und Pflanzen, langen Perlenketten und – wer weiß, woher – weichem, grünem Gras.

Gras gibt es hier nicht, aber eine Eberesche steht im Hinterhof und leuchtet durch die alten Fenster. Eine gemalte Frau steht vor mir bis zur Hüfte im Licht, ein Café liegt im kühlen Schatten, aber ein Bild sehe ich, das des Lichts nicht bedarf. Es zeigt keine Menschen, keine Tiere, keinen Raum. Nur ein weißes Tuch, eine Karaffe, halb nur ausgeführt, und rund um das Glas Früchte. Pfirsiche liegen um das Glas herum, samtig manche, manche flach aus den Weinbergen, manche rund, wie sie am Mittelmeer wachsen, beschattet von Zypressen und unweit dem Meer.

Eine Sehnsucht ergreift mich nach diesen Früchten. Eine schwere, schwingende Gier nach der weichen, stumpfen Haut, dem Geruch kurz vor der Fäulnis, dem Übermaß an Süße, das den ganzen Mund füllt, und nach dem klebrigen Saft. Pfirsiche möchte ich essen, denke ich mir (doch das kommt nach Lage der Dinge nicht mehr im Betracht), und dieses Bild, dieses Bild muss ich haben. Nächsten Samstag vielleicht.

Time Will Not Be Ours Forever

Morgens musste ich erst um acht erscheinen, wenn die Schwestern seit Stunden die alten Frauen wuschen und fütterten. Bei Tisch war ich ungern dabei, weil ich mich vor den zahnlosen Mündern ekelte, auch vor dem Speichel, aber mich nicht traute, dass zu sagen. Immerhin war ich hier, weil meine Mutter meinte, einmal im Leben müsse man so etwas tun.

Mit der Zeitung ging ich von Raum zu Raum und las der Handvoll alter Frauen, die noch nicht dement waren, vor. Die alte Frau S. ließ mich auf dem Klavier vorspielen, um ein bißchen unterrichten zu können, und erzählte von den vierzig Jahren als Klavierlehrerin. Die noch ältere Frau H. mochte die Zeitung nicht, aber Liebesromane und bekam jeden Morgen ein Kapitel. Fast alle alten Frauen (alte Männer gab es hier kaum) schenkten mir Süßigkeiten oder Handarbeiten, und erzählten gern von ihren Enkeln. Die meisten waren etwas älter als ich, studierten irgendwo, oder waren schon fertig und hatten selber Kinder. Ihre Bilder standen ordentlich gerahmt auf den Nachttischen oder Kommoden.

Neben den Kindern und Enkeln stand das Hochzeitsbild. Erstaunlich hübsch waren die alten Frauen einmal gewesen: Blanke, von der Zeit leergewaschene Gesichter in schwarz-weiß. Schleier, Blumensträuße, junge Männer in Hochzeitsanzügen. Keine der alten Frauen sah ihrem Hochzeitsbild auch nur ähnlich. Manchmal suchte ich in den zusammengesunkenen Gesichtern nach den jungen Frauen und wurde nie fündig.

Fast keine der Frauen wurde oft besucht. Fast niemand täglich angerufen. Selten kamen Briefe. Die alten Frauen waren einsam, manche weinten ab und zu, wenn sie erzählten, und manche waren über ihrem schweren Leben bösartig geworden, ungerecht und gefürchtet bei den Schwestern. Vieles, was sie erzählten, klang nach unerfüllten Wünschen und Chancen, die es nie gab. Die Schwestern wiederum waren grob, wenn keiner hinsah, stumpf, und obwohl sie jung waren, wirkten sie verbraucht und so, als werde da kein neuer Anfang mehr folgen. Mich schauderte, wenn ich das Altenheim verließ, und als ich mich verabschiedete, feierte ich die ganze Nacht wie eine Entronnene, trank viel zu viel und küsste den J.2, obwohl wir damals eigentlich fertig waren miteinander, aber sonst war keiner da. So würde es nie enden mit mir, versprach ich am nächsten Morgen meinem Spiegelbild und dann zog ich aus. Vierzehn Jahre ist das her.

Ein bißchen herumgezogen bin ich in der Zwischenzeit. Ziemlich lange war ich an der Uni, erst als Studentin und dann noch ein paar Jahre danach. Viel gearbeitet habe ich, vielleicht zu viel, aber die alten Frauen werden nicht weniger gearbeitet haben als ich. Geheiratet habe ich nicht und keine Hochzeitsbilder für den Nachttisch. Nie habe ich mich für andere aufgerieben, wie die alten Frauen für ihre Männer und Kinder und Enkel, und so lebe ich ein Leben, das weit genug weg ist von dem, was ich niemals wollte, doch enden (das weiß ich manchmal) werde ich wohl nicht anders: Als eine alte Frau im Heim, entstellt von den vielen Jahren, ein wenig einsam, zu selten angerufen, und voll Bedauern um ein Leben, das ich hätte führen können und nicht geführt habe, weil mir zu spät einfallen wird, was ich hätte lassen oder tun sollen, um glücklich gewesen zu sein, oder weil ich es bisweilen weiß, aber nichts daraus mache, aus Feigheit, aus Dummheit, aus Bequemlichkeit oder aus Rücksichtnahmen auf etwas, das ich vergessen haben werde, weil es unwichtig sein wird, später einmal und kurz vor Schluss.