Über Nichts

Das rote Kleid

Sehen Sie, ich werde in Jeans und Shirt nicht zu einem der Indie-Mädchen aus Kreuzberg. Ich sehe im grauen Kostüm nicht wie eine Rechtsanwältin aus, sondern höchstens wie eine dicke Stewardess. Im Etuikleid wirke ich ein bißchen plump und nicht wie Audrey Hepburn, aber in roten Kleidern, in roten Kleidern aller Arten, wirkt der Feenzauber der Verkleidung sofort. An jedem meiner roten Kleider hängt eine Geschichte, Champagner und Überschwang auf einem Fest, die sanfte, spätsommerliche Melancholie eines nächtlichen Picknicks, und selbst in den roten Kleidern, die mir gar nicht so recht standen, ging es mir gut.

Doch kann man den Zauber nicht einfach und absichtsvoll kaufen. Ginge man ins KaDeWe und fragte nach einem roten Kleid, die Feen wendeten sich beleidigt ab. Die roten Kleider müssen zu mir kommen. Drei-, viermal, öfter noch, muss das rote Kleid in einem Schaufenster locken, es muss anprobiert werden und zurückgehängt, verworfen ob des exorbitanten Preises oder des allzu tiefen Ausschnitts, der zu langen Ärmel wegen oder als allzu bieder. Abgeschrieben werden muss ein rotes Kleid, und am Ende doch gekauft. An dem Abend, an dem das rote Kleid getragen werden soll, muss erst etwas anderes angezogen werden, dann bekleckert vielleicht, bestäubt mit Puder oder auf einmal hässlich werden, und kurz bevor das Taxi kommt, muss das rote Kleid übergeworfen werden. Niemals trägt man passende Schuhe und Taschen zum roten Kleid.

Irgendwann aber steht man vor dem Schrank, und das rote Kleid hat seinen Zauber verloren. Die Feen haben das rote Kleid fallen gelassen, nur noch Jersey oder Chintz hängen zwischen Blusen und Röcken, und dann vergisst man das rote Kleid. Irgendwann kommt es weg. Das vorletzte rote Kleid hatte zudem irgendwann nicht mehr auswaschbare Flecken, das letzte rote Kleid ist im Zuge meiner Versuche, doch noch einmal weniger als 60 Kilo zu wiegen, zu weit geworden, und vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen dem bisher allzu alltäglichen, glanz- und wunderlosen Sommer und einem Schrank ohne rotes Kleid.

Vor zwei Wochen aber auf der Suche nach einem Geschenk laufe ich zweimal durch die Lychener Straße. Beim ersten Gang sehe ich das rote Kleid nur aus den Augenwinkeln. Gepunktet ist es, eigentlich zu süß für mich und meine 33 Jahre. Hübsch ist das Kleid, aber ganz bestimmt für jemand anderen. Die Puffärmel, das Empireband unter der Brust und die weiße Spitze könnte ein junges Mädchen tragen, aber eine erwachsene und nicht eben für ihre Niedlichkeit bekannte Frau, so überlege ich auf dem Weg zum Helmholtzplatz, macht sich in derlei Verkleidungen vielleicht eher ein wenig lächerlich. Auf dem Rückweg (ich habe für drei hübsche Buben drei Glibberfliegen gekauft) probiere ich das Kleid doch einmal an. Es steht mir.

Ob das Kleid nicht etwas zu mädchenhaft für mich sei, frage ich die Verkäuferin. Die, wie nicht anders zu erwarten, winkt ab. Etwas unschlüssig drehe ich mich vor dem Spiegel. Das Kleid sitzt gut. Überhaupt werde, so verspricht man mir, das Kleid nicht nur gut, sondern perfekt sitzen, denn es werde extra für mich neu geschneidert, so dass Busenband und Spitze, Ärmel und Saum genau dort sitzen, wo sie sich exakt befinden sollen, und so lasse ich meine Maße nehmen und zahle etwas an. Ganz wohl indes ist mir nicht. Mutiere ich, frage ich mich, etwa zu einer Frau, die ihr Alter verleugnet durch übermäßig jugendliche Kleider? Das rote Kleid jedoch überwiegt meine Bedenken, und so sage ich den Kauf auch am Montag nicht ab.

Zwei Wochen später kommt die SMS. Das Kleid sei fertig, abholen könnte ich es Samstag, aber Samstag bin ich ja nun in Sachsen und nicht in Berlin. Am Montag bin ich verabredet, am Dienstag morgen muss ich Termine wahrnehmen, aber am Dienstag abend (ganz bestimmt) fahre ich am Helmholtzplatz vorbei, hole das Kleid, hänge es auf und warte auf den Abend, an dem es getragen werden will und mich trägt.

Das Badefest

Eine Idylle

Weil ich Leute blöd finde, die ein inneres Kind haben, dem sie Schwimmtiere für die Badewanne kaufen, lasse ich zwischen Bergen von Schaum bloß eines von diesen Fläschchen schwimmen, die man in den Badezimmern von Hotels immer vorfindet, und die ich jedesmal mitnehme, weil man ja nicht weiß, ob man im nächsten Hotel auch Duschgel hat. „Mint Thyme Conditioner“ heißt das Schiff, das unterhalb der silbern glänzenden Türme von Port Hahn in See sticht, und kreist zwischen den weißen Schaumbergen hin und her. Gut sieht der Schaum aus, der sich entlang den Rändern der Wanne türmt, zart durchsichtige Blasen, hochgetürmt, weiß vor Sauberkeit, und in der Mitte aufgerissen, wo man meine Beine sehen kann, die ich eigentlich ganz gut finde, besser jedenfalls als den Oberkörper, über den ich mit den Händen ganz viel Schaum verteile, damit man ihn nicht sieht.

Die „Mint Thyme Conditioner“ dümpelt ein wenig antriebslos über die Wasseroberfläche, und ich gebe ihr einen kleinen Stoß. Entlang der Meerenge zwischen dem Wannenrand und der tückischen Isola Knie kreuzt das Schiff Richtung Süden, kollidiert ein paarmal mit der emaillierten Wanne, und schwankt weiter. „Seemann lass das Träumen..“, singe ich, weil ich ausschließlich in Badezimmern singe, und die Gelegenheit nicht verstreichen lassen will.

Ein Erdbeben in Höhe des Kaps der beiden Füße bringt die See in Wallung, ein bißchen Wasser landet sogar auf dem weißgekachelten Fußboden neben der Wanne, und die „Mint Thyme Conditioner“ dreht sich ein paarmal um die eigene Achse. „Hilfe! Seenot!“, quietsche ich stellvertretend für den Kapitän und den ersten Offizier. „Mann über Bord!“, brülle ich als Kapitän, aber der erste Offizier liegt schon ertrinkend auf der Höhe meiner Ferse, strampelt noch ein bißchen und liegt dann ganz still.

„Ist irgendwas?“, erkundigt sich der geschätzte Gefährte vom Arbeitszimmer aus durch zwei geschlossene Türen. „Alles bestens!“, antworte ich, was ein wenig herzlos ist, denn der erste Offizier ist ja tot, aber ich singe ein bißchen, um den Kapitän zu trösten, und das Leben muss ja weitergehen.

Hart und einsam ist das Leben nun an Bord der „Mint Thyme Conditioner“, und ich beschleunige ein bißchen, um den Kapitän zu trösten. Das Wadenmeer immerhin ist ruhig, der Kapitän liest viel und beginnt, den ersten Offizier zu vergessen, und wenn der Zwieback nicht auch langsam zur Neige ginge, wäre das Leben fast schön auf der „Mint Thyme Conditioner“, die allerdings langsam beginnt, etwas Wasser zu ziehen, und deutlich tiefer liegt als zu Beginn der langen und gefahrvollen Fahrt.

„Du bist doch schon ganz aufgeweicht!“, behauptet der geschätzte Gefährte, obwohl er mich gar nicht sehen kann, und ich betrachte interessiert die Rillen auf meinen Fingerkuppen. – Ob man, überlege ich, am ganzen Körper solche Rillen bekommt, wenn man im Wasser liegt wie der erste Offizier? Oder ob er sich inzwischen dermaßen mit Wasser vollgesogen hat, aufgeplustert wie ein Schwamm, aufgedunsen durch das vanilleduftende Badewasser, dass er am Ende nicht einmal mehr durch den Ausguss passt, wenn ich den Stöpsel ziehe und die Wanne verlasse, um mich abzutrocknen?

Am Ende aber ist die Wanne leer, der erste Offizier treibt leblos durch die Berliner Abwasserrohre, und der Kapitän steht nur manchmal ein wenig versonnen am Badewannenrand neben der „Mint Thyme Conditioner“ und gedenkt des toten Gefährten mit ein wenig Wehmut.

Golden in the heydays of his eyes

And as I was green and carefree, famous among the barns
About the happy yard and singing as the farm was home,
In the sun that is young once only,
Time let me play and be
Golden in the mercy of his means,
And green and golden I was huntsman and herdsman, the calves
Sang to my horn, the foxes on the hills barked clear and cold,
And the sabbath rang slowly
In the pebbles of the holy streams.

Dylan Thomas, Fern Hill

So lange, so viele Jahre habe ich auf keinem Pferderücken mehr gesessen, und doch einmal gern und sogar halbwegs gut geritten, mit acht, mit zwölf, 15, 18, aber mit zwanzig dann nicht mehr, weit weg vom Jacky, dem braunen Trakehnerwallach mit der weißen Blesse. Nachts aber, manchmal im Traum, vielleicht mit zuckendem Füßen wie ein schlafender Hund, nachts reite ich wieder vom Reitstall durchs offene Tor zwischen den Kastanien hindurch, und die Bäume werfen mir die letzten rot-weißen Blüten auf den Weg bis zur grauverputzten Mauer, deren Pforte stets geschlossen sein soll und es doch niemals ist, den ganzen Sommer nicht, und nie in meinen Träumen.

Sanft wölbt sich die Erde vor mir hinab zum See, und ich reite, reite, falle in den gestreckten Galopp, und rechts und links stäubt das Korn, und der Hopfen reckt sich dem Himmel entgegen, als könne er weiter wachsen, immer höher, und wie die Märchenbohnen seine Spitzen schließlich bis zur Himmelspforte ausstrecken. Träge von Wärme und Sommer atmet das Land in der Sonne und treibt einen vollblütigen, roten Saft in die Früchte, die in den Bäumen hängen. Sogar die Stallkatzen sind strotzend, stolz und gesund, und auch das ingwerfarbene Fell von Kater Archie fehlt nicht bei Nacht.

Unterhalb der Wiesen wird es steiler, enger der Pfad, und ein Wäldchen verdunkelt den sonnenbeschienenen Weg. Ich verlangsame noch vorm Märchenstein, auf dem in der Johannisnacht ein stummes Mädchen sitzen soll, das erlöst, wer sich traut, sie zu küssen, und keine Angst hat vor der blutigen Linie um ihren Hals. Reich belohnt würde, wer die arme Wiedergängerin erlösen könnte, denn das tote Mädchen bewacht einen Schatz, ihre Mitgift, und nur sie weiß, wo er zu finden ist, aber zum Küssen und Erlösen kommen nur Männer in Frage, und so reite ich weiter, vorbei an der Kuhkoppel, wo mehr Löwenzahn wächst als irgendwo sonst, und die kleinen Mädchen sich Kronen aus den gelben Blüten banden und Prinzessinnen waren, lauter Königskinder zwischen den sanften, riesengroßen Kühen.

Immer allein reite ich durch meine Träume, nie reitet die N. mit mir, nie die S., meine besten Freundinnen zu Schulzeiten, die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten: Die extravagante, schöne N., die ihre Klugheit hinter mehr Verrücktheiten verbarg als irgendjemand in meiner Klasse, und sich alles und jeden nahm, den sie wollte, und die ernste, besonnene S., die viel las und noch mehr nachdachte und freundlich war, gütig und so nett, dass niemand bemerkte, dass sie auch hübsch war. Beide ritten oft mit mir, beide hatten eigene Pferde, und nur ich sollte kein eigenes Pferd bekommen, und hatte am Jacky nur eine Reitbeteiligung, auch wenn er eigentlich, redete ich mir ein, mir gehörte, denn wenn ich kam, erkannte er meinen Schritt schon im Hof und wieherte und scharrte mit den Hufen. Seine Eigentümerin erkannte er nie. Im Traum gehört Jacky natürlich ganz mir, und wer weiß, ob Jackys rechtmäßige Eigentümerin, meine Kieferorthopädin, noch so von ihm träumt, der zwei Jahre nach meinem Abi krank wurde und starb, oder ob er nicht inzwischen ganz mein ist, die seinen Schatten in ihren Träumen noch einmal mit glänzendem Fell bekleidet, noch einmal durch die schwarze Mähne greift, die Nüstern streichelt und dem toten Pferd einen Apfel reicht, der unter einem Baum auf dem Boden liegt hinter dem Wäldchen, wo das Land weit wird, weit und offen.

Streng verboten ist es, über die Äcker zu reiten, aber im Traum reite ich geradeaus, verlasse den Weg und setze hinweg über Brombeeren und Hagebutten, steige vom Pferd und gehe zu Fuß über die schweren, lehmigen Schollen. Ein paar Minuten sitze ich im Schatten einiger Weißdornbüsche und blinzele in die Sonne, bevor ich aufsteige und Jacky an den Schlehen vorbei dem See zutreibe, an dessen Ufern der Wind die Weiden wiegt. Aus dem trägen, grünschimmernden Wasser ruft mich der wilde Wassermann, um mich zu heiraten und mit mir zu leben in seinem Schloss aus Schlick und Muscheln, und golden leuchtet die Nachmittagssonne zwischen den Blättern hindurch und wirft lauter Sonnenmünzen durch meine Träume in meinen Schoß, die verschwunden sein werden, wenn ich erwache.

Das Glück des Osama bin Laden

„Manchmal, Verehrtester,“, sage ich also zum geschätzten ehemaligen Gefährten, „manchmal wäre ich schon gern jemand anders.“ „Das sind ja wieder Geschichten.“, seufzt der J. in sein Glas und steckt sich eine meiner Zigaretten mit meinem Feuerzeug an. „Aber wirklich!“, beteuere ich. „Kate Moss zum Beispiel. Einmal so aussehen und so cool sein dazu. Ein ganz anderes Leben wäre das, wenn ich so aussehen würde.“ – „Dann würdest du eben 15 Kilo leichter irgendwo in einer Bar sitzen.“, unterbricht der J. meine Ausführungen über Madame Moss, und die Vision eines Lebens als legendäre Schönheit löst sich in dem Rauch unserer Zigaretten auf, dessen weiße Schlieren sich im Glastisch spiegeln.

„Wirklich reich wäre ich manchmal auch ganz gern.“, sinniere ich weiter. „So Bill-Gates-artig. Ich würde mir noch heute Nacht einen alten Bugatti kaufen und außerdem Raubgräber anstiften, mir einen Etruskerkopf zu besorgen. Und ich würde dem Land Berlin seine Watteaus abkaufen, die sind so unglaublich abgebrannt, und von Kunst verstehen’s ohnehin nichts.“ – Mit einem Ausdruck stummer Verzweiflung über das Ausmaß menschlicher Dummheit in meinem ganz speziellen Fall schaut der geschätzte ehemalige Gefährte einmal demonstrativ an die Decke der Bar, an der eine satellitenförmige Lampe ihr blitzendes Dasein führt.

„Hast recht.“, lenke ich ein. „Das bringt ja alles nichts. Hat man ja nichts von. Was großartig wäre, wäre vielleicht etwas anderes, eher so metaphysischer Natur. So eine Art inneren Plan. Das Gefühl, genau zu wissen, was die Welt zusammenhält, und einen sinnvollen Platz in dem ganzen Gefüge. Papst zum Beispiel. Papst wäre cool. Meinst du, der Ratzinger ist ein glücklicher Mensch?“ – Um nichts in der Welt, versichert der katholischen Umtrieben völlig abholde schönste Niedersachse Berlins, wolle er Papst sein, und auch mir sei ein solches Dasein eher nicht zu empfehlen. „Außerdem“, spielt der J. einen wirklich stichhaltigen Trumpf aus, sei beim aktuellen Heiligen Vater nun weder von gutem Aussehen noch von exorbitantem persönlichem Reichtum die Rede. Mit einem Bugatti durch Rom zu rasen, verbiete sich aus verschiedenen Gründen, die mit der Ehre des Amtes zu tun haben, eigentlich sogar von selbst. Überdies sei es auf Erden nun einmal so, dass göttliche Gerechtigkeit oder auch der bloße Zufall jedem Erdenbürger nur maximal eine ganz bestimmte Gabe zukommen lasse, so sei Kate Moss vermutlich ebenso orientierungslos wie ich bezüglich ihrer Rolle im Universalgefüge, der Papst schlafe jede Nacht allein, und Bill Gates sei für sein mieses Aussehen ja geradezu weltberühmt.

„Muss nicht so sein.“, wende ich ein und trinke mein Glas aus. „Gegenbeispiel?“, zuckt der J. mit den Schultern und zündet sich eine weitere meiner Zigaretten an. „Osama bin Laden.“, triumphiere ich, und der geschätzte ehemalige Gefährte stellt sein angesetztes Glas wieder auf den Tisch.

„Berühmt ist er, reich ist er, und wenn man sich den komischen Bart mal wegdenkt, sieht er sogar gut aus.“, führe ich aus. „Und wenn irgendwer auf Erden an seine göttliche Sendung glaubt, dann vermutlich bin Laden. Außerdem ist er erfolgreich.“ – „Erfolgreich?“, echot der J. – „Was soll man sagen“, fahre ich fort. „Das World Trade Center ist weg, oder?“

„Das hört sich ein bißchen blöd an,“, sinniert mein Exfreund, „aber bin Laden – wie soll man sagen… das ist doch kein anständiger Mensch.“ – „Vielleicht ist der privat ganz nett?“, spekuliere ich. „Und dann wäre ich der Exfreund von Osama bin Laden? Das wird mir jetzt alles ein bißchen zu wahnsinnig.“, beendet der J. das Gespräch, und wir stehen auf, um an der Theke zu zahlen.

Was wohl, denke ich auf dem Weg die Schwedter Straße aufwärts, Osama bin Laden in diesem Moment macht? Und ob er, ab und zu und sehr heimlich, auch einmal gern jemand anders wäre?

Zum Beispiel Kate Moss?