In einem Lexikon zeitgenössischer weiblicher Alltagspsychosen dürfte der Kauf neuer Jeans keine ganz geringe Rolle spielen, und insbesondere solche Damen, deren Figur nicht so besonders dem Standard entspricht, den sich die zeitgenössische Bekleidungsindustrie als erstrebenswert vorstellt, fürchten den Besuch von Boutiquen, deren Inhaber es sich zum Ziel gesetzt haben, ihre Jeans als ganz besonders gutaussehend auf dem Markt zu plazieren. „Wir stellen uns riesengroße Frauen vor, die unsere Hosen anhaben.“, höre ich es aus dem Sortiment murmeln, betrete ich eines der Geschäfte, in denen die Jeans wie Kunstwerke an den Wänden hängen. „Gleichzeitig sollen die Frauen, die unsere Jeans anhaben, keinesfalls mehr als 50 Kilo wiegen, sie sollen Hüften haben wie ein unterernährter vierzehnjähriger Knabe aus dem Sudan, und ihre Oberschenkel dürfen auf keinen Fall dicker sein als ihre Waden, die wir uns ebenfalls ungewöhnlich schlank vorstellen. Elfengleich sollen unsere Kundinnen durch die Straßen von Berlin schweben, göttinnengleich erstrecke sich das Riesenmaß ihrer zarten Glieder durch das blaue Tuch unserer Hosen, und kleine, dicke Frauen, fleischige Frauen, Frauen mit runden Hüften und Bäuchen, keulenartigen Oberschenkeln und feisten Waden sollte es ohnehin überhaupt nicht geben.“
Von selbst versteht es sich vor diesem Hintergrund, dass die solcherart aus dem erstrebten Kundenkreis ausgeschlossenen Damen entsprechende Geschäfte äußerst ungern aufsuchen, und die wenigen Jeans, die es ihnen käuflich zu erwerben gelingt, so lange tragen, bis sie ihnen vom Leib fallen. – Eben dies, meine Damen und Herren, ist mir indes letzten Freitag geschehen.
Ich sitze also bei meinem geschätzten ehemaligen Gefährten, dem lieben J., in dessen Wohnung herum, erzähle dies und das, bereite ein wenig dessen bevorstehende Geburtstagsfeier vor, und sitze schließlich auf seinem Schreibtischstuhl, so einem Lederstuhl eben, wie man ihn sich gemeinhin vor den Schreibtisch stellt. In meiner rechten Hand ein Glas Wein, in meiner linken Hand eine Zigarette, und irgendwann komme ich dann doch auf die Idee, mein linkes Bein anzuwinkeln, hochzuziehen, und die Ferse unter den rechten Oberschenkel zu schieben.
Ob es schlichter Materialverschleiß war, oder mein körperlicher Umfang unter der Wucht unzähliger Torten dieses allzu langen Winters doch ein wenig über die Ufer getreten ist: Unter einem grässlichen Geräusch, einem krachenden Reißen, platzt meine einzige tragbare Jeans über der linken Gesäßhälfte zehn Zentimeter lang auf. „Das kann man vielleicht nähen lassen.“, kommentiert der J. mit bangem Blick die Katastrophe, denn bekannt ist jenem Herrn seit vielen Jahren, dass jeder Besuch entsprechender Geschäfte meine psychische Konstitution auf Tage, wenn nicht auf Wochen, ganz erheblich in Mitleidenschaft zieht, und auch auf die Gemüter meiner Umgebung düstere Schatten wirft.
„Vom Flicken werd‘ ich auch nicht dünner.“, wehre ich ab. Am folgenden Donnerstag, so schlage ich statt dessen vor, solle der J. mich zum Jeanskauf begleiten, von der Alten Schönhauser über den Rosenthaler Platz, wo Diesel überteuerte Jeans verkauft, bis zum Hackeschen Markt, wo HUGO und Sisley Hosen feilbieten, soll es gehen, und wenn übermorgen aus diesem Kauf wegen meiner unzureichenden Physis nichts werden sollte, dann setze ich mich zitternd und psychisch auf Wochen am Boden zerstört ins „Weihenstephaner“ gegenüber der S-Bahnstation, trage zukünftig nur noch weite, wallende Röcke und verzehre vor Ort den Gegenwert einer Jeans in Fleischkäse und Weißwürsten, denn dann ist es auch egal.