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27.03.2012

Der Goosen („Sommerfest“) wird auf die letzten Meter nicht interessanter. Es handelt sich um eine Art Ruhrgebiets-Heimatroman rund um einen Heimkehrer mit emotionaler Altlast an eine Jugendliebe, und vielleicht gewinnt das Buch, wenn man die Schauplätze und Charaktere kennt. Ich kenne das Ruhrgebiet nur von gelegentlichen Auswärtsterminen, und mein Bild der Gegend ist nicht besonders positiv. Etwas derb stelle ich mir das Ruhrgebiet vor, naturfern wie eine Großstadt, aber ohne deren Vorzüge, und den Bewohnern des Ruhrgebiets, so mein ganz persönliches Vorurteil, fehlt es an einer gewissen Politesse. Dieses Bild bestätigt das Buch nun aufs Beste. Ganz erleichtert schlage ich den Roman nach der letzten Seite zu. Der Goosen hat mir nicht gefallen.

Im Tiergarten gefällt es mir dafür umso besser. Ich sitze in der Sonne, trinke Latte Macchiato entkoffeiniert, schaue Kind F. beim Wachsen zu und telefoniere. Als eine halbe Stunde später eine Bekannte auftaucht, schieben wir zu zweit langsam Richtung Zoo und lästern über den Berliner Betrieb, ziehen alle Parteien hintereinander durch den Kakao und geben Prognosen hinsichtlich der Bundestagswahl ab, dass es nur so kracht.

Im KaDeWe schauen wir uns einmal gründlich an, was man für Kinder so alles kaufen kann, wenn man gerade für sich nichts findet. Meine Bekannte hat eine kleine Tochter, das ist fürs Einkaufen natürlich dankbarer, und für einen Moment bedaure ich, dass man für kleine Buben wenig mehr bekommt als Miniaturausgaben dessen, was ihre Väter in deren Freizeit tragen. Ich kaufe also Chinos für den F., Bodies mit Polokragen und einen ganz, ganz kleinen Cardigan.

Nach Hause zurückgekehrt lege ich mich wieder aufs Sofa. Auf meinem Bauch liegt der F. und maunzt leise abwechselnd die Decke und mich an. In einem Sitz lese ich mich durch Christian Y. Schmidts amüsantes Chinabuch „Bliefe von dlüben“, fange nun doch mit David Foster Wallace „Unendlichem Spaß“ an, und telefoniere ein bißchen herum.

Nach China sollte man auch mal reisen, überlege ich mir beim Zubettgehen. Aber erst einmal reisen wir in die USA, erinnere ich mich, und blättere noch im Bett, den F. an der Brust, im Reiseführer. Kalifornien, denke ich, und dann schlafe ich ein.

26.03.2012

Die Photos vom Wochenende geben mir den Rest. Jeder, aber auch wirklich jeder, ist dünner als ich, und auch das Baby macht irgendwie den Eindruck, als fände es eine dünnere Mutter besser. Ich bin verzweifelt.

Auf Zeitablauf allein mag ich mich nicht verlassen. Ich bin bisher immer nur von selbst dicker, aber nie von selbst dünner geworden, und ob Stillen und Spazierengehen allein ausreichen, halte ich für eher unwahrscheinlich. Schließlich ist der Kleine schon zwei Monate alt, andere Frauen führen acht Wochen nach der Geburt öffentlich Bikinis vor, und nur ich sehe aus wie eine Seekuh. Das muss alles anders werden. Ich melde mich bei Weight Watchers an.

Nach der Anmeldung geht es mir schon besser. Das wird wieder, tröste ich mich, und mache einen mittellangen Spaziergang quer durch den Prenzlauer Berg. Außerdem kaufe ich ein. Heute abend gibt es Sellerie-Apfel-Gratin und Steaks, kündige ich dem J. an. Das passt gerade so in meinen Ernährungsplan, rechne ich mir aus, und bin im Großen und Ganzen mit mir ganz zufrieden.

Nachmittags dann ein Rückschlag: Der J. will Eis essen, ich begleite ihn, und irgendetwas in mir sagt – quasi an mir vorbei – laut und deutlich: Zwei Kugeln in der Waffel. Der Spaziergang morgen muss also sehr ausführlich ausfallen.

Nachts im Bett zähle ich Punkte. Ich wälze Ernährungspläne hin und her. Ich plane Sportkurse. Ich rätsele, wie viel man bei Pilates wohl verbrennt, und als ich einschlafe, träume ich tatsächlich von einem langen, langen Weg, matschig und steinig und zu Fuß durch den Regen. Wie viele Punkte das bringt, habe ich vergessen, als ich morgens erwache.

25.03.2012

Die ganze Welt riecht nach Milch. Nach saurer Milch, genauer gesagt, und in der Öffentlichkeit schnuppere ich ab und zu vorsichtig ein bisschen herum, ob es gerade sehr durchdringend riecht wie in einer Lagerhalle für Harzer Käse.

Dass Kind F. nach Milch riecht, finde ich dabei verzeihlich. Er ist acht Wochen alt, da kann man schon mal nachsichtig sein, aber für die Spuren der Milch auf mir bin ich natürlich voll und ganz selbst verantwortlich. Flecken auf T-Shirts beispielsweise. Reste von Milch, die mir aus dem F. irgendwie in den Ausschnitt getropft sind. Milch in den Haaren, alle diese Dinge, und so sitze ich also morgens um halb zwölf vorm Café Anna Blume und mustere verstohlen mein Oberteil. Da ist doch nicht etwa … oder riecht hier Kind F. aus seinem Wagen?

Wenn Frau Wortschnittchen etwas riecht, dann überspielt sie das jedenfalls mit höflicher Perfektion. Hell, aber kälter als gestern scheint die Sonne, das Frühstück für zwei ist so groß, dass ich vermutlich nicht abnehmen, sondern weiter zunehmen werde, und Kind F. schläft wie erhofft so ausdauernd, dass er erst dann erwacht, als das Frühstück praktisch aufgegessen ist. Ich bin satt. Kind F. möchte erst noch satt werden.

Zu Hause angekommen, inspiziere ich meine Oberbekleidung und wechsele das Shirt. Später am Tag ziehe ich mich nochmal um. Jeder hatte mir schon im Vorfeld gesagt, dass ich nie so häufig waschen würde, wie im ersten Lebensjahr des F., aber dass dies nicht nur an den ständig vollgespuckten Kinderkleidungsstücken liegt, sondern auch an meinen vollgemilchten Sachen, war mir so nicht klar.

Irgendwann abends wird Kind F. gebadet. Frisch riecht er, gar nicht nach Milch, und ich schnuppere kritisch: Es muss an mir liegen. Ich sollte mich umziehen.

24.03.2012

Heute ist Sommer. Auf dem Weg vom Potsdamer Platz bis nach Kreuzberg, den Mauerwanderweg entlang, rötet sich meine Haut ein wenig, und auch auf der Stirn des M., auf den Wangen der I., kann man den Sommer sehen.

Sogar die Spree sieht aus, als sei sie sauber wie ein Gebirgssee und warm wie das Meer im August. Die Berliner sind die bestgelaunten Menschen der Welt und stehen glücklich auf den Brücken der Stadt, grillen im Park und blinzeln selig-benommen in den Tag. Vor Aldemir in Kreuzberg bilden sich lange Schlangen für das erste Eis des Jahres. Vor den Cafés ziehen Gäste ihre Jacken aus und halten die weißen Arme und Beine ins Licht.

Das sind die Flitterwochen des Frühlings, denke ich mir, und schaue den Kindern zu, die im T-Shirt über die Bürgersteige fahren. So schön wird der Sommer sein, bin ich mir sicher: Erdbeeren und Sahne. Eisbecher und nächtliche Bellini, überglänzt von einer weiß-goldenen Sonne am Tag und Lampions bei Nacht, die im Sommeriwnd schaukeln.

23.03.2012

Irgendwann nachmittags aber sitze ich in der Sonne, lächele dem Sommer zu und freue mich, wie gut die Stadt aussieht, und wie viele Leute hier eigentlich hübsch sind und gut angezogen durch die Straßen laufen.

Ich ordere noch einen Latte Macchiato, entkoffeiniert, und lästere mit einer Bekannten über den Natürlichkeitswahn der Hebammen, die oft so tun, als habe es vor Erfindung der Schulmedizin ein goldenes Zeitalter der Geburtshilfe gegeben, in dem die Menschheit dank Hausgeburt und Ganztagsstillen glücklich, ausgeglichen, gesund und frei von Traumata jedweder Art einhergewandelt sei. Wir lachen ein bisschen über den Homoöpathietick der Geburtshelferinnen, der vermutlich darauf zurückzuführen ist, dass Hebammen keine richtigen Medikamente verschreiben dürfen, und machen uns über den Muttermilchkult lustig, der bei manchen Hebammen geradezu religiöse Züge annimmt. Später erzählen wir uns noch, was wir uns für Schuhe und Taschen gekauft haben, wenn man schon keine schönen Kleider kaufen kann, und zählen Musik auf, die wir richtig gut finden.

Der Sommer braucht Musik, sage ich mir, heimgekehrt nach Hause, und tanze durchs Wohnzimmer, Kind F. auf dem Arm, drehe Tocotronic ziemlich laut und frage mich, was für den F. die Musik seiner Jugend gewesen sein wird, wenn er einmal 35 ist, im Jahre 2047.

(Abends dann mit dem J. im femmina morta. Antipasti und Spaghetti Carbonara.)

22.03.2012

Heute mache ich nichts. Als Kind F. nach dem Frühstück um acht wieder einschläft, schlafe auch ich einfach weiter, hypnotisiert von den ruhigen Atemzügen des Säuglings. Draußen ist es hell, registriere ich noch durch den schmalen, leuchtenden Spalt zwischen Fenster und Vorhang. Und wenn schon.

Als ich um elf wieder erwache, trinke ich erst ganz, ganz langsam einen Malzkaffee. Dann trinkt Kind F. Milch. Zäh wie Akazienhonig fließt die Zeit an mir vorbei, stockt nur kurz, als das Telephon klingelt und verrinnt dann schläfrig glucksend irgendwo zwischen Schlafzimmer und Küche. Ich könnte ein bißchen lesen, fält mir ein, und hole mir Frank Goosens „Sommerfest“. Den „Hasen mit den Bernsteinaugen“ habe ich durch.

Erst gegen zwei gehe ich erstmals auf die Straße. Ich muss mehr spazieren gehen, habe ich mir vorgenommen, denn das Spazierengehen verbrennt Fett, und davon habe ich gerade zuviel. Ich schiebe meine Gewichtsentwicklung immer auf das Kind, aber in Wirklichkeit habe ich die gesamte Schwangerschaft über gegessen wie drei normale schwangere Frauen. Aus den Augenwinkeln beobachte ich mein Spiegelbild in den Fensterscheiben. Ich sehe aus wie ein Sack.

Auf dem Rückweg setze ich mich dann in die Sonne. Ich habe meine Sonnenbrille wiedergefunden und blinzele dem Frühling entgegen. Die ganze Stadt hat die Wintersachen ausgezogen und zeigt die noch etwas blassen Beine. Gut siehst du aus, Berlin, denke ich mir, und bestelle einen Saft namens Spreegold Spezial und einen Cappucino und erzähle Kind F., was alles in der Süddeutschen steht. Derzeit ist Kind F. noch schlankweg egal, was man ihm mitteilt, Hauptsache, man spricht mit ihm und lächelt ihn an, und erst, als ich ziemlich lange telephoniere, fällt ihm ein, dass jetzt Essenszeit ist. Ich zahle und gehe nach Hause.

Irgendwann sitze ich auf dem Sofa, und Kind F. liegt neben mir und schläft. Auf der Rückenlehne hinter mir döst meine schöne, blaue Katze, und ich blättere ein bisschen in der Zeit und in der neuen Nido, fange zweimal Goosens „Sommerfest“ an, und frage mich dann doch, warum ich das gekauft habe. Es handelt sich, will mir scheinen, um ein möglicherweise ganz nettes, aber ungewöhnlich unbedeutendes Buch. Statt weiterzulesen schleppe ich also Kind F. ein paar Runden durch die Wohnung und singe ihm etwas vor.

Als meine Mutter anruft, ist der F. schon wieder eingeschlafen. Gut geht es mir, teile ich ihr mit, höre mir ein bisschen Tratsch an, lache über die Irrfahrten einer lieben, ziemlich törichten Tante, und sage, als sie fragt, sehr zufrieden: Nichts.

21.03.2012

Langsam wird die B. mir unheimlich, die jeden Mittwoch meine Wohnung reinigt: Letzte Woche, da war ich nicht da, hat sie eine Schale Pistazien sortiert, die der J. halb gegessen und mit den Schalen stehen gelassen hatte. Diese Woche hat die B. dagegen nicht nur die Wohnung aufgeräumt und geputzt, sondern auch die Katzen gründlich gereinigt und gebürstet. Ich will nicht ausschließen, dass sie auch Kind F. und mich einmal so richtig porentief grundreinigen würde, bekäme sie dazu Gelegenheit. Heute aber bestand die Gelegenheit nicht: Mittwoch morgen ist Pilates, und der F. kommt mit.

Im Prenzlauer Berg gibt es bekanntlich mehr Pilates-Studios als Nagelstudios im Wedding, und sie sind alle, alle voll. Besonders voll wirkt so ein Pilates-Studio natürlich, wenn nicht nur ungefähr zehn schwangerschaftsbedingt leicht verschwabbelte Frauen mittleren Alters (alle außer mir blond) auf Matten liegen, sondern neben jeder Frau auch noch ein Kind liegt und je nach Alter und Temperament entweder an die Decke starrt oder teilweise geräuschvoll auf sich aufmerksam macht. Ich liege also auf einer grünen Matte und verspüre ein deutliches Zucken in den Nerven, die für Gereiztheit zuständig sind. Mich stört zwar mein eigenes Kind nicht. Für andere Kinder gilt das aber noch lange nicht. Da hilft auch der kleine lächelnde Buddha aus Stein in der Fensternische nicht weiter: Es soll ruhig sein. Gerade noch rechtzeitig endet die Kurseinheit. Im kurzen Gespräch mit einer anderen Kundin simuliere ich Verständnis und Interesse an ihrem störenden Kind und bin ein bisschen peinlich berührt: Die Frau erinnert sich von der letzten Pilates-Stunde noch genau an meinen Namen und den meines Babys. Ich hätte geschworen, weder sie noch ihre Tochter jemals gesehen zu haben. Leicht verschämt ziehe ich ab.

Als ich zu Hause wieder auftauche, ist die B. gerade weg. Die Wohnung ist unglaublich sauber und aufgeräumt, unfassbar insbesondere wenn man den Vorzustand kennt, und so lege ich mich erst einmal aufs Sofa, lese, telefoniere und genieße den Zustand. Schon, genau kann ich das sehen, lauert in den Ecken erneut die Entropie: Auf dem Tisch liegen mein Portemonnaie und die Post. Auf der Arbeitsfläche habe ich mit einem Tee gekleckert, und auf dem Couchtisch liegt ein Stillhütchen. Bis heute abend, das ist leider klar, wird es aussehen wie immer.

Immerhin, so tröste ich mich, wird der aufgeräumte Zustand dauern, bis Frau Engl mich besucht. Vorher schaue ich mir eine weitere Kita ein, denn irgendwer soll Kind F. betreuen, wenn der J. und ich wieder arbeiten gehen, und dann setze ich mich wieder aufs Sofa, kraule Kind F. den Bauch und warte, bis es klingelt. Leider sagt Frau Engl gar nichts zu meiner mordsaufgeräumten Wohnung, aber vermutlich steht dafür schon wieder viel zu viel herum. Selbst das Kuchenessen (drei fabelhafte Stück Kuchen vom Franz Karl in der Bötzowstraße) hinterlässt Spuren, die vorher nicht da waren.

Am Ende, irgendwann abends, sitze ich wieder auf dem Sofa. Neben mir schnarchen leise das Kind und die Katze. Zerstreut blättere ich in der ganz guten neuen Dummy zum Thema „Geheimnisse“. Dann greife ich noch einmal zum Notebook. Die Wohnung, so scheint es mir, sieht wieder aus wie immer.

20.03.2012

Oh nein, ächzt der Nörgler hinter meinem linken Ohr. Dein Tagebuchblogen war immer schon sehr, sehr öde, weil dein Leben seit Jahren bar jeder Übertreibung zu den langweiligsten Leben der Welt gehört.

Mit dem neulich frisch geborenen Kinde F. hat sich der Langweiligkeitsfaktor noch einmal deutlich gesteigert. Du selbst, behauptet der Nörgler, langweilst dich zwar nicht. Dass liegt an den Hormonen. Für den Rest der Welt gilt das aber nicht, und so werden auch deine letzten Leser dein Blog verlassen, wenn du nichts weiter mitzuteilen hast als den ungewöhnlichen Appetit deines Knaben, der – vermutlich dank einer vom Vater ererbten Fressgier – eigentlich den ganzen Tag isst.

Immerhin aber, redet der Optimist hinterm rechten Ohr mir gut zu, ist es Frühling, und du bist den ganzen Tag unterwegs. Du könntest von der alten Russin erzählen, die dir heute in Mitte an einer Ampel eine abscheuliche Babymütze in schreiend grellen Farben verkaufen wollte, und dich als Dankeschön für ein paar Euro ohne Mütze so fest umarmt hat, dass dir fast die Rippen gebrochen wären. Auch der Kerl bei dm am Alex bedarf der entrüsteten Mitteilung, der ungefragt behauptet hat, dein Kleiner sei aber ganz schön fett. Beschwiegen werden sollte allerdings – hier sind sich Nörgler und Optimist ausnahmsweise einig – das Resultat einer ersten Gewichtsbestimmung nach der Geburt. Laut Nörgler bleibt das jetzt so, und auch der Optimist schließt schnelle Erfolge bedauernd aus. Vor lauter Schreck hast du heute abend nur ein paar Nudeln in Tomatensauce gegessen.

Ein paar längere Telefonate machen die Sache laut Nörgler auch nicht besser. Über den „Hasen mit den Bernsteinaugen“ könntest du schreiben, aber dafür müsstest du das Buch erst einmal fertig lesen. Alles, schließt der Nörgler damit, spreche also gegen eine neue Runde Tagebuchblogen, und doch siegt am Abend irgendwann der Optimist.

Seien Sie also eingeladen: Langweilen Sie sich auf ein Neues chez Madame Modeste.

Die Zahnbürste

Okay, haben Sie gedacht und missbilligend die weißen Sprenkel auf meinem Oberteil betrachtet. Kaum ist das Kind da, wird Madame also nachlässig, denn der evolutionäre Auftrag ist ja sozusagen erfüllt. Ganz sicher wird Madame schon Weihnachten die Achtzig-Kilo-Grenze sprengen und sich spätestens nächstes Jahr so eine formlose North-Face-Jacke kaufen, mit denen die ortsansässigen Muttis signalisieren, dass ihre s*exuell aktiven Zeiten der Vergangenheit angehören, und ihr Aussehen ihnen nun fortan egal ist. Es ist also aus mit Madame, haben Sie meine Telephonnummer schon einmal in Gedanken aus ihrem Handyadressbuch gelöscht. Madame gibt es nicht mehr, denn Mutti hat sie gefressen.

Doch so, dies anzumerken ist mir wichtig, verhält es sich nicht. Die weißen Sprenkel stehen in keinerlei Zusammenhang mit dem jüngst angeschafften Kinde F. Die weißen Sprenkel auf meinem Oberteil resultieren vielmehr aus meinem technischen Unvermögen; diesmal zutage getreten anlässlich eines neuen elektrischen Geräts: Einer neuen, weißen, erstmals elektrischen Zahnbürste. Letzte Woche online erworben, heute erstmals benutzt.

Der Hintergrund der Zahnbürstenanschaffung ist ein ernster: Vor drei Wochen bekomme ich ernsthafte Zahnschmerzen. Also so richtig, so schädelzermalmend unangenehm, und gehe am nächsten Tag zum Arzt. Der Arzt – in diesem Fall eine Ärztin – schaut mir in den Mund, macht irgendwelche Untersuchungen, entfernt eine schadhafte Füllung, und dann folgen grauenhafte Stunden, in denen die Ärztin Nerven entfernt, Karies wegbohrt, Wurzelkanäle mit einer Feile reinigt, und das alles entzündungsbedingt mit einer nicht so richtig gut funktionierenden Narkose. Ich habe gelitten.

Nun strebt der Mensch danach, Leiden zu vermeiden. Ich will also nie wieder zum Zahnarzt. Der Weg zur Vermeidung künftiger Zahnarztbesuche aber führt (gerade wenn man so miese Zähne hat wie ich) wohl nur über eine drastisch verbesserte Mundhygiene. Ich habe also Geräte bestellt. Wenige Tage später war die neue Zahnbürste da.

Ich habe bisher keinerlei Erfahrung mit diesen Dingern. Ich habe immer manuell gebürstet. Ich habe mich also mit dem neuen Gerät neugierig und ein wenig unsicher ins Badezimmer gestellt. Ich habe Zahnpasta auf den Bürstenkopf gedrückt. Ich habe den Mund geöffnet. Ich habe die Zahnbürste an meine Vorderzähne gehalten und den „On“-Knopf gedrückt. Erwartungsgemäß begann die Bürste mächtig zu rotieren, und ich schob die Bürste Zahn für Zahn durch meinen Mund.

Gut, auch mir ist aufgefallen, dass der Spiegel immer weißer wurde, aber ich dachte, dass muss so. Ich bin mit der Zahnbürste sogar noch durch die Wohnung gelaufen, und es spritzte weiß aus meinem Mund eigentlich überall hin, wo ich mich gerade aufhielt. Auch dabei dachte ich mir eigentlich nichts. Millionen Menschen nutzen elektrische Zahnbürsten, die Bedienung – so nahm ich an – müsse also einfach und eigentlich selbsterklärend gestaltet sein, und so beendete ich, ohne Verdacht zu schöpfen, irgendwann den Prozess der Zahnreinigung und verließ das Haus. Dabei, sehr verehrter Leser, haben Sie mich vermutlich gesehen.

Ihnen sind die weißen Sprenkel natürlich sofort aufgefallen. Ich allerdings lief selbstvergessen einfach so ein wenig herum, war frühstücken, unterhielt mich ein bißchen, und die sozusagen explodierte Zahnpasta wäre mir nie im Leben aufgefallen, wenn nicht mein Begleiter, der liebenswürdige J., mich auf diese Verunzierung meiner Oberbekleidung aufmerksam gemacht hätte. Zu diesem Zeitpunkt allerdings saß ich in einem Café, wo man schlecht seine Kleidung wechslen kann, denn in aller Regel hat man sonst nichts dabei.

Ich blieb also gesprenkelt. Irgendwann später habe ich mich dann umgezogen. Gleich, wenn ich wiederum die neue Bürste benutze, werde ich, wie man mir empfohlen hat, diesmal den Mund schließen. Und was Ihre Vermutung angeht, ich würde nun binnen kürzester Zeit verkommen:

Ich hoffe nicht. Ich tue mein bestes.

Gummibänder

Wenn ich von einer Tüte – einem Gefrierbeutel etwa – das Gummiband abnehme und stopfe es in mein Glas mit den ganzen Gummibändern zurück, dann – und nur dann – denke ich bisweilen an den H.

Ansonsten habe ich wenig Anlass, an den H. zu denken. Der H. war nämlich schon zu Zeiten unserer gemeinsamen Schulzeit nicht gerade ein enger Freund. Wir waren öfter unterwegs, das schon, wir haben viel zusammen gefeiert, wie es eben so geht, wenn man miteinander zur Schule geht, aber mit 16 existieren bekanntlich nicht so arg viele Brücken zwischen Leuten, die Bücher großartig finden, und Leuten, die finden, dass der Mensch nur in Turnhallen und auf Sportplätzen er selbst sein kann.

Der H. gehörte ganz klar zur zweiten Kategorie: Er ritt und ruderte, er spielte Basketball und Tennis, er bolzte, er jagte, er tat quasi alles, wofür man Muskeln, ein gutes Auge und Ausdauer braucht. Im 19. Jahrhundert wäre er zur Armee gegangen und ein Held geworden. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wollte er Tiermedizin studieren, was um ein Haar an seinen desaströsen schulischen Leistungen gescheitert wäre. Vom H. erzählte man sich nämlich nicht ganz ohne Grund, er sei eigentlich so eine Art Analphabet, und übertrieb dabei nur ein ganz bisschen. Das Abitur hat er dann am Ende auch nur dank einer ganz energischen Intervention seines Großvaters bekommen, der den Direktor der Schule anrief, um ihn daran zu erinnern, was die Nation in den letzten sieben Jahrhunderten der Sippe verdankte, der der H. entsproß.

Inzwischen ist der H. schon seit fünf Jahren verheiratet. Damals (das war so circa 1997) war der H. aber noch als Student mit einer Dame liiert, die ich nicht kannte, von der man mir aber viel erzählte. Die Dame war diversen Freunden nämlich als ein wenig grobschlächtig aufgefallen, und obwohl als Tochter eines Wirtschaftswundermaschinenbauunternehmers wohl situiert aufgewachsen, ein wenig sehr sparsam veranlagt; manche würden wohl auch geizig sagen, und noch andere Leute behaupteten schlicht, die Dame habe in Sachen Geld und Besitz generell einen Knall.

Dass diese Dame, obwohl von zu Hause deutlich besser ausgestattet als der H., grundsätzlich ihn zahlen ließ, fand der H. dabei vermutlich noch fast selbstverständlich. Auch der Einkauf entlang annoncierter Sonderangebote fiel wohl noch in die Kategorie eines studentischen Spleens. Die Sache mit den Gummiringen aber schlug eines Tages dem Fass den Boden aus, und das kam so:

Irgendwann so gegen Ende der Semesterferien beschloss die Freundin des H., ihre Küche aufzuräumen, und der H. sollte helfen. Der H. half gern, der H. war und ist als gutmütig und hilfsbereit bekannt. Zusammen mit der Freundin ordnete und sortierte der H. also einen ganzen Vormittag ein wüstes Konsortium aus leeren Gläsern, Tüten, halb geöffneten Gewürzpackungen und all den Dingen, die sich in Küche so finden.

Nach und nach wurde der H. nervös. Die Angewohnheit seiner Freundin etwa, alte Plastiksäcke sorgfältig Ecke auf Ecke zu falten und aufzubewahren. Wer braucht denn 25 alte Billa-Tüten? Auch die Anordnung der Gewürze nach Alphabet wirkt auf die meisten Leute unangenehm extravagant. Als aber die Freundin mehrere Gläser hervorzog, in denenGummibänder verwahrt wurden, muss es zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, an deren Ende der H. die Wohnung der dann Ex-Freundin verließ, um nicht wiederzukommen, denn nicht nur, dass die Freundin mehrere hundert Gummibänder in diversen Gläsern nach Größe sortiert haben wollte. Nicht nur, dass auch eine Klassifizierung nach Farben stattfinden sollte, weil die Freundin wohl so eine Art System der farblichen Zuordnung der solcherart verschlossenen Tüten entwickelt hatte. Was den H. aber wirklich schockierte und erst zu Widerspruch, dann zum Streit und schließlich zum Bruch verleitete, war der Umstand, dass die Freundin ihn zwingen wollte, ein weiteres Glas anzulegen, in dem die gerissenen Gummibänder verwahrt werden sollten, welche sie aufbewahren wollte zu einem Zweck, den sie dem H. auch auf mehrfache Nachfragen nicht verriet.