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Journal :: 25.11.2010

N*ckte Leute treffe ich im Wachzustand ja eigentlich nie, und selbst wenn dem so wäre, würden sie nicht vor mir tanzen. Im Schlaf mit leicht erhöhter Temperatur und nach zwei Bechern Glög vom Weihnachtsmarkt sieht das aber schon ganz anders aus, und so sitze ich auf einer Art Ottomane auf einer Veranda und sehe sehr entspannt mehreren außerordentlich hübschen Tanzenden zu, durchaus undefinierbaren Geschlechts, wie sie sich langsam umeinander drehen. Einige der feingliedrig-länglichen Gestalten tragen Salbkegel auf dem Kopf, und es ist völlig unmöglich, sie zu zählen. Manchmal scheinen es nur drei zu sein, bisweilen wogen zehn oder mehr. Zu meinen Füßen liegt unser vor 14 Jahren verstorbener Hund und hechelt in der Hitze. Unweit fließt der Nil Richtung Norden. Dazu läuft, glaube ich, Phoenix. If I Ever Feel Better.

Ganz gelegentlich huschen schwarze, flinke Gestalten geduckt über den Boden. Vielleicht sind das Tiere, mutmaße ich. Affen möglicherweise, vielleicht – auch wenn ich das nicht sehen kann – Totenkopfaffen, und wenn ich nicht hinschaue, verschwinden Dinge, die die Affen mitgenommen haben, offenbar Richtung Fluss. Ein gläserner Armreif. Ein halbgefülltes Glas mit etwas Kaltem, sehr Aromatischen, Lychee und Pfeffer vielleicht, vielleicht auch etwas Limone, ein blitzender Löffel auf einem Schemel, mein iPhone und eine Schüssel aus fein durchbrochenem Silber voll rötlicher, haariger Früchte.

Irgendwann – Stunden mögen vergangen sein – löst sich eine Gestalt aus der Gruppe der Tänzer und kommt zu mit. Auf Zehenspitzen, kaum berühren die Füße den Boden, nähert sich mir die bräunliche Silhouette. Gespannt neige ich mich nach vorn und richte mich auf zur Begrüßung. Doch nicht zu mir kommt die schlanke Gestalt. Nicht zu mir beugt sie sich nieder. Auf meinen Hund fällt der Schatten, nach seinem Kopf strecken zwei Hände sich aus, greifen kraftvoll um die Kinnbacken des schwarz-freundlichen Tieres und ziehen, ziehen, bis der Kopf sich löst und auf den Boden gleitet. Erstaunlicherweise blutet es nicht.

Keinen Schrecken verspüre ich und nur wenig Ärger. Langsam, als sei das nicht wichtig, richte ich mich auf und beuge mich nach dem lebendigen Kopf meines Hundes. Stochernd setze ich den Hals wieder an die richtige Stelle, drücke hier ein wenig und dort ein wenig mehr, lasse zufrieden los, als er einhakt, und dann lehne ich mich wieder zurück. Die Tanzenden tanzen. Die Affen stehlen Glöckchen, Früchte und flache Schalen voll Milch, und mein Hund hechelt träg in der Sonne. If I Ever Feel Better.

Journal :: 24.11.2010

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich Tschick mag. Die von Wolfgang Herrndorf im Roten Salon vorgelesenen Passagen sind gut, keine Frage. Ich würde sehr gern weiterlesen (das Buch liegt vorerst ungelesen bei mir daheim), ich würde mir noch lieber immer weiter von Herrndorf vorlesen lassen, aber ob ich das Buch mag, weiß ich trotzdem nicht so genau, und erst Stunden später, als die charmante Frau Casino nach Hause gefahren ist, und auch Mek und K., als ich mit dem J. noch eine halbe Stunde in den Nebeln der Bar 3 gesessen habe, irgendwann auf dem Weg heim durch die dunkle, aufgerissene Greifswalder Straße, da fällt mir ein, dass ich Tschick vielleicht nicht so mag, weil ich solche Jungs wie den Erzähler Mike nicht so mochte, als ich 14 war, weil sie nur die Tatjanas mochten, die schönsten Mädchen der Welt, und nicht so ganz normale Mädchen wie mich.

Sehr, sehr albern ist das, so ein nachträgliche Vorwurf, schelte ich mich später und putze meine Zähne. Vollkommen klar ist es doch, dass jeder Junge mit 14 das schönste Mädchen der Welt heiraten will, und dann wird er dreimal zurückgewiesen, scheitert drei Jahre später bei der zweitschönsten Frau der Oberstufe, und dann sucht er sich die Freundin, die er halt so bekommt. Die schönen Frauen schminkt er sich ab, bis er 45 ist und ziemlich erfolgreich.

„Eine blöde Kuh bist du!“, sehe ich mir fest in die Augen. Es ist keine Kategorie für ein literarisches Werk, ob man solche Leute mag, wie die, von denen ein Buch handelt, schärfe ich mir ein. Wo käme man andernfalls hin mit Richard III.? Aber gesessen hat es doch, diese Jahre irgendwann früher, wenn ein paar Romanauszüge reichen, um in die Haut eines kleinen Mädchens zurückzufallen, an das ich mich ungern erinnere, weil es ein bißchen sperrig war, ein bißchen trotzig, ein bißchen bockig, nicht so sehr hübsch und ganz bestimmt kein Mädchen, an das irgendwer wehmütig denkt, irgendwann später.

Journal :: 20.11.2010

Nur wenn Hypochondrie auch als Krankheit anzusehen ist, ist der J. in der Tat und seit Jahren schon ziemlich krank. Ansonsten und rein körperlich betrachtet erfreut sich mein geschätzter Gefährte bester und unverwüstlicher Gesundheit, trinkt vergnügt ein großes Bier im Wirtshaus Alt Wien und bestellt – wie es einem völlig gesunden Manne wohl entspricht – eine 1/4 Gans mit Knödeln und Kraut. Die C. und ich begnügen uns mit Schnitzeln und Tafelspitz und teilen uns eine Karaffe Wein. Sichtlich zufrieden thront der J. zwischen uns auf der Bank, reißt mit Messer und Gabel die Gans in kleine, wohl duftende Stücke und schildert der C. den Schreck seines Lebens.

Wie ja alles im Leben stets ganz ungelegen eintritt, ereilte die Ahnung des zügig heranrückenden Todes den J. nicht in würdiger Atmosphäre, dahingestreckt auf der Lagerstatt, umringt von den Kindern und Kindeskindern in achtungsvoll niedergeschlagener Pose, nein, im Flugzeug saß der J. letzten Montag auf dem Weg von Berlin nach Düsseldorf und zu alledem auch noch in einem Luftfahrzeug des Unternehmens Lufthansa, das der J. ziemlich ungern benutzt. Wir alle hassen die Lufthansa, die hohe Preise mit miesem Service kombiniert und Economy – anders als Air Berlin – innerdeutsch nicht einmal mehr ein paar Kekse und Illustrierte reicht. Um das Maß voll zu machen, saß der J. umringt von zwei anderen Anzugträgern auf dem Mittelplatz und döste so vor sich hin.

Auf einmal aber schrak der J. auf. In seiner linken Leiste zog es ein wenig, ein dumpfer Druck von innen nach außen, der J. hob in den Grenzen der bestehenden Möglichkeiten das Bein einige Zentimeter an. Der Druck verstärkte sich. Der J. war sich sicher: Er müsse sterben, und zwar nicht irgendwann, sondern gleich. „Aha.“, kommentiert die C. den sicheren Tod meines Gefährten und schiebt sich weiteren Kartoffelsalat in den Mund.

Diesmal, so der J., sei es indes kein Tumor gewesen. Meistens stirbt der J. nämlich an Krebs, ab und zu auch an plötzlichen Infarkten, am letzten Montag aber hatte sich – wie es so zu gehen pflegt in der Vorstellungswelt des lieben J. – der linke H*den des geschätzten Gefährten beim Jogging am Vortag aus seiner Verankerung gelöst. Frei wie ein aus der Erdumlaufbahn geschleuderter Satellit durch den Weltraum flottierte das Organ durch den Unterleib des J. und drückte irgendwo zwischen Berlin und dem Rheinland in die Leistenbeuge des J. Das aber war ersichtlich nur der Anfang.

Schon bald würde der H*den zu faulen beginnen, so ohne Blutzufuhr. Unabwendbar sei eine Sepsis die Folge. Möglicherweise würde es auch dazu gar nicht mehr kommen, denn der H*den würde sich verstopfend auf eine lebensnotwendige Blutbahn legen, so dass der J. noch im Flugzeug, spätestens aber im Flughafen einfach umfallen würde und wäre tot. Gern hätte er sich noch von mir verabschiedet, aber im Flugzeug darf man bekanntlich keine Mobiltelephone benutzen, und so saß der J. stumm und leidend da. Selten sei ihm so übel gewesen. Unsicher tastete er nach der für Übelkeit vorgesehenen Tüte. Er habe auch stark geschwitzt.

„Wieso bist du nicht aufgestanden und hast nachgeschaut?“, erkundigt sich die aufgrund langer gegenseitiger Bekanntschaft von dem Ereignis nicht so besonders irritierte C. bei dem J. Er habe nicht gekonnt, antwortet der J. und ringt die Hände in Erinnerung an den höllischen Flug. Zudem, die engen Flugtoiletten … der Gang durch die Sitzreihen. Völlig fertig sei er gewesen, ganz und gar am Ende, und als sie gelandet seien, habe der J. kaum das Flugzeug verlassen können. Seine Knie waren weich wie Butter, sein Atem stockte und sein Hemd war angstschweißnass.

So schnell es ging, begab sich der J. im Flughafen Düsseldorf in einen Waschraum. Unschlüssig, denn wer schaut der Medusa gern ins greuliche Antlitz, habe der J. einige Sekunden in der Kabine gestanden, und nur unmittelbar bevorstehende berufliche Termine hätten ihn schließlich zur Kontrolle bewegt. Erwartungsgemäß (für alle anderen) war alles am richtigen Ort. Gerettet, erlöst geradezu, bestieg der J. ein Taxi und fuhr dem ersten Termin des Tages beschwingt und fröhlich entgegen.

Journal :: 19.11.2010

Auf keinen Fall darfst du jetzt schlafen. Wenn du einfach zu Bett gehst, wirst du eingeschneit, und wenn du wieder aufwachst, bist du ein Zombie in Zehlendorf oder gleich in Osnabrück, und im Carport neben deinem Einfamilienhaus mit Walmdach steht ein VW Touran in dunkelblau. Leg‘ dich also am besten gar nicht erst ins Bett, zieh dir nur die Bürokleidung aus und mach‘ am besten was zu essen. Kochen entspannt, aber man wird nicht so müde. Sieh auf die die Uhr. Es ist Freitag, 20.55 Uhr, und es gibt Frikadellen mit Kreuzkümmel und Chili abgeschmeckt, Reis, gewürzten Joghurt und eine Schüssel Salat. Der J. ist auch da. Kein Abend, um schlafen zu gehen.

Als du heute morgen aufgestanden bist, war es gar nicht früh, wie es sich jetzt anfühlt. Genau genomen warst du wie immer um 1.30 Uhr im Bett und bist um 8.30 Uhr aufgestanden. Sieben Stunden Schlaf. Also bitte. Wenn du jetzt am Freitag abend schlafen gehst, führst du exakt das fade Leben, vor dem du dich immer gefürchtet hast, weil man so schnell vergisst, dass man nur einmal lebt und die Zeit nicht wiederbekommt, die einem durch die Finger läuft: Aus und vorbei.

Am besten du schminkst dich noch ein bißchen, falls du heute noch irgendwo hinfährst. Nimm‘ Parfum, lächele dir zu im Spiegel und mal dir die Lippen rot. Zieh dich noch mal um. Das blaue Kleid, die Tigerstrümpfe und die Stiefel in Cognac. Der riesige Shawl in Pink.

Lauf los, wie immer zu spät. Steig ins Taxi, treib den Taxifahrer an. Du hast noch fünf kurze Minuten bis zum Beginn der Langen Nacht des abwegigen Films. Lauf durchs Foyer der Volksbühne, setz dich irgendwo hin. Blase Luftballons auf, lache über das Paar mit Elvis auf dem Boden, sei ganz betrübt über den Mann, der sich in sein eigenes Geschwür verliebt, schüttele den Kopf über die traurige Seegurke, trinke Sekt, lass dich im Sternfoyer küssen, und du wirst niemals sterben und ein Zombie sein in Zehlendorf oder Osnabrück und auch nirgendwo sonst.

Journal :: 18.11.2010

Am Flughafen auf dem Weg nach Stuttgart gibt es nur noch die Berliner Zeitung und eine Frauenzeitschrift namens „Jolie“. Im Flugzeug gibt es Chips in kleinen Tüten, mit denen ungezogene Mitreisende die gesamte Kabine vollkrümeln, und neben mir sitzt ein unglaublich schwäbelnder rotgesichtiger, älterer Mann mit Schnauzbart, der der Stewardess befiehlt, ihm gleich zwei Kaffee einzuschenken, ohne sich zu bedanken.

Der Taxifahrer am Stuttgarter Flughafen spricht weder hochdeutsch noch irgendeine andere deutsche Mundart. Das Ziel meiner Fahrt kennt er auch nicht. Irgendwer müsste, geht es mir durch den Kopf, von Zeit zu Zeit unangemeldet die Identität der Taxifahrer mit den Personen, als die sie sich ausgeben, abgleichen, aber für die wirklich wichtigen Dinge im Leben hat ja nie einer Zeit. Übrigens spürt man weder in Tegel noch in Stuttgart irgendwas von erhöhten Sicherheitvorkehrungen wegen Terrorgefahr, aber vermutlich ist das nur realistisch.

Den ganzen Tag gibt es nichts als Besprechungsbrezeln und Kekse. Abends bin ich verabredet, das schaffe ich aber absehbar nicht, und meine Mittagsverabredung habe ich gleich ganz abgesagt. Statt dessen mühe ich mich den ganzen Tag, Konversation mit Menschen zu betreiben, die irgendwie nicht so richtig Lust haben, sich mit mir zu unterhalten. Vernünftige Menschen fangen in solchen Situationen vermutlich irgendwann an, in der Zeitung zu lesen oder lösen ein One-Way-Ticket in die innere Emigration, aber ich plappere verzweifelt über alles, was mir in den Kopf kommt, von der Nouvelle Vague bis zur Jugend der Bundeskanzlerin, vom perfekten Cupcake bis zum Megatrend Lavendel, verheddere mich fürchterlich bei dem Bemühen, authentisch, aber bodenständig, freundlich, aber nicht distanzlos zu erscheinen, und strenge meine Umgebung und mich vermutlich schrecklich an.

Am Flughafen Tegel so gegen 21.00 Uhr komme ich am Terminal C an. Das Terminal C ist eine Art Wellblechbaracke rechts vom eigentlichen Flughafengebäude. Das an sich ist nun kein Problem. Ich will ja ohnehin nicht mehr Zeit im Flughafen verbringen als unbedingt nötig. Dumm nur: Vor dem Terminal funktioniert das Abtransport der Heerscharen anreisender Menschen per Taxi nicht. Entweder stehe ich zu weit hinten, dann nimmt mich kein Taxi mit, weil sie nach vorn vorfahren sollen. Oder ich stehe ganz vorn, dann kommt kein Taxi bis zu mir, weil dreistere Leute, als ich es bin, die Taxen hinten einfach stoppen und sich auf den Rücksitz werfen. Weil es so voll ist, kann ich meinen Regenschirm auch nicht öffnen, deswegen werde ich zu alledem auch noch nass.

Irgendwann, es ist so ca. 22.15 Uhr, sitze ich schließlich auf dem Weg heim im Taxi. Es nieselt. Der Himmel ist stumpf und schwarz. Berlin sieht aus wie Gotham City, und zu Hause werde ich nur erwartet, weil mein Kater ohne mich nicht an sein Futter kommen kann. Statt von blühenden Sommerwiesen träume ich von der U-Bahn.

Journal :: 16.11.2010

Der erste Schirm

Morgens gehe ich also aus dem Haus. Das Wetter ist ganz erbärmlich, das Wetter könnte kaum schlechter sein, und weil ich zur Zeit nicht Rad fahre, sondern Trambahn, brauche ich einen Schirm. Ich nehme also einen der Schirme, die ich ab und zu bei Rossmann kaufe, aus der Garderobenschranktür und laufe los. Ich muss zu einer Veranstaltung in der City West. Es ist draußen kalt und nass und fürchterlich. Es ist auch den ganzen Tag ziemlich dunkel.

Ich bin außerdem ziemlich spät dran. Ich bin meistens zu spät, ich bin nicht so gut im pünktlich irgendwo Ankommen, und deswegen habe ich es immer ein bißchen eilig. Ich laufe also auf meinen hellbrauen Pumps hinter der Straßenbahn her, ich recke mich ein bißchen, weil die Türen sich schon langsam schließen, und dann strecke ich den Schirm nach der Trambahntür aus. Es blinkt schon Aufbruch.

Die Tür soll wieder aufgehen wegen des Schirms, stelle ich mir vor. Türen von Bahnen schließen ja nicht, wenn irgendetwas dazwischen klemmt wie ein Kinderbein oder so, aber eine Tür kann ein Kinderbein von einem Schirm anscheinend gut unterscheiden, denn die Trambahntür schließt, mein Schirm ist eingeklemmt, und dann fährt die M 4 einfach los. Unbeschirmt warte ich auf die nächste Bahn. Ich werde nass.

Der zweite Schirm

Es ist 18.00 Uhr. Die Veranstaltung am Kudamm ist zu Ende, ich fahre zurück ins Büro, aber zwischen dem Tagungshotel und dem Bahnhof liegen bestimmt 300 Meter. Ich schaue mich um. Der Wagenservice hat Schirme, ich will mir einen Schirm leihen und bringe den Schirm ganz bestimmt in den nächsten Tagen zurück. Andernfalls schickt mir das Hotel sicherlich auch eine Rechnung. Ich trete also auf den Service zu. Ich frage nach dem Schirm, ich erläutere meine Rückführungsabsichten und strecke die Hand nach dem Schirm aus.

Der Wagenservice sieht mich einen Moment ratlos an. Dann erwacht in ihm das Misstrauen. Ich sehe vielleicht aus wie eine ganz seriöse Person im Kostüm und mit einem blauen Mantel. In Wirklichkeit aber, in Wirklichkeit bin ich ein loser Vogel, unzuverlässig und nie und nimmer bereit, einen Schirm zurück zu erstatten, und so krallt sich eine riesige Hand um die Schirme und eine Stimme bellt. Ich bekomme keinen Schirm. Unbeschirmt warte ich auf die nächste Bahn. Ich werde nass.

Der dritte Schirm

Am Alex steige ich aus. Lauter Leute laufen hin und her zwischen S-Bahn und U-Bahn und Tram und fahren nach Hause. Ich aber habe zu tun. Ich fahre noch einmal zu mir ins Büro.

Das Büro ist nicht direkt neben der S-Bahn. Ich laufe von der Bahn bis zur Tür ganz bestimmt zehn lange Minuten. Wenn es regnet, ist das eine Menge, und so laufe ich direkt aus der Bahn zu dm und kaufe hier einen Schirm. Es ist ein blauer Knirps. Weil ich schon einmal da bin, kaufe ich noch Shampoo und Handcreme und kleine Dinkelbrezeln in Tüten.

Auf dem Weg ins Büro laufe ich unter dem Schirm und werde nur von den Knien abwärts ganz nass. Im Büro liegt der Schirm aufgespannt im Treppenhaus und tropft ab. Zwei Stunden später, so ungefähr, fahre ich den Rechner runter, schließe die Tür ab und gehe zur Bahn.

Auf dem Weg zur Bahn überholt mich ein Fahrrad. „Pass doch auf!“, entfährt es mir, als der Radfahrer mich gefährlich nah streift. „Selber Schnauze!“, brüllt der Radfahrer, der offenbar etwas aggressiverer Natur zu sein scheint, dabei habe ich gar nichts dergleichen gesagt. Ich verstumme.

Normalerweise ist im Umgang mit Gestörten entschlossenes Schweigen immer eine gute Sache. In diesem Fall erbost aber mein Schweigen den Radfahrer noch viel mehr. Wütend hebt er die Hand und schüttelt die Faust gegen den Himmel, und dann streckt er die Hand aus, zieht einmal kräftig an meinem Schirm und schleudert ihn in hohem Bogen auf die Schönhauser Allee. Entgeistert starre ich dem Schirm nach. Zerschmettert liegt der Schirm unter den fahrenden Autos.

Unbeschirmt warte ich auf die nächste Bahn. Ich werde nass.

Journal :: 15.11.2010

Die B. ist jetzt blond. Ein bißchen fremd sitzt sie mir auf ein Glas Muskateller gegenüber, seltsam erwachsen mit dem halblangen, sorgfältig durchgestuften Schnitt und den glänzenden, manikürten Nägeln. Sogar ihr Lächeln wirkt erwachsener als noch vor einem halben Jahr, und ich frage mich, was in der Zwischenzeit geschehen sein muss, um so eine Rapidadoleszenz auszulösen. Äußere Anlässe, so teilt man mir mit, scheiden jedenfalls aus.

Auf dem Heimweg komme ich schrecklich unreif vor. Ich fühle mich meistens wie jemand, der seit 20 Jahren diffus pubertiert. Meine Stimmungsschwankungen würden jede Vierzehnjährige zieren, und wenn ich nicht jeden Morgen ins Büro gehen würde, würde ich immer noch leben wie eine Studentin im ersten Semester: Bis mittags schlafen. Nachmittags in der Uni Kaffee trinken, als würde die Nähe zu Bildungseinrichtungen den Ausbildungsprozess irgendwie von selbst befördern, abends mit Freunden Spaghetti kochen und irgendwann ziemlich spät ausgehen. Ich wäre auch ständig verliebt, wenn es den J. nicht gebe, der übermäßigem emotionalem Schlingern zum Glück entgegensteht. Zu meinem Glück verliebt sich auch keiner in mich und führt mich in Versuchung.

Ob auch ich noch einmal so erwachsen werde, frage ich mich und schließe mein Fahrrad an einen der Bügel vor dem Haus. Ob so ein Schalter in mir eigentlich existiert, der umgelegt werden kann, und dann wäre ich so fest verwurzelt in der gefügten und gedrechselten Welt erwachsener Leute mit Verantwortung, die das, wofür man sie bezahlt, auch wirklich sind und nicht nur darstellen, und ob es sich besser anfühlt, wenn man den Erwachsenen auf Augenhöhe begegnet und Dinge sagen kann, die mit Investitionsentscheidungen und Vorstandsvorlagen und Steuererleichterungen und derlei Dingen zu tun haben, und nicht in irgendeinem Gedankenwinkel laut zu prusten, weil das so komisch klingt.

Journal :: 14.11.2010

Als das Flugeug abhebt, schließe ich die Augen. Neben mir summt ein Junge von vielleicht 15 oder 16 Jahren Buchstücke einer Melodie ganz leise vor sich hin, und unter mir verschwindet Brüssel. Grau und trüb ist die Stadt, zu der ich gar kein so rechtes Verhältnis habe. Man isst gut in Belgien, das ja, man kann da wohnen, und wenn Freunde da wohnen, dann ist es mir lieber, als wenn man irgendwelche entlegene Orte im Nichts aufsuchen müsste, um sie zu sehen.

Zur EU dagegen habe ich ein rein pragmatisches Verhältnis. Die Schulbuchreden sind mir noch ein bißchen fremder als das, was sich andere Verwaltungseinheiten an Lorbeer flechten, und dem Wissen, dass hier eine Menge Musik spielt, und man mitspielen muss, wenn man nicht gänzlich aus dem Tak geraten will, ist nie eine emotionale Verbundenheit mit dem Projekt Europa gefolgt, wie sie am Ende doch an der Reichstagskuppel hängt oder am alten Plenarsaal am Rhein.

Ob es viele Leute gibt, für die das anders aussieht, frage ich mich und drehe den iPod etwas lauter. Good time to roll on, würde ich mitsingen, wenn auch ich 15 oder 16 wäre, und nicht 35 und auf dem Rückweg heim und so beladen mit Vergangenheit, dass es mir fehlt, wenn etwas keine hat, und sei es eine Behörde.

Journal :: 11.11.2010

Für einen Moment bin ich wirklich verstimmt. Dabei ist alles bestens, keine Frage. Das Essen schmeckt, es schmeckt sogar sehr gut, und nicht einmal die laute Gruppe neben uns stört mich über meinem Kalbsbraten Girardi. Nur der Knödel irritiert mich. Dabei ist der Knödel gut. Ein wenig zu gut, will mir scheinen, und ich frage mich ernsthaft, ob es mir lieber wäre, der Knödel wäre schlechter. Der Knödel – und das ist das Problem – der Knödel schmeckt besser als meine.

Ein wenig sonderbar finde ich mich über dem Knödel. Ich gehe auch sonst gern Dinge essen, die ich selbst nicht kochen kann. Ich kann beispielsweise weder so gut wie kochen wie das Paris Moskau, noch schmeckt mein Sushi so gut wie im Sasaya. Ich backe auch mehr so eine Art Hausfrauenpizza. Der Knödel jedoch, der Knödel gehört zu meinem Küchenrevier, und wenn ein Knödel woanders besser ist als daheim, dann habe ich versagt.

(Blöde Kuh, denke ich mir, trinke noch etwas Wein und ordere mehr. Noch einen Knödel, denn Delegieren ist alles.)

Journal :: 08.11.2010

Langsam füllt sich der Raum und inmitten der Endzeitarchitektur im Berghain beginnt Andreas Scholl zu singen. Makellos, rein, als gebe es einen Himmel voller Engel, quillt die Musik wie kristallklares Wasser in alle Ecken des Raumes. Mit geschlossenen Augen stehe ich und halte mich an meinem Glas fest, um nicht weggetragen zu werden vor Schönheit und Glück.

Als die Musik endet, gehe ich heim. Kalt ist die Stadt geworden. Den Winter kann man schon riechen. Die Fenster der Häuser werden dunkel, es wird unwirtlich in Berlin, trotz Musik und leiser Gespräche, und als ich zu Hause ankomme, stehe ich noch ein paar Minuten im Bad, hellwach und begeistert, und schaue mir fest in die Augen. Die Welt ist schön, sage ich mir, und ich bin es auch. Nur heute nacht.