Auf dem Rückweg bekomme ich sehr, sehr schlechte Laune. Das mag mit dem frühen Aufstehen zu tun haben. Schließlich gehe ich selten um 6.00 Uhr morgens aus dem Haus. Auch der lange Termin mag etwas ermüdend gewesen sein. Dass das sogenannte Bord-Restaurant (der Speisewagen) voll ist mit Leuten, die stundenlang Zeitung lesen, spielt vermutlich auch mit, und dass es den Käseteller nicht mehr gibt, macht das Maß voll. Das einzige an normales Essen erinnernde Gericht ist also aus und ich esse eine annähernd geschmacklose Tomatensoße auf bleichen Spaghetti.
Pünktlich zur Verfinsterung meines Wohlbefindens fängt es in Hannover an zu regnen. Als gebe es sonst keine freien Plätze setzt sich ein fetter Kerl neben mich und schnauft in seinem Fett und seinen Cargohosen. Rund um mich herum lesen Anzugträger in der FAZ und drücken hektisch auf ihren Blackberries herum, als hänge von ihrer stetigen Erreichbarkeit irgendetwas Wichtiges ab, und vor dem Fenster erstreckt sich die norddeutsche Tiefebene als die wahrhaft langweiligste Landschaft der Welt. Ein paar der Anzugmänner führen gottserbärmlich öde Telefonate, und die Arbeit, die ich mir mitgenommen habe, leidet nicht ganz unerheblich unter meiner Müdigkeit. Statt zu arbeiten blättere ich deswegen ein bißchen in der Zeitung und vergesse alles Gelesene sofort. Wie Leute sich mit Politik beschäftigen können, deren Beruf das nicht ist, ist mir ein Rätsel.
Leider steht auch im Feuilleton nichts, was zu behalten sich lohnt. Mein IPod-Akku ist leer, und als dann auch noch am Hauptbahnhof eine bleiche, spitzgesichtige Frau mit grünen Leggings mir beim Bäcker auf die Füße tritt, da, ja, da wird mir klar, dass Tage, die vor acht beginnen, nichts Gutes zu bieten haben. Dass der Taxifahrer auf dem Weg nach Hause dann doch tatsächlich sein Armaturenbrett mit einem Bild des iranischen Präsidenten geschmückt hat, macht den miesen Kohl des Tages dann auch nicht mehr fett.
Ich gehe jetzt schlafen. Und stehe keinesfalls vor halb neun auf.
„Mach die Augen zu!“, ruft die C. aus der Küche. Mir gegenüber sitzt der M. 2 hinter einer Rauchglasvase voll Pfingstrosen und blinzelt mit geschlossenen Lidern zwischen den weißen Blüten über den Tisch. Satt und schon ein wenig angetrunken von Grauburgunder und Riesling, Champagner und Crémant sitze ich neben dem J., und das Licht der Kerzen spiegelt sich in den Gläsern und auf dem weißen Porzellan.
Meine Lippen schmecken nach Forelle und buttrigen Kartoffeln in schwarz und violett. Ein bißchen müde bin ich, so übernächtigt wie eigentlich immer, und schaue meiner Freundin zu, wie sie mit einer Torte voller Kerzen ins Esszimmer kommt, hebe mein Glas auf den 35. Geburtstag des M.2 und schmecke der feinen Süße des Crémant, der Sommersäure von Johannisbeeren und der runden, dichten Bitterkeit vom Espresso nach und fühle mich gut, glücklich und aufgehoben zwischen Freunden, zu Hause in einer Stadt, die zu verlassen mich schmerzen würde, und gehe am Ende durch die dunklen Straßen heim, die noch lange nicht leer sind, beglänzt von Nacht, Leichtigkeit und Glück.
Die Musik ist schlecht. Kalt ist es auch. Hinter der Kollwitzstraße ballen sich dunkle Wolken zusammen, und zumindest bis zum Erscheinen des R. und der C. können der J. und ich hier auf keinen Fall weg.
Ich bin ein bißchen zu satt von der Pizza aus dem Due Forni, ein wenig müde von der langen Woche und dem gestrigen Tag. Wo ich gern wäre, kann ich gar nicht sagen, aber hier ist es nicht perfekt. Ein See wäre nicht schlecht, spiegelndes Wasser. Vielleicht das Meer.
An ein Meer aber ist gerade nicht zu denken. Höchstens an die Sintflut, denn auf einmal brechen die Wolken auf, vor der Bühne vorm Sowohl als Auch lichten sich die Reihen, der Asphalt wird schwarz und rechts und links öffnen sich Schirme.
Ein paar Minuten stehen wir zu viert unter der Markise des Anna Blume, diskutieren hin und her, was jetzt zu unternehmen wäre, und sitzen schließlich im Vina Blanca, trinken denselben Wein wie immer, wenn wir hier sitzen, und Stunden um Stunden ertränkt der Regen das Fest auf den Straßen. Schade ist das, denke ich mir, tröste mich mit einem katalanischen Dessert mit Frischkäse und Honig und vielen Nüssen und wische den Wunsch nach Meer vom Tisch, nach Reinheit und Frische und Salz, denn was nützen die Wünsche, die keiner erfüllt.
Am Morgen zwischen sieben und acht, wenn die Sonne durch den grünen Vorhang scheint, sich schlafend zu stellen. Die Augen fest geschlossen zu halten, zu tun, als höre man das Scharren der Katze an der Tür noch nicht, den langen Atemzügen des J. zuhören und spüren, wie die Zeit- und Ortlosigkeit des Schlafs den scharfen Konturen des Tages weicht.
Sich so langsam herumdrehen, als sei man noch gar nicht wach. Sich wünschen, der Morgen, ach: der ganze Samstag, gehöre mir. Sich vorzustellen, in drei Stunden zu duschen, bis dahin Kaffee zu trinken, eingebettet in Kissen und umhüllt noch von der Wärme der Nacht. Ein wenig Musik, die angefangene Biographie Friedrich II. von Kantorowicz. Vielleicht die raschelnde Zeitung, aber dann doch nicht frei zu sein, nicht zu tun, was einem gefällt, die Zügel des Lebens nicht locker durch die Finger gleiten zu lassen, sondern zwei Stunden hin, zwei zurück durch Norddeutschland zu fahren, die Leere hinter Berlin durchquerend, an einem Esstisch zu sitzen, die Spannung aufrechtzuerhalten, an den richtigen Stellen der Gespräche zu lachen, etwas zu fragen, Ansichten und Erfahrungen zu bestätigen, selber Geschichten zu erzählen, um das Gespräch im Gang zu halten, und sich zuzuschauen bei der Arbeit. Alle paar Minuten die eigene Haltung kontrollieren.
Gegen neun Uhr abends im ICE einfach nur noch zu schweigen. Um zehn die C. zu treffen, endlich die Contenance auf der Stuhllehne abzulegen, die Mühe herunterzuschrauben, die Distanz zwischen Empfindung und Ausdruck stufenweise zu verringern und Wein zu trinken, Pasta zu essen mit Muscheln und Tintenfisch, Interesse zu haben, statt nur Interesse zu zeigen, und schließlich am Schreibtisch zu sitzen, fast ganz bei sich selbst.
Wie eine grüne, harte Frucht hängt der Juni unreif in den Bäumen, und statt im Liegestuhl, statt am Strand der Spree oder auf einer Terrasse hoch über Berlin sitze ich im Keller des Mao Thai und esse gebratenes Huhn. Weil es kalt ist, weil ich mich heute geärgert habe und weil ich morgen mit dem J. dessen Eltern in einem einschläfernd langweiligen Kaff in der norddeutschen Tiefebene besuchen muss, motze ich ein bißchen vor mich hin. Schweigend hört der J. mir zu und kaut an einer Ente.
Ich leide derweil an dummen Mitmenschen. An dem Sommer, der im April viel versprach, ohne es im Juni einzulösen. An der unschlagbaren Eintönigkeit meines Lebens, in dem überhaupt nie etwas Amüsantes passiert. An den Eltern des J., die vermutlich seit Tagen Speisen schwer wie halbe Schweine und doppelt so fett vorbereiten für den morgigen Tag. An meinem Neid auf das Essen des J., das viel besser aussieht als meins, das ich gewählt habe, weil es mir irgendwie leichter erschien als eine fettige Ente, und generell an der Welt, am Prenzlauer Berg, an mir selbst nicht zuletzt, und außerdem müsste ich morgen einkaufen und komme nicht dazu. Zum Friseur müsste ich auch.
Aus Rücksichtnahme auf Dritte unterbreche ich meine miese Laune für eine Stunde zu Besuch beim R. und der I. Schließlich können die beiden nichts dafür, dass die Welt gerade nicht nett ist zu mir. Auch der J. hat bei Licht besehen vielleicht nur soviel Verantwortung für die Malaise, wie man Leuten für den Umstand eben zuweisen kann, dass sie Eltern haben, und diese Eltern besucht werden wollen. Nur mit mir, mit mir grolle ich noch ein bißchen und strecke mir im Badezimmer die Zunge weit heraus, rolle mit den Augen und schneide Fratzen und stelle mir vor, dass auch einmal öffentlich zu tun, wenn mir danach ist, möglicherweise gleich morgen.
„Die Studienbedingungen werden immer schlechter.“, ereifert sich mein kleiner Cousin telefonisch, und ich blättere auf dem Dortmunder Bahnhof gelangweilt in der Zeitung. Jaja, denke ich. Das werden sie schon immer, ohne dass dies den Absolventen, soweit ich das beurteilen kann, abträglich wäre. Ganz im Gegenteil werden die Praktikanten und Referendare, die ich in den letzten Jahre treffe, immer jünger zum Zeitpunkt der Prüfung, fleißiger und engagierter, wissen wesentlich mehr über den Lehrstoff als ich im selben Alter, und vor allem wissen sie geradezu unheimlich genau, was sie einmal werden wollen mit vierzig oder fünfzig oder so. Ich wusste noch Jahre nach meinem Examen nur sehr unvollkommen, was am Ende dabei herauskommen sollte. Meine beiden Praktika habe ich mehr zufällig ausgewählt, weil es sich gut anhörte und ich vor Ort noch nie war, und über den richtigen Job bin ich eher gestolpert.
Die verordnete Zielstrebigkeit eben aber sei das Problem, wütet mein kleiner Cousin weiter. Wer heute studiere, könne sich wegen der engen zeitlichen Korsetts keinerlei Phasen des Suchens, Grübelns und wahrhaften Studierens mehr leisten, nur fertig werden heiße es, und der Scheinerwerb habe als Ziel der ganzen Veranstaltung die Bildung längst verdrängt. Möglicherweise – nein: wahrscheinlich – werde man so Bachelor von irgendwas, aber gebildet werde man so nie.
„Darum geht es ja auch nicht.“, wende ich ein und ernte Entrüstung. Wo, werde ich hörbar rhetorisch gefragt, solle man Bildung erwerben, wenn nicht an der Uni. „Was weiß denn ich.“, antworte ich, die ich auf Bildung allerdings auch maximal mittelmäßig viel Wert lege. Irgendwo. Zuhause von mir aus, wenn man meint, dass man das braucht. Die Uni aber ist für den Erwerb von Bildung der eindeutig falsche Ort. Am anderen Ende der Leitung schnappt mein kleiner Cousin hörbar nach Luft. „Lass mich mal ausreden.“, sage ich und hebe an:
Ein normal gebildeter Mensch verfügt über einen gewissen Kanon von Dingen, die er einfach weiß. Die sichtbaren Merkmale gotischer Kirchen gehören ebenso dazu wie eine ungefähre Vorstellung, was Kant von Hegel unterscheidet. Der ordnungsgemäß gebildete Mensch hat vermutlich Krieg und Frieden gelesen, er kennt den Faust und den Zug der Zehntausend. Er weiß, wieso der Spanische Erbfolgekrieg ausbrach, wie die Jakobssöhne heißen, wie die Römische Republik regiert wurde und kann halbwegs exakt den Verlauf der Französischen Revolution beschreiben. Wenn ihm jemand Bach vorspielt, erzählt er etwas von Orgeln und Protestantismus, und dort, wo seine Bildung Lücken aufweist, hat er zumindest mit ein paar hoffentlich amüsanten Anekdoten aufzuwarten.
Spezialistenwissen aber gehört nicht zu dem, was man unter Bildung versteht. Vertieftes Spezialistenwissen, wie es etwa in Doktorarbeiten zum Ausdruck kommt, kann sich jeder normale Mensch in relativ kurzer Zeit aneignen, und vergisst es ebenso schnell. Thomas Mann etwa, entnehme ich der Mendelssohn-Biographie, habe kaum etwas dauerhaft und abrufbar gewusst, sondern sich etwa sein gesamtes ägyptologisches Wissen anlässlich der Josephs-Romane angelesen, und nach Beendigung derselben alles sofort wieder vergessen, ohne dass diese Vorgehensweise dem Romancier oder seinen Romanen erkennbar geschadet habe.
An einer Uni aber wird Spezialwissen gelehrt und eine ebenso spezielle, jeweils fachbezogene Methodologie, die man vielleicht beherrschen sollte, wenn man im jeweiligen Fach reussieren will. Um als gebildet zu gelten – wie erstrebenswert das auch immer sein mag – braucht man diese Kenntnisse und Fähigkeiten aber nicht. Nicht einmal für die meisten Berufe benötigt man die Fertigkeiten, die man an der Uni lernt. Wenn man überhaupt etwas Sinnvolles lernt, wenn man studiert, dürfte also weniger Bildung erworben werden. Vielmehr lernt man vielleicht weniger durch das Studium als anlässlich eines Studiums. Sich selbst zu organisieren etwa. Den Aufbau von Netzwerken, also halb professionellen, jedenfalls nützlichen Bekanntschaften, von denen die meisten Menschen ihr halbes Leben profitieren. Es sich ohne Zutun der Eltern zu richten, wenn man etwas haben möchte, was es nicht selbstverständlich gibt. Das ganz individuell richtige Verhältnis der Wertigkeiten von Komfort und Karriere.
Am anderen Ende der Leitung bleibt es still. Dann beginnt mein Cousin zu sprechen. Bodenlos sei das, ebenso zynisch wie unzutreffend, und passe zu einer Person, die oberflächlich zu nennen fast schon zu viel der Ehre sei, denn treffe zu, was ich behaupte, dann sei ein Studium im Grunde obsolet, auch ganz und gar ohne Universität könne man die von mir behaupteten Fähigkeiten erwerben, etwa durchs Herumreisen oder –lungern. Hätte ich recht, so könnte man auch jedem Menschen zwischen 20 und 25 einen Bibliotheksausweis in die Hand drücken und ihm viel Spaß wünschen die nächsten Jahre. „Fast.“, sage ich und lache ein bisschen über den Kleinen. Um ein Haar. Denn eins jedenfalls erwirbt man an der Uni, und nirgendwo sonst. „Und was soll das sein, wenn nicht Bildung?“, werde ich halb unwillig gefragt.
„Einen Abschluss.“, sage ich und lege auf, denn in zwei Minuten kommt mein ICE nach Berlin.
Nun ist es ja nicht so, dass verpasste Mahlzeiten mir unzuträglich wären. Im Gegenteil wäre es vermutlich ganz gut für meine optische Performance, wenn ich viel mehr Mahlzeiten ausließe, also so ungefähr jede zweite, aber schön ist das nicht, in einer fremden Stadt im Hotel, und dann noch nicht einmal etwas zu essen.
Aber beginnen wir von vorn:
Morgens bin ich so spät dran wie immer. Weil ich heute auf Leute treffe, reiße ich hintereinander alles Mögliche aus dem Kleiderschrank, verwerfe dies als allzu brav, jenes als allzu ausgeschnitten, und stürze schließlich in einem angemessen unaufälligen Kostüm los. Ungefrühstückt, wie sich versteht. Im Büro gibt es auch nichts zu essen, und bevor man angemessener Weise Mittag essen kann, kommt das Taxi nach Tegel.
In Tegel angekommen bleibt mir keine Zeit mehr für etwas Richtiges. Ich esse im Gehen eine Putenbrustsemmel, stopfe eine Brezel in meine Handtasche für später und fliege los. Bei Lufthansa gibt es ja leider innerdeutsch bloß noch Getränke.
Als ich ankomme, ist der Lunch gelaufen. Ich bespreche in aller Schnelle, wie die Technik funktioniert, dann spreche ich vierzig Minuten und dann laufe ich wieder los. Für das abendliche Dinner habe ich keine Zeit mehr. Ich muss noch weiter. Am Flughafen München esse ich im Vorbeilaufen zwischen Terminal 1 und 2 ein kleines, mickeriges Chicken Wrap, das genauso mäßig schmeckt, wie ich es erwarte. Für eine ausführlichere Mahlzeit … Sie haben es erraten.
Als ich in Dortmund ankomme, ist es verdammt spät. Um acht hätte ich mit anderen Leuten etwas essen können, aber acht war es vor drei Stunden. Nun, sagt mir die Dame an der Hotelrezeption, sei die Küche schon dicht. Traurig stehe ich vor der beleuchteten Vitrine, in der eine Speisekarte mit Mahlzeiten lockt, die ich nun nicht mehr bekomme. Die Pfifferlinge hätte ich vielleicht genommen. Möglicherweise auch einfach ein Steak.
In der Minibar ist das einzig Essbare ein Tütchen Erdnüsse von ültje. Ich mag keine Erdnüsse, deswegen schließe ich die Tür wieder und gehe zu Bett. Arbeiten könnte ich jetzt noch ein bißchen, ich habe circa einen Koffer voll Arbeit dabei, aber statt dessen lege ich mich aufs Bett, betaste meine Beckenknochen und versuche mir die fehlende Mahlzeit in Anbetracht der segensreichen Folgen einer deutlich verringerten Lebensmittelzufuhr schönzureden. Der Versuch misslingt. Missgelaunt und mit knurrendem Magen male ich mir volle Teller aus, belege das Phantasieporzellan mit gebratenem Lamm, Rosmarinkartoffeln und Rotweinjus, lege Rosetten von Trüffelbutter daneben, lasse Schalen mit Erdbeeren und Zabaione folgen, bestreue diese mit gehackten Pistazien, hebe Zitronenzesten unter die hellgrünen Splitter, zünde Kerzen an und ziehe einen Wein auf, den es einmal im Weinstein am Helmholtzplatz gab, und dessen Namen ich leider nicht mehr weiß.
Am Ende aber bleibt mir nichts als noch zwei Zigaretten. Ein Glas Wasser und eine Tüte Pfefferminzbonbons und die Hoffnung auf ein gutes Frühstück morgen früh.
Als ich wieder im Büro eintreffe, ist es ziemlich genau 20.30, und mein Kollege im Büro nebenan singt mit seinem IPod. Wahrscheinlich hört er Nouvelle Vague, aber das ist nicht genau auszumachen. Ein bißchen seufzend fahre ich den Rechner wieder hoch. Irgendwo weit entfernt scheint es zu donnern.
Als ich abschließe, ist es halb zwölf. Gern, stelle ich fest, führe ich jetzt weiter, irgendwohin, wo es laut ist und hell, aber der nächste Tag wird lang, und so geht es doch nur nach Hause, wo es still ist und dunkel. „Ich hoffe, es geht dir gut.“, steht auf einer Postkarte, die ich aus dem Briefkasten hole. Ich glaube schon, denke ich, und dann fällt mir ein, dass ich heute abend, irgendwann zwischen sieben und acht, auf die Frage, ob ich mag, was ich mache, so lange gezögert habe, als sei ich mir nicht sicher, nein: Als gebe es, so wie ich bin, noch Alternativen zu dem Leben, das ich führe oder das mich führt, bisweilen.
Als ich nach der Konferenz nachmittags im Büro ankomme, bin ich völlig ausgequatscht. Meine Wochenration an gesprochenen Buchstaben habe ich seit zwölf Uhr aufgebraucht, aber statt nun am Schreibtisch zu sitzen und einfach ein bißchen vor mich zu brodeln und zu arbeiten geht es weiter mit Betrieb, Gesprächen, Abstimmungen und Telefonaten.
Gegen sechs werde ich in die nächste Konferenz gerufen, gegen zehn sitze ich wieder am Schreibtisch, arbeite ab, was sich angehäuft hat im Laufe des Tages, und der Regen schlägt hart gegen mein Fenster. Als ich gehe, es ist halb elf, steht das Taxi vor der Tür. In der Tasche grabe ich nach meinem Schlüssel, aber mein Schlüssel ist nicht da. Etwas ratlos sitze ich auf der Rückbank, fange an zu telefonieren, und der Fahrer wiegt sich mit der Musik hin und her wie ein Elefant im Zoo. Schießlich erreiche ich jemanden und bin erleichtert.
„Fahren sie weiter.“, dirigiere ich den Fahrer durch den nächtlichen Regen, bis Moabit und zurück. Sehr, sehr müde sitze ich schließlich am eigenen Schreibtisch, ausgeräumt von den vielen Gesprächen, ganz zufrieden oder zumindest nicht unzufrieden, soweit ich das noch spüren kann, und streichele ganz, ganz langsam meine Katzen, bis der Abend sich seufzend zur Ruhe legt, der Puls des Tages sich verlangsamt, und der Regen wegwäscht, was vom Tage übrigblieb.
Auf dem Bürgersteig jagen sich zwei kleine Mädchen und schreien dabei, so laut es geht. Der Vater spricht derweil mit einem anderen älteren Herrn, und die Mutter schaut hinter einer großen Sonnenbrille stur auf die Schwedter Straße. Ich tue so, als hätte ich das Geschrei nicht einmal vernommen, picke ein paar Antipasti und lese in der Zeitung einen längeren Artikel über Habermas, von dem ich nicht mehr als ein paar Auszüge kenne, weil ich von den Texten Habermas immer so schnell müde werde. Wie ich über meinen Antipasti feststelle, übt bereits ein Text über Habermas diese Wirkung aus und ich zahle schnell, bevor ich noch einschlafe, hier vor dem Pappa e Ciccia, morgens um elf und die Eltern der kindlichen Mänaden noch denken, ihr Nachwuchs sei gar nicht nervig.
Als ich den Habermas-Artikel weglege, bin ich wieder fit und fahre ins Historische Museum. Zwischen den Staufern und dem Biedermeier ungefähr lässt meine Vitalität zwar deutlich nach, kehrt circa um die Reichsgründung herum aber wieder. Wer allerdings in seinem Leben schon einmal ein Museum von Innen gesehen hat, wird hier wenig Neues entdecken, von den Wahlplakaten über die Bilder, von den Kleidern bis zu den Reden und Filmen umgeben mich alte Bekannte, und so verlasse ich das Museum mit eher etwas gemischten Gefühlen und gähne einmal kräftig vor dem Portal. Immerhin sieht das Zeughaus schön aus.
Am Nachmittag mache ich nichts. Ich sitze ein bißchen am Rechner, ich schreibe eine kurze Geschichte, ich trinke Filterkaffee, weil bei mir zu Hause das Latte Macchiato-Zeitalter aus Prinzip nicht stattgefunden hat, und gegen Abend kommen die I. und der S. vorbei und schenken uns einen Chilibaum. Wenig später fahre ich los, über die Spree, durch ganz Kreuzberg, noch etwas weiter, stehe schließlich in einem Garten und plaudere über Kunst, Recht und Politik ein paar Platitüden. Seit ich festgestellt habe (das hat bei mir ein paar Jahre gedauert) das Sprechen immer schlechter ist als Lächeln, Zuhören und Nicken, sage ich bei solchen Anlässen generell nur noch recht wenig.
Tatsächlich kommt auch hier die Rede auf Habermas, der andere Leute ganz offensichtlich mehr zu animieren scheint als mich. Habermas sei, erfahre ich, in den USA äußerst populär, und auch die Finnen und Italiener beschäftigen sich intensiv mit der Diskurstheorie und allem, was Habermas noch sonst so geschrieben hat. Ich erwehre mich eines kräftigen Gähnens, denn wie sieht denn das aus, sage irgendetwas Naheliegendes, was ich auf der Stelle komplett vergesse und schiebe meine aufkeimende Müdigkeit auf die fortgeschrittene Stunde. Bevor man mir mehr über Deutschlands großen Denker erzählt, breche ich auf.
Auf den dunklen Straßen bin ich dann wieder wach. Putzmunter komme ich zu Hause an, stundenlang könnte ich jetzt noch am Rechner sitzen, schreiben und surfen, aber früh wird die Nacht morgen enden, es muss geschlafen werden und zwar schnell, und so bedaure ich erstmals, das Werk Habermas nicht im Hause zu haben, welches seine unfehlbare Wirkung auch heute nacht vermutlich nicht verfehlen würde.
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