O wie blüht mein Leib aus jeder Ader
duftender, seitdem ich dich erkenn;
sieh, ich gehe schlanker und gerader,
und du wartest nur-: wer bist du denn?
Rainer Maria Rilke, 1906
Vor ein paar Monaten, im Herbst: Die auf einmal offene Autotür, der Schreck, der Sturz, mein umgekipptes Fahrrad, der ipod, der die ganze Zeit weiter singt, singt, singt, und ich liege auf der Straße dazu.
Fast eine ganze Minute biegt sich die Welt, will brechen, bricht doch nicht, weil kein Auto kommt, mich zu überfahren, und dann stehe ich wieder auf, klopfe mir die Hosen ab und lasse mir aufschreiben, wer mich beinahe umgebracht hat, an diesem Morgen um halb neun. „Das wollte ich nicht.“, entschuldigt sich ein junges, blondiertes Mädchen mit Pausbacken und zu viel Schminke.
Die Punkte über dem „I“ im Namen des Mädchens bestehen aus kleinen, halbgeöffneten Kullern, und an ihrem Handy hängt ein rosafarbenes, glitzerndes Herz. Auf dem steht ihr Name.
So also sieht der Tod aus, schießt es mir durch den Kopf, unrichtigerweise, denn ich lebe ja noch, und fahre weiter zur Arbeit. Ziemlich unsicher trete ich die Pedale am Alex vorbei nach Kreuzberg und lächele ein bißchen über mich, die lieber einem schöneren Tod begegnet wäre, einem schlanken, biegsamen, eleganten Herrn mit weißem Shawl, mit sicherem Griff und festen, warmen Händen.
Frau vom guten rat!
Wenn ich voll vertrauen
Wenn ich ohne sünde
Deine macht verkünde:
Schenkst du mir worum ich lange bat?
Stefan George
Nichts. Nur dass die Taubheit endlich aufhört, dieses Gefühl, als fehle da was, und eines Tages erwachst du, und schreist vor Entsetzen, weil das Fehlende das Wichtigste ist, und du hast es vergessen. Vielleicht die Unendlichkeit noch einmal zu spüren. Dieses Schwindelgefühl nachts allein unterwegs, mit nackten Beinen unter einem dünnen, flatternden Baumwollrock. Die Linden entlang Richtung Norden, und dann hoch, weiter, wirbelnde Luft. Den Fernsehturm weit unter sich lassend, und sich grenzenlos fühlen, durchdrungen ganz vom duftenden Sommer. Frei darin, nach Hause zu fahren oder irgendwo anders hin, wo etwas wartet, das ich ab und zu, früher einmal, riechen, hören und schmecken konnte.
All das, was Nächte sein können. Die Verheißung, nicht zu wissen, wohin und wann die Nacht mich spült auf ihren quellenden, salzigen Wellen. Aufbrüche überhaupt. Zu glauben, alles würde anders an einem anderen Ort, und die Hoffnung eingelöst zu sehen.
Das Unbekannte, das Magische, das Blaue, das Blitzende am scharfen Eisen. Das, was es eigentlich nicht gibt, aber manchmal doch, für Sekunden oder Stunden: Außerhalb der Zeit. Den Duft von Flieder, das Schimmern von Gold. Süße des Lebens.
Sich selbst wieder ausfüllen, und die Attrappe nach Hause schicken, die sich in die eigene Haut zwängt und mich zurücklässt, irgendwo, ganz woanders. So nah an sich herankommen, dass man sich nicht von außen sehen muss. Dinge und Menschen und Umstände nicht einfach aushalten, weil man sich an alles gewöhnt, und anderes nicht zu haben ist für mich oder für alle anderen auch, und eines Nachts, eines Morgens, einfach fortzugehen, wenn das gelobte Land aus der Spree ersteigt, wenn ein jadegrünes Meer den Schutt wegspült, den ich angesammelt habe mit den Jahren, und ein neues Leben, eine neue, klarere Sonne über der Stadt hängt, allein für mich.
Mit 13, 14, mit 15 oder so, wollte ich, wie man so sagt, etwas Künstlerisches machen. Was, war unklar. Malen hätte ich mir vorstellen können. Tatsächlich hatte ich sogar eine Mappe zusammengestellt, nach dem Abi, also knapp vor 20. Die Mappe gibt es noch, und sie legt bestürzend Zeugnis ab von einer himmelschreienden Verbindung fehlender technischer Fertigkeiten mit der völligen Abwesenheit von irgendetwas, das sich auszudrücken gelohnt hätte.
Schreiben konnte ich mir auch vorstellen. Ich hatte sogar ein paar Geschichten geschrieben, und knüpfte ein paar unbestimmte Hoffnungen an den Umstand, dass sie meinen Freunden gefielen. Die Texte waren schlecht. Irgendwann, da war ich 18 oder so, schickte ich eine, die mir besonders gut gefiel, sogar an einen Verlag, und bekam ein zweiseitiges, sehr freundliches Schreiben zurück, dem ziemlich viele Fehler zu entnehmen waren, die der Text noch hatte, und da gab ich es auf. Gefehlt hat es mir nicht.
Vermutlich war es gar nicht die Kunst. Viel wahrscheinlicher war es eine etwas vage Vorstellung von einem künstlerischen Leben.
Gern wäre ich gelegentlich in Zeiten großer Erschöpfung auch etwa Botschaftergattin gewesen, oder Gattin generell. Ich habe ein gewisses Talent für das Ausrichten von Buffets und Empfängen. Ich richte gern Bälle aus. Ich weiß ungefähr, wen man wo hinsetzt und was es zu welchem Anlass zu essen geben soll. Mangels Bedürfnis nach Sinnstiftung hätte mir eine gewisse Betriebsamkeit gereicht, und außerdem schätze ich große, schöne Residenzen, wenn ich sie nicht einrichten und sauberhalten muss.
Für das Leben einer Repräsentationsgattin indes fehlt mir der entsprechende Mann. Um das Problem präzise zu benennen: Mir fehlt völlig die Fähigkeit, einen Mann danach auszuwählen, was er tut, was er darstellt und was er verdient, und zudem gehört zu meinen charakterlichen Fehlern eine oftmals mit den Forderungen der Vernunft kollidierende Kopflosigkeit und etwas, was freundliche Leute wohl Leichtfertigkeit nennen. Außerdem bin ich unbeständig. Zu alledem gehöre ich nicht zu den Damen, denen es gegeben ist, zu gefallen. Das Gefällige, Angenehme, ist mein Metier nicht, und so hält sich die Anzahl der Herren, die eine Neigung zu mir entwickeln, in äußerst engen Grenzen, und von diesen gehört wiederum kaum jemand in die angesprochene Kategorie.
An sich arbeite ich aber auch ganz gern. Ich arbeite auch verhältnismäßig ordentlich, wenn mich die Arbeit nicht langweilt. Das Leben der meisten arbeitenden Menschen allerdings, so mit Haus und Garten, Rasenmäher und Kraftfahrzeug, Konzertabonnement und Klavier spielenden Kindern, kann ich mir dermaßen nicht vorstellen, dass nicht etwa Abneigung die richtige Bezeichnung des Verhältnisses zu dieser Welt darstellt, sondern eher eine völlige, abgrundtiefe Fremdheit. Wie man so leben kann, ist mir ein Rätsel.
Wie man aber dann leben soll, wie man in den Grenzen seiner Fähigkeiten und Neigungen, sein Dasein einrichten soll, das weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, wie man es vermeidet, sich lächerlich zu machen mit seinem Leben aus lauter Versatzstücken, die nicht zusammenpassen. Ich kenne die Antwort auf die Frage nicht, wie man aus den vielen Modellen, die die Gegenwart bietet, für sich das richtige auswählt, ohne in eine wiederum geschmacklose Beliebigkeit zu verfallen. Die Lächerlichkeit, die der Extravaganz immer anhaftet, ist mir zudem sehr bewusst. Als Original zu enden, steht für mich außerhalb jeder Diskussion.
Wie man es also richtig macht, ich habe keine Ahnung.
Am Morgen einfach liegenbleiben, die Augen geschlossen halten und sich auf die hellen und dunklen Stellen auf der Innenseite der Lider konzentrieren. Die schwereren Schritte des geschätzten Gefährten, der auf Socken durch die Wohnung läuft. Leises Gläserklirren, fließendes Wasser, und das leichte Trippeln der Katzen.
Der heiße, dichte Kaffee. Auf der Seite liegend die Beine an den Oberleib ziehen, eingehüllt in die eigene Wärme und die Gedanken nach allen Seiten fließen lassen. Langsam vergessen, wie kalt und hart das Jahr gewesen war, und hoffen, dass nur die guten Momente sich für später erhalten. Sich fragen, was man aufheben wird oder ob dieses Jahr ganz und gar verpackt werden muss und weggestellt werden soll auf einen der schattigen Dachböden deines Lebens.
Nun aber doch das weiche Fell der Katzen. Der Geschmack von Brot mit Pastete und Brie. Die Langsamkeit eines Tages, der nicht in Viertelstunden gemessen werden muss, und ein bißchen blättern in Büchern. Verabredungen treffen für drei, für vier, für irgendwann später, und sich stolz zulächeln im Spiegel, dass man dieses Jahr überstanden hat, verformt nicht mehr als nötig, und sich versprechen, dass die nächsten Tage, das nächste Jahr vielleicht, leicht wiegen sollen auf der Waage der Mühen.
Ein leichtes Leben für das nächste Jahr schwörst du dir, die Zahnbürste im Mund. Keine Entscheidungen zu treffen, die über den Tag hinaus Bedeutung haben. Die Kugeln rollen zu lassen, ohne Gewinn und Verlust, und alles, was das nächste Jahr dir bringen mag, sei heiter, belanglos und graziös. Etwas wie Rascheln, maigrünes Laub und folgenlose Küsse. Ein gelocktes Jahr wünschst du dir, Petit Fours und jubelnde Geigen. Den sommerlichen Park von Sanssouci, ein lächelnd gezähmter Pan mit Glockenspiel und Flöte. Ein Rokokojahr ohne Sturm auf die Bastille, und kein Bedauern, kein Vergebenmüssen, nur ein verspielt-geschwungener Schnörkel am Rande eines ernsten Buches, das ich gerade nicht lesen mag, nicht diesen Morgen und nicht das kommende Jahr.
Den Busbahnhof habe ich behalten, die Schmutzigkeit der Bänke, die paar Trinker vor dem Kiosk, in dem eine dicke Frau mit rotem Gesicht eine Bierdose nach der anderen über den Tresen reichte. Alle Gespräche aber habe ich vergessen, auch, ob ich überhaupt versucht hatte, ihn abzuhalten, ihn wieder mitzunehmen, und sogar, ob ich ihn gefragt habe, wieso er weg wollte, und nicht wieder nach Haus.
Ich selbst wollte nicht weg. Mir ging es ja gut da. Nur kalt war mir, glaube ich, obwohl es erst Oktober war. „Mach es gut.“, habe ich wahrscheinlich gesagt. Und wohl auch: Schreib mir. Aber ob er geantwortet hatte oder wenigstens genickt, und wohin er eigentlich wollte, das habe ich alles vergessen.
Weit sollte er auch nicht kommen. Am nächsten oder übernächsten Busbahnhof, den der Überlandbus anfahren sollte, hatten sie ihn schon, ganz ohne mein Zutun, und ich war – glaube ich – erleichtert, dass es so gekommen war und nicht anders. Eine Woche später ging er wieder zur Schule, und glaubte mir nur so halb, dass ich es nicht war, die ihn hatte auffliegen lassen.
Vielleicht glaubt er immer noch, dass ich es war, aber er hat mir verziehen. Jedes Jahr schreibt er kurz vor Weihnachten, wie es ihm geht. So wie ich, so wie alle, hat er die kleine Stadt verlassen. Als einer der wenigen ist er ganz weit weg gegangen, nicht nur bis München, Wien, Köln oder Berlin. Alle paar Jahre zieht er um, in ein anderes Land, und einen Beruf hat er, der ihm dies erlaubt, und es vielleicht sogar fordert.
Eine Frau hat er auch, lese ich, jüngst geheiratet, und bald wohl auch ein Kind. Ob er ein schönes Leben hat, weiß ich nicht, denn wenn er unglücklich sein sollte, so wird er mir dies nicht schreiben.
Ich selbst will nicht weg. Mir geht es gut hier. Nur kalt ist mir, heute und alle Tage, solange der Winter währt, und – anders wohl als er – weiß ich, dass ganz weit weg nichts besser wird, und alles, was andernorts auf mich wartet, nicht größer, schöner oder strahlender wäre als hier, denn dies ist wohl alles, was mir zugemessen ist, hier oder woanders.
Wie schlimm es wirklich ist, merke ich erst am letzten Sonntag um acht. Bei REWE am Ostbahnhof fällt mir eine Tüte Milch aus der Hand, ein Tetra-Pak der Marke Füllhorn, und platzt. Sehr, sehr langsam, viel zu langsam eigentlich, läuft die Milch aus dem Loch in der Pappe, bis die Tüte fast leer in einer Milchlache liegt. Neben der Pfütze, irgendwo rechts von den Tiefkühltruhen stehe ich, schaue die Milch an und versuche mich zu erinnern, was man tut, wenn so etwas passiert.
„Kannst du nicht aufpassen?“, werde ich angerempelt, und ein blondes Mädchen mit dicken, blauen Kajalstrichen um die Augen blitzt mich böse an. „Sorry.“, sage ich und schaue weiter in die Milch, und das Mädchen faucht irgendetwas, das wie „hau doch ab“ klingt oder so ähnlich.
„Da.“, drückt mir die Kassiererin eine Rolle Haushaltstücher in die Hand, und zwischen den Stiefeln fremder Leute versuche ich, die Milch ganz und gar verschwinden zu lassen. „Da ist noch was.“, zeigt ein grinsender Mann auf den blanken, feuchten Boden, und freut sich mächtig.
„Jetzt nicht heulen.“, denke ich und presse meine Lippen fest aufeinander. Nicht weinen. Nicht laut schreien, dass dies die schlimmsten Wochen sind, die du jemals erlebt hast, dass dies die Hölle ist, Sonntag abend bei REWE, nach 34 aufeinanderfolgenden Arbeitstagen mit viel zu wenig Schlaf.
„Und die Milch.“, sage ich der Kassiererin und lege meinen Einkauf aufs Band, und versuche an all die Dinge zu denken, von denen ich weiß, dass es sie gibt, die Sonne zum Beispiel. Ein warmes Bett. Wasser, weiche, streichelnde Hände, und dass auch dies, auch diese Wochen, ein Ende haben werden, und alles wird gut.
Wie sind, denke ich so bei mir, eigentlich Leute beschaffen, die Handtaschen mit riesengroßen Herstellerbezeichnungen auf beiden Seiten kaufen? Handelt es sich um, kurz gesagt, Menschen wie dich und mich, mit dem einzigen Unterschied eines kleinen, nach Art und Umfang überschaubaren ästhetischen Defekts? Können diese Menschen liebenswert, bescheiden und freundlich sein, gelassen gegenüber den Erscheinungen der sichtbaren Welt, und finden nur – ebenso wie manche ansonsten einwandfreie Leute hässliche Bilder präferieren – große goldene Schriftzüge schön? Sind die Käufer, besser vielleicht: die Käuferinnen, dieser Handtaschen ansonsten ganz normale Leute, und nur eine gewisse Unsicherheit, die man nicht weiter verwerflich finden mag, zwingt sie, die Unsicherheit ihres Urteils bezüglich des Aussehens von Handtaschen durch die Ausstellung des Kaufpreises in Form von Markennamen zu kompensieren? Oder mag doch eine Prise, wenn nicht sogar ein ganzer Löffel Vulgarität eine Rolle spielen bei jenen Frauen, die zwischen den Hundertschaften von Handtaschen im Erdgeschoss der Galeries Lafayette zielsicher diejenigen auswählen, die Herkunft und Preis in grellen Lettern herausschreien?
Welchen Eindruck, überlege ich und lasse den Blick über die anderen Damen auf Taschenjagd schweifen, wollen jene Damen bei ihrer Umwelt erwecken? Spekulieren diese Frauen auf den Neid ihrer schlechtbezahlten Friseurin, wie es möglicherweise der blonden, etwas fülligen Frau mit den allzu roten Lippen zwischen den Prada-Taschen zuzutrauen wäre, oder spielt mir angesichts dieser etwas zu farbenfrohen Dame ein wiederum wohlfeiles Vorurteil ein Schnippchen? Sollte ich vielleicht einer unzutreffenden Vorstellung über andere Leute aufsitzen, und zu Unrecht das blonde, etwas streng wirkende Mädchen mit der Longchamp-Tasche in der Hand gedanklich der Hochnäsigkeit zeihen, die ich mir möglicherweise vielmehr selbst vorwerfen müsste, die ich jene Person, ohne ein einziges Wort mit ihr gewechselt zu haben, in festgeschraubte Kategorien eingeordnet habe.
Und was, fällt mir ein, denken diese Leute eigentlich über mich, die ich – unfähig zur Entscheidungsfindung – mit zwei Handtaschen in beige und braun durch die Taschenabteilung laufe, ein wenig unfrisiert wie stets, einen dunklen Rock um die etwas zu speckigen Hüften, derbe Stiefel an den Füßen, eingehüllt in eine braune, leicht unförmige Barbourjacke und mit der missmutigen Miene derjenigen Leute, denen immer etwas zu bewusst ist, dass sie in dem Reich der dezent geschminkten, tadellos gekleideten Damen nie mehr als den Status des geduldeten Zaungastes erwerben werden, völlig egal, welche Handtasche an ihrem Unterarm hängt?
Ganz schwarz ist das Meer bei Nacht, so schwarz, wie ich mir den Tod vorstelle an schlechten Tagen, an denen ich an Licht, an Strahlen, an Güte und warme, streichelnde Hände nicht glaube. So schwarz ist das Meer, dass es meine Haut mit Schwärze färbt, und durchtränkt mit Dunkelheit entsteige ich den Wellen.
Den Wald am Ufer hat die Nacht verschluckt, und auch das Hotel, die weiße Stadt am Meer, steht nicht in meinen Träumen. Vergeblich rufe ich nach dem J., niemand antwortet meinen Schreien, und die Vögel kreischen, schwarz auch sie, höhnisch mit langen Schnäbeln.
Dies ist das Ende von allem, wispert das Meer mir zu, und aus dem Wasser steigen die Schatten und hocken wortlos am Strand.
Knie nieder, befiehlt der Priester mir an der offenen Grube. Wie warm sie noch ist, wispern die Schatten sich zu, und nackt recke ich den Hals der Schwärze entgegen, der plötzlichen Kälte, und dann dem barmherzigen Nichts.
Und zu alledem, gelegentlich gegen Morgen, das unsinnige Gefühl, alles Leben sei nichts als ein entsetzlicher Irrtum. Die Entwicklung des Organischen ein täppischer, misslungener Versuch. Eine Verunreinigung des Seins durch einen schmierigen, fleckigen Film, und Gott verdrossen fortgegangen, während die Reste seiner gedankenlosen Spielerei in ein paar gläsernen Kolben, einigen längst gesprungenen Petrischalen ihrem Ende entgegen faulen.
Leg dich zu mir, fiebert das Etwas dem Nichts entgegen, und jenes nickt, strahlend vor Reinheit, vor gleißendem Licht, vor streng gezirkelter Ordnung, und die Wasser warten, uns zu ersticken, uns wegzuschwemmen und aufzulösen, bis die Welt wieder rein sein wird, weiß, wüst und leer, und nichts zu hören sein wird bis auf ein tonloses Rauschen.
Wenn ich, meine sehr verehrten Leserinnen und Leser, von nun gar nichts mehr von mir hören lasse, komplett verstumme, dann mag es sein, dass nicht die Zwänge eines Berufslebens von runden siebzig Wochenstunden mich davon abhalten, Sie zu amüsieren, nein, des Todes kalte Hand mag mich von der Tastatur gerissen haben, denn in wenigen Minuten werde ich, Madame Modeste aus Berlin, mich voraussichtlich Hals über Kopf in ein gefahrvolles Experiment mit durchaus offenem Ausgang stürzen.
Aber der Reihe nach: Mein Immunsystem, wie man so sagt, ist nicht gerade bekannt für seine Treffsicherheit. Kurzsichtig wie seine Besitzerin stürzt es sich unkontrolliert und mit hoher Fehlerquote auf alles Mögliche, was in mein Körperinneres durch Berühren, Einatmen oder Verschlucken gerät, und von Nüssen bis Gräserpollen wird manche an sich harmlose Substanz gnadenlos und mit allen der körpereigenen Abwehr eigenen Mitteln bekämpft. Von Jahr zu Jahr umfangreicher wird die Liste der Dinge, die zu meiden sind, um nicht gräßlich anzuschwellen, markerschütternd zu niesen, der Atemluft sogar verlustig zu gehen, und knallrot mit gefährlich erhöhtem Herzschlag keuchend die nächste Apotheke aufzusuchen.
Bis gestern allerdings schienen Früchte noch zu denjenigen Dingen zu gehören, die mein Immunsystem als ungefährlich erkannte. Gestern morgen allerdings verstarb ich fast in einer längeren berufsbedingten Besprechung an einer Aprikose, einer duftenden, pfirsichhaft weichen, safrangelben Frucht. Noch im Prozess des Kauens begriffen, begann mein Gaumen zu prickeln. Wenige Sekunden später schwoll meine Oberlippe an. Meine Zunge wurde dick. „Einen Moment.“, flüsterte ich nervös und stürzte aus dem Konferenzraum.
„Ein Antihistaminikum in die Besprechung im 1. Stock.“, zischte ich, Panik in den Augen, dem nächstsitzenden Kollegen ins Büro. Wenige Minuten später, der Schweiß rann mir über die hochrote Stirn, wurde mir ein Tablette gereicht, das Immunsystem legte sich wieder schlafen, und die Besprechung konnte weitergehen.
Mit dem Aprikosenverzehr ist es also vorbei. Wie aber, frage ich mich, sieht es mit anderen Steinfrüchten aus? Mit den gelben Pflaumen zumal, die beim Gang über den schon fast völlig abgeräumten Kollwitzmarkt von dem J. mitgenommen wurden? Die auf der obersten Schale der Etagere in der Küche duften, saftig, überaus wohlschmeckend zumal, wie der J. versichert? Verführerisch wie der Apfel der Erkenntnis von Gut und Böse, süß wie die Sünde, und so verlockend wie nur diejenigen Dinge es zu sein pflegen, die man besser lässt.
Bestehen enge verwandtschaftliche Beziehungen zwischen gelben Pflaumen und Aprikosen? Welcher Arzt hat heute Bereitschaft? Lohnt es sich, einfach vor dem Verzehr eine C*tirizin zu schlucken? Oder probiert man nicht besser einfach aus, ob es nicht doch noch geht?
Und wenn es nicht mehr geht – tja. Dann lesen Sie wohl einfach woanders weiter.
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