Okay, die Damen, die Sie kennen, sagen das auch immer, aber bei mir stimmt’s wirklich: Ich nehme gerade massiv zu. Ob’s der neue Job ist, der mehr Hunger verursacht, als eigentlich Brennstoffbedarf besteht, ob’s das ruhige Leben ist, das ich mir ja extra zugelegt habe dieses Jahr, nachdem das letzte Jahr sich als etwas strapaziös erwiesen hat, so privat und auch sonst so – drei Kilo seit Februar, da werden Sie mir zustimmen, sind eine Menge, und vielleicht ist es auch das Alter, das zwei warmen Mahlzeiten täglich so langsam doch einen Riegel vorschiebt, will ich nicht so enden wie die Leute, die man manchmal in der Bahn auf gleich zwei Plätzen sitzen sieht.
Übertriebene Diäten jedoch verursachen ja nicht nur schlechte Laune – öffentlich und sehr spektakulär umgekippt bin ich irgendwann einmal, Jahre ist es her, als ich einmal versucht hatte, drei Kilo in drei Wochen von den Hüften zu schaufeln. Langsames Abnehmen ist also das Gebot der Stunde, und so entsage ich nunmehr öffentlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, dem fetten Käse, dem späten Haloumi im Brot, dem Bier natürlich, und verstecke das neue Heft von „Essen und Trinken“ irgendwo, wo ich es nicht ständig sehe. Rehspieße mit Pfifferlingen, S. 50 oder den Lammbraten mit Kräutern irgendwo hinten im Heft gibt es also erst wieder, wenn ich die 60 Kilo unterschreite.
Leider gehöre ich keineswegs zu denjenigen Menschen, die ohnehin am liebsten Salat essen. Zu einem Essen gehört Butter, zu einem Essen gehört Sahne, feines Olivenöl, Käse in jeder Form, und panierten Fleischlappen bin ich auch nicht abgeneigt. Ein Leben ohne Kuchen oder Schokolade gehört auch nicht zu den Dingen, die mir am wünschenswertesten erscheinen, aber ab heute gibt es nur noch diejenigen Dinge, die trotz geringer Nährstoffdichte zumindest annehmbar schmecken: Morgens Obst. Mittags Sushi oder Salat. Und abends thailändisch ohne Kokosmilch oder chinesisch ohne Friteuse. Oder Sushi, Unmengen rohen Fisches, sehr wenig Reis, und die drei, vier Obstsorten, die ich ganz gerne mag: Melonen, Erdbeeren und Beerenfrüchte, aber nicht die, die man zuckern muss.
Oh, werde ich schlechtgelaunt sein die nächsten Wochen. Das wird hart für meine Umgebung. Dieses Blog wird versinken in einer gigantischen miesen Laune, aber damit ich das auch durchhalte:
Wer auch immer, meine Damen und Herren Berliner, mich in den nächsten drei Wochen mit einem Bier, einer Bratwurst oder ähnlich fettem Zeug sieht, bekommt auf der Stelle ein Eis von mir ausgegeben. Drei Kugeln. Gern mit Sahne.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, schon sitzend, einer dicken Frau zu, die ihre Tasche in der Gepäckablage verstaut. Gutmütig schaut sie aus, vielleicht lacht sie viel, wenn es nicht so heiß ist wie heute, und unter ihren Achselhöhlen sich dicke, dunkle Schweißflecken ausbreiten. Ihre Oberschenkel spannen die weiße Caprihose, und über dem Top, unter dem sich zwei Fettrollen wölben, weht eine leichte Bluse. Neben ihr steht ein Mann und hält eine weitere Tasche.
Ganz mager ist der Mann, vielleicht 45 wie seine Frau, ein bißchen ausgemergelt mit einem struppigen Bart, und schaut so in der Gegend herum, bis sein Blick an einem Mädchen hängenbleibt, das sich schlank, mit langen, braunen Haaren über den Korridor des ICE an den schwitzenden Menschen vorbeischlängelt. Auch sie trägt weiße Hosen, ein Top, auf dem „Brazil“ steht, und in ihren Ohren stecken zwei Stöpsel. Mit denen hört sie Musik.
Lieber, denke ich, würde der dünne Mann wohl mit dem Mädchen weitergehen, ins nächste Abteil, und ihr etwas erzählen, und sich freuen, wenn sie lacht. Vielleicht würde er sie in die schlanken Seiten stupsen, die nicht wirken, als gäbe da etwas nach. Vielleicht möchte der magere Mann das Mädchen küssen, vielleicht träumt er nächste Nacht von ihr, wenn er neben der dicken Frau liegt, die bestimmt schnarcht, wenn sie auf dem Rücken liegt, und die dicke Frau tut mir leid.
Dann aber hat die Frau ihre Taschen fertig verstaut, der Mann setzt sich neben sie, und zieht eine Zeitschrift aus seiner Tasche. Wenn das Mädchen, denke ich mir, ihm zugelächelt hätte, wenn er eine Chance sehen würde, mit so einem Mädchen durchzugehen – dann würde er vielleicht nicht neben der dicken Frau sitzen bleiben, und vielleicht bliebe er nicht einmal, wenn seine Frau dünn wäre und noch leidlich hübsch, aber eben 45 und nicht ungefähr 18.
Ein bißchen Angst wird mir da bei der Vorstellung, eines Tages auch 45 zu sein, und mit einem Mann an der Hand durch die Stadt zu laufen, der lieber als mit mir mit irgendeinem Mädchen davonginge, das schlechte Musik hören mag, dumm sein mag, ein bißchen ordinär vielleicht mit riesengroßen Ohrgehängen, aber jung und mit einer glatten Haut, die ich nicht mehr habe. Dass alle Liebe und die ganze gemeinsame Zeit nicht mehr ins Gewicht fallen werden, wenn es darum geht, begehrt zu werden. Dass das Lächeln eines Tages ausbleiben wird, wenn man einen Raum betritt und strahlt, weil es Sommer ist und warm. Dass man eines Tages nicht mehr mitspielen kann, wenn die Männer doch noch gut im Geschäft sind, weil Klugheit, Charme und das alles bei Frauen nichts mehr wert sind, wenn sie erst einmal 45, sind, 50 vielleicht, und die Wünsche noch lebendig. Dass man zur lächerlichen Figur wird, wenn man nicht wahrhaben mag, dass die Zeiten vorbei sind, in denen irgendwer darauf wartet, dass man ihn anruft.
Dass das alles vorbei sein wird, lange bevor erst die Wünsche sterben, und dann wir. Dass vielleicht eine Kameradschaft bleibt, vielleicht etwas, was auch zur Liebe gehört, aber nicht der Rausch, nicht das goldene Leuchten, dass niemand für einen sterben würde, und niemand für einen umziehen bis ans Ende der Welt. Und dass man eines Tages noch froh sein muss, wenn das, was dann noch bleibt, ausreicht, jemanden zu halten, der von schlanken, jungen Körpern träumt, und dass er nicht eines Tages seine Sachen packt, wenn er noch kann, und man selbst kann nicht mehr.
Ehen enden, Freunde sterben an Altersschwäche, aber wahre Liebe dauert ewig: Modestes Vater altert mit Bob Dylan.
18 sein. Nachts vor irgendwelchen Clubs sitzen, eine Bierflasche in der Hand, rauchen und auf jemanden warten, der vielleicht gar nicht kommt. Irgendeiner Band zuhören, die vielleicht mal berühmt wird, und vielleicht auch nicht, und an der Decke des Clubs hing der Schweiß der ganzen Nacht in dicken Tropfen…
„Auf einer Bühne stehen! Im Fernsehen vorkommen! Das Leben eines Rockstars, der Tod einer Diva, und jeden Tag gutes Essen!“, träumt mancher Jüngling so vor sich hin, und malt sich ein Leben als Künstler aus, oder zumindest als Fernsehmoderator oder so, als außerordentliche, unalltägliche Existenz jedenfalls, weit jenseits jener Sphäre, in der Menschen Tag für Tag ihre staubigen Büros aufsuchen, um dort beispielsweise der Tätigkeit eines Bilanzbuchhalters nachzugehen.
„Oh du hoffnungsloser Traumtänzer!“, entgegnen dann die Erziehungsberechtigten und raten zu der Aufnahme eines Studiums der Elektrotechnik oder der Juristerei, und sprechen mit sorgenzerfurchtem Gesicht von den Aberhunderten junger und nicht minder talentierter Menschen, die täglich in den Straßen Berlins für ein Glas Latte Macchiato ihre Dispo ausschöpfen, denn Erfolg, so wissen Alter und Weisheit zu berichten, haben sowieso immer nur die anderen.
Traurig und desillusioniert von den Worten derer, die ja stets nur das Beste wollen, schleppen sich junge Menschen dann hoffnungslos an die Uni, werden Betriebswirt, studieren Verfahrenstechnik, und träumen nur selten noch von Ruhm und einem Bekanntheitsgrad, der es ihnen erlaubt, beim Metzger vorgelassen zu werden oder vielleicht gar nicht mehr selber einkaufen gehen zu müssen, weil das dann ja andere Menschen machen, wenn man erst einmal sehr berühmt ist.
Trostreich indes möchte man diesen Menschen zurufen: Es gibt noch Hoffnung. Eröffne, sagt man, doch einfach ein Blog.
Zwar winken keine kreischenden Heerscharen junger, hingebungsvoller Jugendlicher vor deinem Fenster. Niemand fällt in Ohnmacht, wenn du gleich beim Presseshop in der Zionskirchstraße Zigaretten kaufen gehst. Auch beim Bäcker wird selbst ein Don Alphonso nur als guter Kunde, und nicht als berühmter Blogger erkannt, und für die Bambi-Verleihung bekommt schätzungsweise nicht einmal Johnny Spreeblick Karten.
Wer aber, fragt man sich, will da überhaupt hin? Und wer will sich in der Gala abbilden lassen, wenn man von the most marvellous Glamourdick photographiert werden kann? Und was ist ein Portrait im Goldenen Blatt gegen den Tagesspiegel? Und wer möchte mit Victoria Beckham picknicken, wenn man mit lauter viel netteren Leuten im Volkspark sitzen kann?
„Pah!“, entgegnen dann die hoffnungsvollen Jünglinge und Jungfräulein, rümpfen die Nasen und behaupten unausprechliche Dinge über Blogs und Blogger.
Manchmal aber presst die Stadt uns zu schnell durch ihre Adern, manchmal schlägt ihr Puls uns mit eisernen Hämmern auf die Schläfen, und die Nacht reißt den Rachen auf und haucht dich an, dass du fast zu Boden gehst vor lauter Fäule. Manchmal bist du dann müde, viel zu müde für den Strom aus Lärm und Stimmen, und dann liegst du nachts im Bett und schaust mit offenen Augen an die Decke. Unter dir schreit die kleine Tochter der Nachbarn, und selbst das Haus, in dem du wohnst, ist so unruhig wie du.
Manchmal rufst du den Schlaf dann vergeblich, und die Gedanken beginnen herumzuwandern, von rechts nach links und zurück, sitzen wie schwarze Spinnen über dir an der Wand, und der, der neben dir schläft, schnappt im Schlaf nach Luft, denn so dünn ist die Stadtluft geworden, dass sie nicht länger frei macht, sondern nur unruhig, getrieben mit weit geöffneten, müden Augen. Dann kneifst du die Lider zusammen, dann malst du dir ein anderes Leben aus, vielleicht in einer kleinen Stadt an einem großen Fluß, Wasser, vielleicht Berge, und eine Erde unter den Füßen, die sich nicht schneller dreht als du. Dann malst du dir das Haus aus, in dem du wohnen würdest, Stockrosen und Dahlien im Garten, Efeu am Giebel und grüne Fensterläden aus Holz.
Am Morgen würdest du aufwachen, stellst du dir vor, und Kipferln mit Butter und Honig essen, statt einfach so loszulaufen, weil es doch immer zu spät ist, und die Nacht immer zu kurz. Viel ausgeschlafener wärst du in dem kleinen Haus, und eine rot-weiße Katze hättest du, die würde auf einem Kissen am Fenster sitzen, und morgens käme sie angesprungen und säße auf dem Plumeau. Mit dem Fahrrad würdest du zur Arbeit fahren, statt mit der BVG, und die Zeit würde sich locker über den Tag spannen, der lang wäre, viel länger als hier.
Vielleicht würdest du in der Uni arbeiten, etwas beforschen, was zehn Jahre dauert oder zwanzig, Aufsätze schreiben, die du sorgfältig immer wieder lesen würdest und deine Sätze wägen könntest und lange überlegen. Vielleicht würdest du auch mittags um die Ecke lange essen, in einem Gasthof „Zum Goldenen Lamm“ oder so, zwei Scheiben Braten, Rosenkohl und Knödel dazu, gebratene Forelle mit buttrig glänzenden Kartoffeln und Gurkensalat statt einer schnellen Sushiplatte oder einem Sandwich mit Pastrami.
Am Abend würdest du mit dem, der auch da wohnt, daheim sitzen oder bei den Nachbarn grillen, und ihr würdet dicke Bücher lesen und euch mit einem Glas Wein im Garten erzählen, was in den Büchern steht. Du würdest einkaufen und kochen, du würdest Leute einladen und mit deiner Katze spielen, und einmal in der Woche würdest du in die einzige Buchhandlung gehen, die es am Ort gibt, und Bücher bestellen, denn das, was du haben willst, hätten sie ohnehin nicht da.
Bestimmt würdest du dich langweilen nach ein paar Wochen oder Monaten. Vielleicht würden dir die Freunde fehlen, die ein so schnelles Leben führen wie du jetzt, ein paar hundert Kilometer weiter im Norden. Vielleicht zögest du dann irgendwann wieder die Stadt, weil die Unruhe Berlins nicht an den Steinen, nicht am Asphalt und nicht an dem bröckelnden Putz der Stadt haftet, sondern an dir. Vielleicht führest du, wie vor fünf Jahren, auch diesmal wieder mit deinem Umzugswagen nachts am Funkturm vorbei, vorbei an der Siegessäule, die Linden hoch, bis der Fernsehturm dir anzeigen würde, dass du hier richtig bist, und die Stadt nicht zu schnell für dich, sondern nur dein Lauf zu hastig für dein Herz und deine Lungen.
Die kleine Anna-Lena wirft einen bunten Ball hoch, fängt ihn wieder, wirft ihn höher und lässt ihn auf den Boden fallen. Ihre Mutter sitzt auf der niedrigen Mauer des Spielplatzes am Kollwitzplatz, isst Kirschen aus einer Papiertüte, und Anna-Lenas Vater trinkt Erdbeerbowle. Der Vater trägt ein gestreiftes Hemd, vielleicht Paul Smith, beigefarbene Hosen, asics in beige und braun an den Füßen, und bestimmt hatte er in den Achtzigern einmal so eine Föhnfrisur und war blond. Jetzt hat er nur noch wenig Haare und die ganz kurz rasiert, denn dann fällt das nicht so auf. Ansonsten sind hier alle blond, außer uns, der kleine Junge mit dem adrett verwuschelten Stufenschnitt und dem roten Halstuch zum kurzärmligen Hemd. Das Mädchen im schilffarbenen Kleid mit geblümter, seidiger Taille von Noa Noa, und ihre Mutter, die mit einer rotblonden Freundin Törtchen löffelt, Pâtisserie von Lautz, und ihr irgendetwas erzählt. „Nein!“, reißt ihre Freundin amüsiert die Augen auf und breitet die Arme aus zum Zeichen, dass sie das nun wirklich nicht gedacht hätte, also nie im Leben….worum es geht, verstehen wir aber leider nicht.
Ob der Mann in den hellen Cargo-Hosen mit blauem Hemd und riesengroßer Sixties-Sonnenbrille zur Mutter oder zur Freundin gehört, können wir auch nicht sehen. Mit ein paar Tüten in der Hand steht er vor den beiden Frauen. Aus einer Tüte schauen ein paar Lauchstangen hervor, Sellerie, Brot scheint er auch gekauft zu haben, und vielleicht noch irgend etwas Verderbliches, denn er schwenkt ungeduldig zwei-, dreimal die Tüte, sagt etwas und verschwindet dann, die Kollwitzstraße abwärts Richtung Schönhauser. Die Mutter und die Freundin reden weiter, das kleine Mädchen hat auf einmal ein anderes, noch viel kleineres Mädchen, noch viel blonderes Mädchen an der Hand, und die beiden laufen kreischend und lachend hintereinander her.
Ein drittes Mädchen will auch mitspielen, zerrt ihre Mutter ungeduldig an der Hand in Richtung der anderen Kinder, aber die hat keine Zeit und beide Hände voll mit Tüten und Taschen. In einer Tüte beult der Spargel, den man durch die Lücke zwischen zwei Ständen sehen kann, hoch aufgetürmt.
Der kleine Junge mit dem Halstuch hat jetzt keine Lust mehr zu spielen und sitzt neben seiner Mutter. Die bindet ihm das Tuch neu, und er hebt den Kopf ein bißchen an, wie Männer, wenn man ihnen spaßeshalber einmal die Krawatte bindet. Gute Schuhe hat er an, fällt mir auf, und mein Begleiter erinnert mich an die Kinderabteilung letzte Woche bei P&C, wo man Kinder vollausstatten kann, die in zwanzig Jahren immer noch Sohn sein werden, weil ihnen nichts einfallen wird, was einträglicher und amüsanter sein wird als einfach so zu bleiben, wie man sowieso gerade ist. Das aber, sind wir uns einig, finden wir eigentlich ziemlich blöd. Nie im Leben, finden wir alle drei, würden wir Cashmerepullover mit dem big pony drauf in Größe 144 kaufen oder ein Burberry-Hemdchen für Dreijährige oder so. Auf keinen Fall würden wir eine weitere Generation von Leuten aufziehen, denen es mit zwölf so gut geht, dass sie keinerlei Anstalten machen werden, erwachsen zu sein, bevor sie 35 sind.
Niemals aber auch, fällt uns ein, würden wir solche Kinder haben wollen, wie wir sie schon in der Schule nicht ausstehen konnten. Kinder mit Koffern, die gut in Mathe wären und hässliche Brillen mögen. Kinder, die Mitglied der Umwelt-AG würden, wegen toter Robben weinen und dann den ganzen Haushalt terrorisieren, weil man den Müll nicht trennt und Pfandflaschen ab und zu wegschmeißt, weil man keine Lust hat, zu Kaisers zu gehen. Natürlich würden wir auch keine Kinder haben wollen, die später Bankangestellte würden und Einfamilienhäuser kaufen, in denen dann so Kunstdrucke aus dem Baumarkt hängen. Mit den zerlaufenden Uhren von Dali drauf. Und Kindern, die Kevin heißen und jeden Satz mit „wa!“ beenden, hätten wir natürlich auch nicht.
The happy Kollwitz family, fällt uns ein, finden wir ja irgendwie alle nicht so, aber über the happy Spandau family lohnt es sich ja nicht einmal mehr zu lachen, und das Weddinger Familienglück existiert ja eigentlich überhaupt nur noch als Problem. The happy Passau family geht natürlich gar nicht, zum Amokläufer würde man da oder anfangen, sehr heavy zu trinken, und mit dem Familienglück wäre es wieder nichts. Aber wie man es richtig macht, das wissen wir alle drei nicht, die wir da sitzen, am Kollwitzplatz, ein Glas Cidre von Wegehaupt in der Hand, und den anderen Leuten zuschauen auf dem Weg vom Markt nach Hause.
An der Strandpromenade stehen, die Hände an der Stange der Abgrenzung, hinter der es ein paar Meter hinunter geht zum Strand. Links von mir geht die Sonne unter, und die Kreuzfahrtschiffe leuchten als seien sie etwas anderes als schwimmende Altersheime, auf denen eng zusammengepfercht alte Frauen ein letztes Mal das Meer befahren. Ein gleitendes, schwimmendes Fest zieht vorbei, ein paar Fetzen Musik weht der Wind an Land, ein paar Takte Cole Porter, und der Wind zieht an meinem Haar, als müsste ich mit, und an Deck irgendeines Schiffes die Küsten entlang fahren, bis ich irgendwo wäre, wo ich jemand anders sein könnte, leichter und wehender und ohne mein schwarzes, klumpendes Blut, auf dem die schweren Träume Schlacken laden. Eine gleitende Abwesenheit möchte ich sein, eine Reisende mit nicht mehr als einem Koffer, ein bißchen Wäsche und ein paar Erinnerungen vielleicht.
Ein schwimmendes Fest, denke ich wieder, als ich über die Jannowitzbrücke fahre, auch wenn die Spree nicht das Meer ist, und das Schiff nur ein Boot, und die Leute unter den Lampions frieren werden in diesem blaugrünen, unreifen Juni. Ein Kind aber winkt den Feiernden zu von einem verwaisten Ausflugsschiff, und die Fahrenden winken zurück, wie auch mir die alten Damen zugewinkt haben, vor so vielen Jahren vom Deck eines Kreuzfahrtschiffs Richtung Süden.
Vielleicht sind die alten Damen heute alle tot, vielleicht befahren sie immer noch die Meere und essen Hummer und Steak mit ihren falschen Zähnen. Vielleicht fahre auch ich eines Tages auf einem Kreuzfahrtschiff irgendwohin, aber ein Fest wird es wohl nicht werden, wie alles nur aus der Ferne leuchtet, ich weiß nicht, warum.
„Wissen sie,“, spricht mich eine Stimme schräg hinter mir an. „Engel sind unter uns. Aber die Menschen töten sie. In jeder Stunde sterben Tausende von Engeln und keiner tut etwas dagegen.“ – Irritiert drehe ich mich um. Die Frau, der die Stimme gehört, schaut mich aus grauen, sehr runden Augen an. Ungefähr vierzig, schätze ich, und von einer Adrettheit, die die Versandhäuser „flott“ nennen, und die etwa die tüchtigen Sachbearbeiterinnen des öffentlichen Dienstes kleidet: Bequeme, sandfarbene Jeans, ein geflochtener Gürtel mit großer Schnalle, flache, braune Schuhe und eine buntgestreifte Bluse. Um den Hals trägt sie eine goldene Kette mit einem Anhänger, der vielleicht ihr Sternzeichen symbolisiert. Vor dem Fenster zieht die gleichgültige, leicht eintönige Landschaft Brandenburgs vorbei, und der Regionalexpress ist so gut wie leer.
„Aha.“, sage ich, weil mir nichts Besseres einfällt, und wende mich wieder meiner Zeitung zu. Es ist kurz nach acht Uhr früh, und ich bin müde, müde, müde. Lang war die Nacht, und Schlaf ist derzeit eine rare Ware. – „Ich habe ein Buch gelesen!“, insistiert die Frau und senkt die Stimme, als verrate sie mir ein Geheimnis in dem leeren Waggon. „Ich lese andauernd irgendwelche Bücher, und für Engel habe ich keine Verwendung.“, verkneife ich mir zu erwidern und starre noch konzentrierter in die Zeitung. Die SPD, entnehme ich meinem am Alex erworbenen Periodikum, sei gegen einen Abbau des Kündigungsschutzes, die CDU dagegen wolle Sozialbetrügern an den Kragen, und die GRÜNEN scheinen irgendwie ausgestorben zu sein, seit sie nicht mehr regieren.
„Es gibt 24 verschiedene Arten von Engeln.“, berichtet die Frau. – Und es gibt einige tausend Sorten Käse, fällt mir ein, und ich lese weiter. „Bitte,“, sage ich. „Ich habe gleich einen Termin. Lassen sie mich jetzt weiterlesen?“, und blättere geräuschvoll um.
„Sie gehören auch zu diesen Leuten, die Engel töten.“, schlägt die Stimme der Frau auf einmal um ins Gehässige. Sie wird lauter. „Sie bringen sie um mit ihrer Gleichgültigkeit, sie bringen sie zum Weinen!“, – Sie bringen mich gleich zum Weinen, knirsche ich mit den Zähnen. „Bitte seien sie still.“, sage ich statt dessen ruhig und nachdrücklich, und die Frau schnappt ein paarmal nach Luft, als wolle sie noch viel mehr sagen, aber die Wucht der Worte sei zu viel für ihren Mund. Dichtgedrängt, zusammengequetscht, verstopfen die Worte auf ihrer Zunge sich gegenseitig den Weg, und ihre Versuche, mir mehr über diese Wesen zu berichten, scheitert zum Glück an ihrer Unfähigkeit, mehr herauszubekommen, als das Geräusch eines hastigen Lufteinziehens. „Dann wünsche ich ihnen noch einen schönen Tag.“, beende ich die Kommunikation. Wortlos erhebt die Frau sich, reißt brüsk ihre Handtsche an sich, als hätte ich nach ihr gegriffen, wechselt das Abteil, und als ich nach einigen Minuten einmal durch die Tür ins nächste Abteil schaue, sitzt sie zwei Schulkindern gegenüber, 15 oder 16 Jahre alt vielleicht, Mädchen in bunten, etwas billig anmutenden Jacken, und redet weit vorgebeugt eifrig auf die beiden ein.
Als Grieche musste man ja bis nach Delphi fahren, als Römer ließ man sich die Zukunft aus toten Tieren vorlesen, aber der menschliche Fortschritt ist ja kaum aufzuhalten, und so vermittelt gegenwärtig bereits ein Blick in den Spiegel eine hinreichende Prognose über den Verlauf des Tages. Priester brauchen Sie dazu eigentlich keine. Stehen Sie einfach auf, gehen Sie ins Bad, und wenn Ihre Haare im Spiegel aussehen wie etwas, was man der Welt tunlichst verbergen sollte, dann gehen Sie wieder ins Bett. Und wenn es klingelt, dann machen Sie nicht auf.
Wenn Sie aber zugesagt haben, in Bonn im Rheinland öffentlich aus diesem Blog vorzulesen, und um 8.00 Uhr in der Früh abgeholt werden sollen, und derjenige, der da klingelt, vermutlich der Fahrer ist – dann duschen Sie doch. Auch wenn Ihre Haare das Schlimmste befürchten lassen. Kommendes Unheil sitzt auf Ihrem Kopf, Sie sehen es ganz genau, und dann stopfen Sie irgendwelche Sachen in eine Tasche, vergessen ausreichend Proviant, und laufen los. Auf Ihrem Kopf dräut das Verderben, aber auf der Straße steht ein Mazda 323, neben dem Wagen steht der Fahrer, der äußerst begabte und ungewöhnlich sympathische Herr A., und dann fahren Sie einfach los. „Du wirst schon sehen, was du davon hast.“, flüstert das Schicksal gewohnt boshaft in Ihre Ohren, aber Zuhören war nach sachverständiger Meinung ohnehin noch nie Ihre Stärke.
Die Mitnahme einer über eine Mitfahrzentrale vermittelten Dame in der Kastanienallee funktioniert reibungslos. „Wir fahren jetzt erst in den Wedding und holen den N. ab, und dann sammeln wir noch so eine Litauerin am S-Bahnhof Friedrichstraße ein.“, erläutert der Fahrer und gibt Gas.
Groß, oh Herr, ist aber der Wedding, und klein Deine unwürdigen Geschöpfe. Herr N. soll irgendwo am Leopoldplatz warten, und wo wir sind, ist so ganz genau nicht auszumachen. Nicht am Leopoldplatz jedenfalls, soviel steht fest, vielleicht auf der Brunnenstraße. Oder auf der Schulstraße, aber wo die ist, weiß man wiederum nicht so genau, und labyrinthisch-amorph erstreckt sich der Wedding rechts und links von A.’s Auto und sieht überall gleich aus. Immerhin wartet der N. noch nicht irgendwo auf öffentlichen Plätzen, denn jener ist gerade ist erwacht. Auch das wird sich aber ändern, denn eine halbe Stunde später ist der Wedding eher noch rätselhafter geworden, der N. steht irgendwo an einem Ort, den wir nach wie vor suchen, und ich erkenne, den Wedding zu recht in all den Jahren meines Aufenthalts vermieden zu haben. – Am Ende aber finden wir den N. und die Litauerin dazu, die Autobahn Richtung Magdeburg, und fahren. Links von uns fahren lauter LKW’s Richtung Süden, aber meine Haare stehen nach wie vor auf Sturm. Das Unwetter scheint noch nicht vorbeigezogen, aber um den Wagen herum grasen friedlich die Kühe, andere Autofahrer fahren uns entgegen oder vorbei, und hinter den Scheiben der Wagen kann man jene Menschen sehen, von denen man sich schon in der S-Bahn fragt, wo man eigentlich hingeht, wenn man so aussieht. Und warum man nichts dagegen tut.
Kurz vor Hannover aber bestätigt sich das Haar-Orakel. Mit einem schier unglaublichen Tempo reißt der Fahrer das Steuer nach rechts, die Fliehkraft greift begeistert nach dem Wagen, und in der Ausfahrt auf einen Rastplatz dreht sich der Wagen zwei-, dreimal um die eigene Achse, bricht über den Kantstein, fegt einen halbrunden Betonpoller einige Meter weiter einem Smart entgegen, und bleibt kurz vor dessen Tür stehen. „Is‘ ni-nichts pa-pa-pa-passiert.“, wird der Insasse jenes Kleinstwagens später sagen. „Ha-ha-hab ja die Tür geschlossen. D-d-der Smart i-i-ist ja sicher.“ – Ob dieser leicht unförmige Herr, der den Innenraum dieses Wagens ausfüllt, eigentlich immer stottert oder nur unter dem Eindruck des Betonpollers die Sprache verloren hat, werde ich nicht mehr erfahren. Es geht weiter.
Immer noch aber beruhigt sich das Haarorakel in keiner Weise. Meine Haare stehen nach rechts und links ab, Strähnen stehen sogar nach oben, glaube ich, und der Tag ist noch lange nicht vorbei. Zur selben Stunde nämlich kippt einige Kilometer südlich, irgendwo bei Dortmund, ein LKW auf der Autobahn um und ergießt seine Fracht auf die Fahrbahn, es ist Gas, und wenn wir zu jener Stelle kommen, wird die Autobahn gesperrt sein. Komplett gesperrt.
Die Darstellung der nächsten Stunden, oh mein geschätzter Leser, verehrte Leserin, erspare ich Ihnen, und ich wünschte, dass es auch mir gelungen wäre, für vier Stunden und 12 Kilometer in einen beseligenden Tiefschlaf zu fallen. Die Stimmung im Innenraum des Wagens nimmt langsam eine leicht angestrengte Färbung an, die eher scherzhafte Garnitur der Konversation changiert ins leicht Düstere, denn immer später wird es, immer näher rückt der Lesungstermin, die mitgefahrene Dame muss nach Köln, und mir ist langweilig. Immerhin muss ich nicht auf Klo.
Richtig gegessen habe ich nichts, mein Buch geht langsam zur Neige, und nur die Tatsache, nicht mit mir sehr nahestehenden Personen unterwegs zu sein, hindert mich an grundlosen, aber bösartigen Ausbrüchen, wie Menschen wie ich sie in derlei Situationen ja gerne einmal produzieren. „Hättest du einmal auf uns gehört!“, zischelt es in meinen Haaren. „Jaja..“, flüstere ich zurück, aber nur ganz leise, damit die anderen Wageninsassen mich nicht für irre halten. Dann kommt die Ausfahrt. Und meine Haare sind immer noch nicht okay, und das zu recht, denn stundenlang werden wir durch das Bergische Land fahren, entlang der Straße schauen uns Passanten aus ihren Vorgärten ein wenig dumpf und ziemlich mürrisch entgegen, und alle Jugendliche von Volmarstein, denn so heißt der Ort, stehen an den örtlichen Bushaltestellen, und kaum verlassen wir Volmarstein, erscheint ein neues Ortsschild, auf dem wiederum Volmarstein steht, und für einen Moment befürchte ich ernsthaft, in eine jener irrationalen Schleifen geraten zu sein, in denen ein gewisser Sisyphos sich seit einiger Zeit aufzuhalten pflegt: Kaum ist man draußen, geht es wieder von vorne los.
Den widerlichen Imbiss mit dem schmierigen Cheeseburger erspare ich jetzt mir und Ihnen. Den Rest der Fahrt bis Bonn auch. Und die fünf Minuten, die ich gelesen habe, auch wenn es wirklich nett war nach vollender Ankunft.
Aber Samstag war ich beim Friseur und opferte dem Orakel ein paar schwarze Strähnen, um schlechte Vorzeichen für nächste Woche schon von vornherein vollkommen auszuschließen.
Hannover ist ja eigentlich für gar nichts bekannt – Altkanzler Schröder, die EXPO, und da hört es meistens eigentlich auch schon auf. Ich allerdings, die die Zeitläufte und das deutsche Ausbildungssystem weit herumgetrieben haben durch die Darmzotten dieser Republik, ich habe ganze zehn Monate meines Lebens in Hannover verbracht. Nett war’s an und für sich, reizend waren die Hannoveraner, und meine Wohnung in der Innenstadt war an und für sich eigentlich auch ganz angenehm. Drei Fenster aber gingen zur Straßenseite heraus, was kein Problem gewesen wäre, denn über der Fußgängerzone war an Lärm, so dachte ich beim Einzug, nicht viel auszustehen. Eines Tages aber nahte der Sommer, ich öffnete die Fenster, und die Straßencafés füllten sich mit biertrinkenden Gästen. Auch die biertrinkenden Gäste waren nicht problematisch, artig und gesittet saßen sie herum auf ihren Stühlen und prosteten mir freundlich zu auf dem Weg in meine Wohnung. Allabendlich aber zogen zwei Straßenmusikanten durch die Stadt, der eine trug eine Gitarre bei sich, und vor den Gästen der Cafés sangen und spielten sie, dass es eine Freude war für jene, die gelegentlich einmal ihr Bier in der Sonne tranken, damals, im Sommer 2001.
Ich aber, ich wohnte jeden Tag über den Straßencafés, und war ich einmal nicht daheim, so verfolgte mich der Gesang des Duos eben an anderen Orten, wo ich Gast war und nicht einfach Bewohner. Nach einigen Wochen fing der Gesang an, mir ärgerlich zu werden, nach noch mehr Wochen machte das Repertoire mich einigermaßen aggressiv, und am Ende des Sommers war ich drauf und dran, mich zu bewaffnen.
„Marina, Marina, Marina…“, schmetterte der singende Teil des Duos, und meine Gesichtshaut rötete sich, mein Puls beschleunigte sich, und am Ende zog ich weg.
Selten bin ich seither aufgetaucht in Hannover, denn auch die Freunde von damals haben die Stadt zum guten Teil verlassen. Ob auch die Freunde vor jenem Duo geflohen sind, weiß ich zwar nicht zu sagen, aber wenn am nächsten Samstag die beiden Sänger auftauchen sollten, dann kann ich für nichts garantieren.
Sie sind aber alle gern gesehen, solange sie nicht singen. Und es lesen Don Alphonso, Che und ich, moderiert vom Herrn Strappato.
Hannover bezaubern
Samstag, den 27.05.2006
19.00 Uhr
Im Kargah
Zur Bettfedernfabrik 1
30451 Hannover
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