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Es ist so schön an deinem Blut

Auf einmal, ohne ein Wort, ohne Anlass, falle ich aus der warmen Bar, und der Wind zieht mich durch das geschlossene Fenster weit über die Spree. Sehr klein, sehr weit unten, sehe ich mich in einem Sessel sitzen, rauchen, husten und über irgendetwas plaudern, bei dem ich nicht dabei sein muss. So kalt ist der Himmel heute nacht, und die Sterne bohren spitze Zacken in meine Haut, bis ein Schmerz aus den offenen Stellen quillt, von dem ich nicht will, dass es ihn gibt.

Hellwach inmitten der Schlaflosigkeit von Tagen, gekreuzigt an die schmutzige Kugel des Fernsehturms, hänge ich über der Stadt, und erst, als mein Nachbar mich an der Schulter berührt, rutsche ich wieder auf das braune Leder zurück, rauche und huste, bis sich mir der Magen zusammenkrampft, und ein Freund mir beruhigend die Hand auf den Arm legt und die Zigaretten wegschiebt.

„Trink erst mal was.“, bekomme ich ein Glas Wodka zugeschoben, und die scharfe, eisige Flüssigkeit fließt betäubend über die aufgerissene Haut. Weiter treibt mich die Strömung, von dieser Bar in die nächste, die Straßen entlang, immer weiter nach Osten, bloß nicht nach Haus, wo es ruhig ist am Ufer der Nacht, und eine blutige Sehnsucht schweigend auf den Schränken sitzt.

Meine Kontaktlinse und ich

Ich bin ja leider ein wenig grobmotorisch veranlagt, und so nimmt es nicht wunder, dass das, was anderen Menschen vermutlich selten oder sogar nie passiert, am Montagmorgen tatsächlich eintrat: Mit dem rechten Zeigefinger tauchte ich ein in den Napf, in dem ich acht Stunden vorher meine formstabile rechte Kontaktlinse versenkt hatte, stocherte ein wenig herum, und hielt sodann nur noch das Fragment einer Kontaktlinse in der Hand. Ein sauber herausgebrochenes Stück lag nach wie vor auf dem Grund des Aufbewahrungsbehälters, und ein wenig fassungslos rang ich vor meinem Badezimmerspiegel nach Luft. Sehen konnte ich mich dabei nicht: Bei – 8,25 Dioptrien ist die durch ein Waschbecken erzwungene Distanz zwischen mir und meinem Abbild nahezu unüberbrückbar.

In einem Nebel aus bunten, verschwommenen Flecken fand ich schließlich meine Brille. Mit der Brille auf der Nase stand ich meinem Spiegelbild gegenüber. Ausgesprochen unansehnlich schaute mein Spiegelbild zurück, und ich riss das Gestell wieder von meiner Nase, um Abhilfe zu schaffen. Mit zusammengekniffenen Augen identifizierte ich die Nummer meiner Augenärztin und rief an. Mittwoch, so sagte mir die Schwester, sei mit einer neuen Kontaktlinse zu rechnen.

„Aber was soll ich denn bis dahin machen?“, versuchte ich, die Fassung zu bewahren und überlegte, welche Verabredungen und sonstige Auswärtstermine gegebenenfalls abgesagt werden müssten. Mit Brille, soviel war klar, sollte mich keine lebende Seele zu Gesicht bekommen. „Sie können sich eine Tageslinse holen.“, riet die Schwester und legte auf. Ich stieg in die Dusche, kleidete mich an und verließ das Haus.

Außer Haus, auch soviel war klar, war indes mit Passanten zu rechnen, und so tappte ich annähernd blind die Schwedter Straße aufwärts zum nächsten Optiker. Bis dahin, so hatte ich mir ausgerechnet, würden meine Orientierungsfähigkeiten auch ohne ausreichende Sehschärfe reichen, und ich betrat also das Geschäft auf der Ecke zur Kastanienallee in der sicheren Zuversicht, in wenigen Minuten daheim die Tageslinse einsetzen zu können. Das isolierte Tragen nur einer Kontaktlinse hatte sich in einem nur wenige Minuten währenden Versuch nicht bewährt, und von einem Pflaster auf dem rechten Auge nahm ich schon aus Angst um meine Augenbrauen auf der Stelle Abstand.

„Wir verkaufen keine einzelnen Tageslinsen.“, beschied mich indes die Angestellte des Optikerfachgeschäfts. „Sie müssen schon die ganze Packung nehmen, wir können die Packung sonst nicht mehr verkaufen.“ – Entsetzt stand ich vor den in unscharfen Umrissen der Verkäuferin. „Dann geben sie mir eben eine ganze Packung.“, resignierte ich, und die Verkäuferin kramte ein wenig in Regalen herum, die ich nicht sehen konnte. „Ihre Stärke haben wir gar nicht. Sie müssen bis morgen warten.“ – Ohne Bestellung taumelte ich aus dem Laden, die Kastanienallee aufwärts, unüberfahren über mehrere Ampeln und ins nächste Optikergeschäft auf der Schönhauser Allee, ein Stück nördlich von der U-Bahnhaltestelle Eberswalder Straße.

Die Verkaufsbereitschaft bestand hier durchaus, allein, meine Stärke war auch hier nicht zu haben. „Sie sind aber auch besonders kurzsichtig.“, merkte die Verkäuferin an, und bot mir an, statt dessen eine Linse mit ungefähr zwei Dioptrien weniger zu erwerben. „Ich versuch’s nochmal woanders.“, verließ ich auch dieses Geschäft und wanderte die Schönhauser Allee immer weiter, bis ich vor einer Filiale der Optikerkette Fielmann stand.

„Ich schau mal nach.“, versprach die Verkäuferin, verschwand und kehrte Minuten später mit zwei Linsen zurück. Bezahlen, so die Frau, müsste ich die Linsen auch nicht. „Dankeschön!“, rief ich euphorisch und hätte die Verkäuferin um ein Haar umarmt, jedoch wäre auch dies angesichts des totalen Verlusts der Fähigkeit, die räumliche Distanz zwischen mir und Personen wie Gegenständen in meiner Umgebung halbwegs abzuschätzen, vermutlich fehlgegangen, und überdies wäre ein derartiges Verhalten wohl auch nicht angemessen gewesen, und so verließ ich das Geschäft mit den Linsen in der Tasche.

Daheim stellte ich mir wieder vor den Spiegel, zog die Packung auf, und erschrak: Eine riesengroße Linse, doppelt so groß wie alles, was ich mir bisher jemals ins Auge gesetzt hatte, schwamm in der klaren Flüssigkeit. Erst eine knappe Dreiviertelstunde später war es mir gelungen, die Linse einzusetzen.

„Sie müssen die Linsen abends auf jeden Fall wieder herausnehmen!“, hatte mich die nette Optikerfachverkäuferin ermahnt, und ein wenig mulmig wurde mir bei dem Gedanken, dass dies nicht so einfach werden würde, wie das Entfernen der harten Linsen, die ich mir allabendlich mit einer Art Saugnapf, nicht unähnlich jenen Geräten, mit denen man sperrige Gegenstände aus verstopften Toiletten entfernt, aus den Augen hole. Weiche Linsen, dies hatte man mir mitgeteilt, seien einem derartigen Verfahren nicht zugänglich.

Viele Stunden später sollten sich meine Bedenken fürchterlich bewahrheiten. Mit dem Zeigefinger kratzte ich ein wenig über das Auge, versuchte vergeblich, den Rand der Linse zu ertasten und schob die Fingerkuppe auf der Oberfläche meines Sehorgans hin und her. Nichts bewegte sich. Auch eine Google-Anfrage „Weiche Kontaktlinse entfernen“ löste das Problem nicht. Ratlos und rauchend saß ich auf dem Rand der Badewanne und dachte angestrengt nach. Schlafen, soviel war mir bewusst, durfte ich mit der Linse auf keinen Fall. Zwei Stunden später, so etwa kurz nach sieben, rief ich die J. an und appellierte an ihre Fachkompetenz.

„Also,“, kommandierte die unsanft aus dem Schlaf gerissene Freundin. „Du drückst ein bißchen aufs Auge und schiebst den Zeigefinger nach oben.“ – Ich tat wie mir geheißen. „Jetzt müsste sich die Kontaktlinse eigentlich ein bißchen wölben, und dann nimmst du sie einfach heraus.“ Nichts wölbte sich. „Dann versuch’s einfach nochmal, ja? Und lass mich bitte noch ein bißchen weiterschlafen, ich bin hundemüde. Und ruf an, wenn du sie um neun immer noch im Auge hast, dann komme ich vorbei.“

Um 8.38 Uhr warf ich die Tageslinse in den Abfalleimer und legte mich schlafen.

Es liegt gar nicht am Thunfisch

Auch sehr gerne höre ich ja den Gesprächen völlig Fremder an öffentlichen Orten zu, und insbesondere Restaurants oder Bars eignen sich ganz hervorragend, wirklich sonderbare Dinge über andere Menschen zu erfahren, die man nicht kennt. Im Ishin zum Beispiel, diesem wirklich ansprechenden Lokal nahe der Friedrichstraße, wo man mittags für wahnsinnig wenig Geld Unmengen Sushi essen kann, plazieren einen die Kellnerinnen schon aus Platzmangel ja immer ohne den üblichen Abstand von ein, zwei Stühlen neben fremde Leute.

„Guten Tag.“, und: „Da kommt noch jemand.“, sage ich also, und werfe meinen Mantel auf den Stuhl mir gegenüber. Cousin L. indes, von dem schlechte Menschen behaupten, er müsse mindestens ein Elfmonatskind gewesen sein, lässt wie üblich auf sich warten. Zu meiner Rechten sitzt sich ein Paar gegenüber, er ungefähr vierzig mit hängenden Wangen wie einer dieser englischen Hunde, die so fürchterlich sabbern, sie ein bißchen jünger und in einem jener fusseligen Kostüme mit großen Knöpfen, für die die Couturiers namhafter Modehäuser eines Tages für ziemlich viele Jahre in der Hölle braten werden. Neben ihrem Stuhl steht ein riesengroßes Kelly-Bag in einer Farbe, die nicht ganz Flieder und nicht ganz Pink genannt werden kann.

„Ich mag das nicht mehr essen.“, nörgelt meine Nachbarin an ihrem Menü herum, und schiebt ihrem Gegenüber die halbgefüllte Platte zu. „Lass dir doch nicht vom Thunfisch den Appetit verderben.“, gibt das Gegenüber zurück, und ich bedaure, die offenbar bereits vor meinem Eintreffen abgelaufene Diskussion über Thunfisch im Allgemeinen und insbesondere auf der Sushi-Platte der Kostümfrau verpasst zu haben. „Jetzt habe ich keinen Hunger mehr.“, quengelt die Frau weiter und wühlt ein bißchen in ihrer Tasche. „Es liegt gar nicht am Thunfisch, oder?“, fragt der Mann und schiebt sich ein Stück Futo-Maki in den Mund.

„Willst du Silvester wirklich mit ihr feiern?“, stößt die Kostümfrau auf einmal zu. Aha, denke ich. Kommen wir der Sache also einmal näher. – Der Mann stöhnt auf, lehnt sich zurück, und zuckt ein bißchen mit den Schultern. „Wir feiern doch schon Weihnachten zusammen.“, beschwichtigt der Mann und greift nach den Händen der Kostümfrau. Die zieht die Hände zurück, versteckt sie unter dem Tisch und mault ein bißchen weiter.

„Weihnachten oder Silvester, habe ich auch ihr gesagt.“, versucht sich der Mann aus der Bredouille zu reden, und die Frau verschränkt die Arme über der Brust. „Und was erzähle ich dann R. und K., wenn du nicht mitkommst?“, fragt die Kostümfrau und verzieht das Gesicht. „Dann erzählst du halt, dass ich woanders eingeladen bin.“, zieht der Mann die Schultern hoch, und wendet sich wieder seinem Essen zu.

„Das finde ich doch alles ganz schön belastend auf die Dauer.“, resümiert meine Nachbarin, und steht unvermittelt auf. „Jetzt sei doch nicht beleidigt.“, zischt der Mann die Frau an. „Mach’s gut.“, antwortet die, und ist schon durch den halben Laden.

„Da bist du ja!“, begrüße ich meinen Cousin und schiele zu dem nun allein essenden Mann hinüber. Wer ist nun die Frau und wer die Geliebte, überlege ich, und – wie hat es dieser Kerl überhaupt zu mehr als einer Frau gebracht?

Tief gebeugt über seine Platte, die Ellenbogen auf dem Tisch schiebt sich der fremde Mann sein Essen zwischen die hängenden Lefzen.

Der Germanist

Leni Riefenstahl hätte ihn sofort photographiert: Er war riesengroß, die blonden Haare fielen ihm weit ins Gesicht, er hatte Arme wie ein Bauarbeiter und unterrichtete ein bißchen Deutsch, weil zu viele Lehrerinnen schwanger waren. Auf der Stelle verliebte sich die Hälfte meiner Obertertia in den vielleicht dreißigjährigen Germanisten, und als die N. und ich ihn Monate später, längst war sein Gastspiel im Schuldienst beendet, nachts in der U-Bahn trafen, fiel die N. ihm emphatisch um den Hals, küsste ihn auf beide Wangen, und zog ihn an der übernächsten Station die Rolltreppe hoch und in die nächste Bar.

„Müsst ihr nicht nach Hause?“, fragte er, ein wenig überfordert von der strahlenden Forschheit der N., um die ich sie heiß und schweigend beneidete. Wir schüttelten stolz den Kopf, tranken Bellini, weil da der Alkohol nicht so auffällt, und die N. lehnte sich weit auf den Tisch, und plauderte so leichthin, wie ich es immer gern gekonnt hätte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, sprach kaum, und irgendwann hatte die N. genug und sprang auf. Sie werde jetzt noch irgendwen besuchen, erzählte sie, warf ein paar Münzen auf den Tisch, und verschwand.

„Sagen sie doch auch mal was.“, wandte er sich an mich. Ich stotterte ein wenig herum, beobachtete besorgt seine Miene, und wünschte mir, auf der Stelle unsichtbar zu werden oder wenigstens so wortgewandt und hemmungslos wie die N. „Ich will sie nicht langweilen.“, entschuldigte ich mich irgendwann, trank aus, und kündigte an, jetzt nach Hause zu fahren. „Nein, gar nicht. Gar nicht langweilig, wirklich nicht.“, stammelte er zurück, und brachte mich zur Bahn. In stummer Peinlichkeit schritten wir dem U-Bahnaufgang zu, und die ganze Last meiner kommunikativen Unfähigkeit lag schwer auf meinen Schultern. Erwachsensein, wusste ich, würde anstrengend werden. „Sie sind gut in Deutsch.“, unterbrach er das Schweigen nach Minuten, fragte nach aktueller Lektüre, und ich brachte meinen ersten ganzen Satz des Abends über die Lippen – es ging, glaube ich, ausgerechnet um C. F. Meyer.

Ich las unglaublich viel in jenen Jahren der Mittelstufe, mehr als irgendwann später in meinem Leben, und das Bewusstsein des durchaus eskapistischen Charakters dieser Exzessivlektüre bewirkte, dass mir sowohl Umfang als auch Auswahl ein klein wenig peinlich waren. Die Person, die ich gern gewesen wäre, ähnlich der N. etwa oder meiner kleinen Schwester, hatte es schlichtweg nicht nötig, dermaßen viel zu lesen, und in einem im Nachhinein wohl ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuch der Anpassung an ein ersehntes Ideal hielt ich meistens einfach den Mund.

Der Germanist allerdings taute auf im Rahmen der Konversation, wurde lebhaft, begeistert, erwähnte andere Bücher, mehr Bücher, versprach, Bücher zu verleihen, und betrat, auf der Suche nach Stift und Zettel, um Titel aufzuschreiben, eine nächste Bar, in der wir sitzenblieben, bis der Bartender die verspiegelte Theke wischte. Es war so ungefähr drei, die Nacht hing nass und dunkel in den Bäumen, und die letzte Bahn war weg.

„Ich rufe meinen Vater an, der holt mich.“, lag es mir auf der Zunge. Tatsächlich hatte mein Vater mir den Schwur abgenommen, ihn jederzeit und ohne Zurückhaltung aus dem Bett zu holen, wenn ich nicht wüsste, wie sonst nach Hause zu gelangen wäre, oder wenigstens ein Taxi zu nehmen, das er bezahlen würde, egal wieviel, von wo und wann. Die Angst vor einer verunglückten, verschleppten oder sonstwie toten Tochter überwog offenbar jegliche Sparsamkeit wie auch das Interesse an ungestörter Nachtruhe. – „Du kannst auch auf meiner Couch schlafen.“, bot der Germanist an, und ich hielt den Mund und nickte.

Bis in die Morgenstunden saß der Germanist auf dem Rand seiner Schlafcouch, las vor, zog Bücher aus dem Regal, sprach über andere Bücher, und kochte irrsinnige Mengen aromatisierten Tee, über den die N. am Montag drauf spotten würde. „Was für ein Langweiler!“, würde sie lachen. „Hast du ihn wenigstens geküsst?“, würde sie fragen, und ich würde den Kopf schütteln, obwohl das gelogen war, und ich selber nicht wusste, warum.

Zwei interessante Versuche, Nietzsche zu heilen

Nicht nur der gebildeten Welt ist der Zusammenbruch Friedrich Nietzsches 1889 in Turin ein Begriff, als der Prophet des vital ausschreitenden, mitleidlos überlegenen Heros mitten in der Stadt von Mitgefühl für die geschundene Kreatur übermannt wurde, und auf der Stelle einen Droschkengaul umarmte. Kann man also mit einigem Recht behaupten, dass das Misstrauen Nietzsches gegenüber dem Mitleid zumindest in seinem besonderen Fall einige Berechtigung besaß – verschwand der Genannte doch nach diesem Vorfall bis zu seinem Tode in Sphären des Wahnsinns, die man sich doch als einigermaßen unangenehm vorstellt – so ist es auf der anderen Seite auch nicht von der Hand zu weisen, dass angesichts der offenbar überwältigenden Macht des Mitleids für die gequälte Kreatur auch Widersacher Schopenhauer irgendwie recht behalten haben dürfte; indes verstehe ich nicht viel von diesen Dingen, über die sich Berufenere äußern mögen und es zweifellos auch tun.

Weniger bekannt als der Zusammenbruch des Philosophen und sein anschließender Aufenthalt in einschlägigen Klinika – und sodann in der Obhut von Mutter und Schwester – sind indes zwei sehr interessante Versuche, den Philosophen von seiner Geisteskrankheit zu heilen, über deren Natur, wie man weiß, die Wissenschaft, bis heute uneinig ist, und gerade vor diesem Hintergrund mag man es als äußerst bedauerlich bezeichnen, dass keiner der beiden Versuche über das Stadium allgemeiner Planung hinausging.

Gespräche mit Herrn Langbehn

Julius Langbehn erfreut sich vor dem Hintergrund einer seit der letzten Jahrhundertwende doch deutlich gesunkenen Hochachtung vor der deutschen Nation als Quell einer erdhaften, ebenso gesunden wie ursprünglichen Erlösung von den Übeln der Moderne selbst in Fachkreisen ja keiner besonderen Beliebtheit mehr. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms jedoch, irgendwann in den Neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, waren große Teile der deutschen Bevölkerung überzeugt von den Thesen des Verfassers von „Rembrandt als Erzieher“, die Rettung der Deutschen sei allein aus einer Rückbesinnung auf die kerngesunde Vergangenheit zu schöpfen, in der die derbe, kräftige und aufrichtige Natur der Deutschen noch ungebrochen durch spätere Einflüsse bestanden habe, und inmitten von überfeinerter Dekadenz seien die auf diese Weise genesenen Deutschen dazu bestimmt, mindestens über Europa zu herrschen.

Wie auch immer, die deutsche Nation fühlte sich verstanden, und möglicherweise hätte nach dem Erscheinen des Werkes, dem Herrn Langbehn seinen – wenn auch zeitlichen – Ruhm verdanken sollte, Nietzsches Mutter sich dem Anerbieten Langbehns nicht in der selben Weise verschlossen, wie dies der Fall war, als kurze Zeit nach der Erkrankung und eben noch vor Erscheinen des Rembrandtbuches, Langbehn anreiste und sich an sie wandte mit dem Ansinnen, ihm die Vormundschaft für den Kranken zu übertragen. Er werde ihn durch Gespräche heilen. In Anbetracht der Tatsache, dass sich bereits der gesunde Nietzsche einer Annäherung seines Bewunderers Langbehn widersetzt hatte, sicherlich nicht gerade die naheliegendste Idee, und so schob der Theologe Franz Overbeck weiteren Vorstößen Langbehns entsprechend einen energischen Riegel vor, so dass es Langbehn nicht gelang, die Heilkraft seiner Konversation über die Gesundung der Moderne durch die Kraft der Nation an Friedrich Nietzsche auszuprobieren.

Alfred Schulers korybantische Tänze

Ob der 1923 verstorbene Münchener Kosmiker Alfred Schuler den Vorstellungen des letztgenannten Herrn an eine kerngesunde deutsche Persönlichkeit voll und ganz entsprochen hätte, darf man insgesamt wohl als durchaus zweifelhaft beurteilen. Der Münchener Privatgelehrte, der 1899 bis 1904 mit Ludwig Klages, Karl Wolfskehl, Ludwig Derleth und Stefan George selbst den Kern des Münchener Kosmiker-Kreises bildete, war der Vergangenheit zwar nicht abgeneigt, hielt sich jedoch nicht für einen „Rembrandt-Deutschen“, sondern für die Reinkarnation eines antiken Römers, und war offenbar auch in der Lage, diese Annahme auch einem größeren Publikum im Rahmen von Vorträgen gegenüber glaubhaft zu machen. Die ebenso opulente wie blutrünstige Gedankenwelt jenes Herrn, der die Rettung der Menschheit durch wenige Auserwählte erwartete, denen ein besonderes Fluidum – die Blutleuchte eben – zu eigen sei, verdient allerdings eine eigene Darstellung, die an dieser Stelle weder geleistet werden kann noch soll, und so ist Ihnen, geschätzter Leser, nur zu raten, sich selber den 1940 von Ludwig Klages herausgegebenen Nachlass zu besorgen, und mit dem Werk jenes Herrn einige ebenso irritierende wie angenehme Stunden zu verbringen.

Die ursprüngliche, durch keine moderne Verwässerung von den Quellen vitaler Kraft hinweggespülte Grausamkeit, die als eines der Hauptmerkmale der Blutleuchte eine prominente Rolle im Denkgebäude dieses Herrn spielt, sollte auch bei der Heilung des umnachteten Nietzsche zum Einsatz kommen. Zwar war nicht daran gedacht, den geisteskranken Philosophen selber zu misshandeln, vielmehr sollte der reine Anblick von Grausamkeit und Leiden eine Katalyse herbeiführen. Welche Form diese Grausamkeiten annehmen sollten, hat Schuler leider nicht ausgeführt. Es ist allerdings anzunehmen, dass die nur mit Kupferschilden bekleideten Jünglinge, die um Nietzsches Krankenlager tanzen sollten, bei der Darstellung des Leidens eine wie auch immer geartete Rolle spielen sollten. Geplant war zudem eine Mitwirkung Kaiserin Elisabeth von Österreichs, die sich der Heilung Nietzsches indes schweigend entzog.

Schon mangels finanzieller Mittel zum Ankauf der Kupferschilde kam die in mehreren Briefen geäußerte Idee Schulers allerdings nie zum Einsatz, so dass Friedrich Nietzsche im Jahre 1900 nach mehreren Schlaganfällen ungeheilt verstarb.

Wenn er kommt

„Da bist du ja.“, werde ich ihn begrüßen, und er wird an meinem Bett sitzen, an dem hoffentlich keine Schläuche hängen, weil ich Angst habe vor Krankenhäusern. Müde wird er aussehen, und sogar etwas heruntergekommen in einem fadenscheinigen Anzug, und für einen Moment wird es still sein im Raum. „Warum kommst du erst jetzt?“, werde ich ihn fragen, und die tiefen Falten in seinem Gesicht mit dem Zeigefinger nachzeichnen.

„Ich war immer bei dir.“, wird er sagen, und mir die Hand auf die Stirn legen. Damals, mit 17, wird er mich erinnern, einen ganzen Sommer lang, im Weißdorn am Ferienhaus der Eltern des B. am Meer, das B.²‘s Vater seiner Mutter überlassen hatte bei der Scheidung, und das diese nicht mehr betrat bis zum Verkauf Monate später. Wir tranken alles, was da war, einen ganzen Weinkeller, der völlig verschwendet war an uns, die genausogut hektoliterweise Bier hätten trinken können oder Obstwein oder so, und fuhren nachts im Dunklen auf Motorrädern und ohne Licht immer ums Haus und kreuz und quer über die Insel. Rein gar nichts konnte man sehen. Mit geschlossenen Augen riss ich an der Gabel, und hätte mich nur umdrehen müssen nach ihm, so schnell wäre das gegangen, und nach seiner Hand greifen.

„Du wolltest mich ja nicht.“, wird er lächeln.

Von den langen Nächten wird er erzählen, in denen er im Waffenschrank saß, und uns zuhörte, wie wir über ihn sprachen, und ihn mit fließender Seide bekleideten, behängt mit Gold und lauter funkelnden roten Steinen. Von festen Händen, die zugreifen hätten können, und einer Verabredung, zu der ich nicht ging. „Solange haben wir auf dich gewartet.“, wird er erzählen von diesem Abend, an dem ich nicht kam, und jemanden nie wieder sah, meine Sachen packte statt dessen, um fortzuziehen, und ein Lachen nur noch nachts zu hören, wenn die Wände dünn werden im Mondlicht.

„Ich habe dich gesehen.“, werde ich sagen, und er wird den Kopf schütteln und lachen. „Du doch nicht, meine Liebe.“, wird er antworten, und seine Schuhe ausziehen. Mit angezogenen Beinen wird er neben mir auf der Matratze sitzen, und vielleicht lege ich meinen Kopf in seinen Schoß. „Gut siehst du aus.“, werde ich lügen, und er wird sich amüsieren über mich.

„Das hättest du anders haben können.“, flüstert er mir dann zu, und ich schließe die Augen. Von der Nacht in Schweden wird er sprechen, als wir so müde waren vom Streiten, und uns an der Kante des flaches Daches schlafen legten, sechs Meter hoch, und im Einschlafen überlegten, um wen es mehr schade wäre, und er im Garten stand, neben dem Zaun, und mir zusah.

„Sei jetzt ruhig.“, werde ich sagen, und die anderen Geschichten nicht mehr hören wollen, und er wird den Arm um mich legen, und ich schlafe ein an seiner Schulter.

The Art of Smoking

Am Morgen spüre ich die Umrisse meiner Lunge, die laut und langgezogen pfeift, zeichne mit geschlossenen Augen mit dem Zeigefinger auf dem Brustkorb die Konturen der Lungenflügel nach und denke daran, für ein paar Tage die Aschenbecher wegzustellen und einfach keine Zigaretten mehr zu kaufen wie damals, 1999, schon gegen Ende des Studiums, als ich eines Morgens in die Küche kam, in der H. im kalten Rauch zwischen den Aschenbechern und den leeren Flaschen saß und ich fast ausgezogen wäre vor lauter Tristesse. „Willst du nicht wieder anfangen?“, fragte indes nicht nur der H. noch vor Ablauf der ersten Woche, und die Kollegen am Lehrstuhl, an dem ich als studentische Hilfskraft herumsaß, sehnten sich stündlich nach der Erlösung von meiner bombastisch miesen Laune. Auf dem Geburtstag der C.² saß ich wieder in ihrem Rattansessel, zog an einer Gauloises, und alles war umsonst gewesen.

Eine Gauloises war auch meine erste Zigarette gewesen, dreizehnjährig fast täglich zu Besuch bei der N., in deren Elternhaus einfach alles erlaubt war, und die Zigarettenschachteln der ungefähr fünf Erwachsenen für alle acht Kinder frei zugänglich einfach überall lagen, und der Liebhaber ihrer Mutter die N. und mich auf der Schaukel im Garten rauchend photographierte, um die Photos im Korridor seiner Praxis aufzuhängen.

Zu den Gauloises, den blauen mit Filter, sollte ich wieder zurückkehren für ein paar Jahre, irgendwann in der zweiten Hälfte der Neunziger, nach Experimenten mit Dunhill Menthol, deren Schachtel wunderschön war und aussah wie ein rechteckiges, flaches Fabergé-Ei, nach ein oder zwei Jahren mit Marlboro Lights in der weiß-goldenen Schachtel, die irgendwie sauber wirkten, und von denen man sich nicht hätte vorstellen können, dass sie in irgendeinem Zusammenhang standen mit dem Dunst aus kalter Asche und den Unisex-Parfums der Neunziger am nächsten Tag.

Im Gemeinschaftsbüro der Referendare war ich die einzige Raucherin, und rauchte den ganzen Tag. Schicksalsergeben saßen meine beiden nichtrauchenden Kollegen mir in einem Schleier aus grauen Schwaden gegenüber und liefen zweimal täglich ins Untergeschoss, um Nachschub zu holen, weil ich den Zigarettenhändler nicht ausstehen konnte. Alle Anwälte, stellte ich fest, rauchten die Gauloises in der roten Schachtel, und ich wechselte unverzüglich die Marke und rauchte jahrelang P&S in der mintgrünen, weichen Packung, in der die letzte Zigarette regelmäßig knickte und brach.

All die Rituale des Rauchens, die das Aufhören, wenn ich es denn wollte, erschweren würde: Die erste Zigarette im Morgenlicht auf dem Balkon. Die Nächte, verlangsamte, müde Gespräche mit dem Aschenbecher auf dem Bauch, und den Rauchwolken, die unter der Decke unscharf werden und verschwimmen. Die Zigarette an der Bar, die letzten Zigaretten auf dem Flughafen und all die Asche, deren Flocken am Morgen auf den Tischen liegen, war der letzte Abend lang.

Und am Ende nachts auf dem Balkon zu stehen und zuzusehen, wie sich der ganze Tag, die Unrast und die Müdigkeit in Rauch auflösen, und die Welt lautlos verbrennt.

Aus dem Leben eines Miststücks

„Von mir hat sie das nicht.“, berichtet meine liebe Freundin J., pflege ihre Mutter ihrem Vater vorzuwerfen, wenn das Verhalten der J. von der mütterlichen Idealvorstellung töchterlichen Lebens wieder einmal erkennbar abgewichen sei, und verweise in diesen Fällen jeweils auf die jüngste Schwester des Vaters, J.‘s Tante R.. „Und was war mit der Dame?“, frage ich nach, und gieße mir einen weiteren Tee ein.

Die R. erfahre ich, sei als jüngste Schwester ihres Vaters bereits in jungen Jahren für ungefähr die Hälfte aller behandlungsbedürftigen Psychosen männlicher Patienten in den einschlägigen Leipziger Klinika der Fünfziger Jahre verantwortlich gewesen. Reihenweise verfielen jugendliche Sachsen der schönen Person, strichen wochenlang ums Haus, wurden nur so zum Spaß ein wenig ermuntert, um dann nach kurzer Zeit scheinbarer Annäherung aus dem Dunstkreis der R. verstoßen zu werden. Die Abschaffung des jeweiligen Galans, erzählt man sich in der Sippe der J., sei jedesmal mit einiger Phantasie und gehörigem dramatischen Talent verlaufen, und habe seine destruktive Wirkung auf die Psyche der Anbeter auch eigentlich selten verfehlt.

Kurz vor Ablauf jener Jahre, bis zu deren Ende eine junge Person in jenen Zeiten verheiratet zu sein hatte, erhörte die R. dann doch noch einen Kommilitonen ihres Bruders und setzte ihr Tun und Treiben ansonsten fort. Schreckliche Ernte, erzählt man sich auf Familientreffen, hielt die R. unter der männlichen Leipziger Bevölkerung, insbesondere unter jenen Herren, die sich der Wissenschaft oder der Kunst widmeten.

Tante R., berichtet die J. weiter, sei Männern zwar lebenslänglich außerordentlich zugetan gewesen, habe aber dafür Frauen in Bausch und Bogen nicht ausstehen können. Dass die Mutter der J. als Frau des großen Bruders auf wenig Gegenliebe stoßen würde, war schon aufgrund dieses Faktums nicht besonders verwunderlich, und endete bei den zunehmend spärlicher werdenden Familientreffen jener Jahre regelmäßig in lautstarken Zwistigkeiten, die die Tante, wenn auch wohl als einzige, sichtlich zu genießen schien.

Die Abneigung der Tante R. gegen Frauen erstreckte sich sogar auf die eigenen Leibesfrüchte. So sehr ihr Sohn verzogen wurde, so schlecht habe sie die Tochter behandelt, und diese frühzeitig erst immer mehr, und schließlich ganz der eigenen Mutter überlassen, die an der Tante R. als erklärtem Lieblingskind ohnehin kein falsches Haar zu erkennen in der Lage gewesen sei. Die Vergötterung der Tante R. durch die Großmutter der J. sei so weit gegangen, dass es dieser in späteren Jahren gelungen sei, auf verschlungenen, und nicht ganz aufklärbaren Wegen – möglich sei in diesem sehr speziellen Fall auch die Verbreitung barer Unwahrheiten – als Alleinerbin eingesetzt zu werden.

Als sich die Mutter der Tante R. schließlich im Krankenhaus befand, und von der Krankheit zum Tode auszugehen gewesen sei, habe sich Tante R., erzählt die J. weiter, unverzüglich zum elterlichen Heim begeben, und Schmuck, Silber und Wertgegenstände an sich gerafft. Das Leben habe sich jedoch auch in diesem Fall als eine durchaus zähe Pflanze erwiesen, und so sei die Mutter noch einmal zurückgekehrt. Da den Versicherungen der Tante R., J.‘s Vater sei aus Berlin angereist gekommen, habe ihr gewaltsam den Schlüssel entwendet und sodann aus Ärger über die Enterbung alle wertvollen Besitztümer mit sich genommen, Glauben geschenkt wurde, durfte J.‘ Vater nicht zur kurze Zeit später stattfindenden Beerdigung der Mutter erscheinen und habe dies seiner Schwester dann auch einige Zeit ein wenig übel genommen.

Ein gewisses Gefühl habe bei dieser – und nur bei dieser – Gelegenheit die Tante R. indes, wenn auch auf sonderbare und etwas abseitige Weise, erkennen lassen. Sie habe das mütterliche Haus nämlich weder vermietet noch verkauft, nicht einmal hineingangen sei sie, sondern habe die Liegenschaft in guter Leipziger Lage schlicht abgeschlossen, und die Schlüssel mit sich genommen. Seit mehr als zwanzig Jahren, versichert die J., habe keine lebende Seele dieses Haus mehr betreten, und auch der Tod der Tante R. selber habe diesen Zustand nicht verändert. Der hinterbliebene Gatte der Tante R. nämlich halte sich nach wie vor an die Anordnungen seiner lange verstorbenen Gattin, und so lägen die Schlüssel nach wie vor im Haushalt dieses inzwischen steinalten Herrn.

Dessen Zuneigung zu seiner Frau habe nicht einmal die Tatsache Abbruch getan, dass die Tante R. sich mit der Anordnung bestatten ließ, nicht nur an der Seite ihrer Mutter zu ruhen, sondern dies auch ohne ihren Gatten zu tun, der sich bitteschön an anderer Stelle beerdigen lassen solle.

„Ist ja phänomenal.“, staune ich. „Und was erinnert deine Mutter an der Dame nun ganz genau an dich?“- „Trau ich mich nicht nachzufragen.“, beendet die J. ihre Erzählung und wenig später das Gespräch.

Autofahren

Das Auto mit dem Verkaufsangebot in der Beifahrertür war wirklich schön: Ein alter, dunkelblauer Saab, gut erhalten, sichtlich gepflegt, und zu einem Preis, der sogar annähernd berufslosen Personen den Erwerb nicht völlig abwegig erscheinen lässt. Auf dem Bürgersteig vor dem Wagen tippte ich die angegebene Telephonnummer schnell ins Handy und ging weiter Richtung Markt.

„Was willst du mit einem Auto?“, fragt mit dem unverkennbaren Unterton einer heftigen Irritation der geschätzte ehemalige Gefährte einige Stunden später nach. „Nur so zum Rumfahren.“, beschreibe ich meine Pläne, male Ostseewochenenden aus, und spreche von ersparten Aufwendungen für Taxifahrten in entlegene Stadtteile. „Du hast nicht mal einen Führerschein.“, protestiert der J. weiter gegen den Kauf des Fahrzeugs. „Na und?“, widerspreche ich, und lege meine Pläne zum völlig legalen Erwerb einer Fahrberechtigung im osteuropäischen Ausland ausführlich dar. Am anderen Ende der Leitung stöhnt der geschätzte ehemalige Gefährte einige Male ebenso schmerz- wie geräuschvoll in den Hörer.

Einen Führerschein, so weit war dem geschätzten ehemaligen Gefährten zuzugeben, hatte ich tatsächlich nie besessen. Einige Zeit vor meinem 18. Geburtstag hatte ich zwar tatsächlich mit der Absicht, einen Führerschein zu erwerben, eine Fahrschule aufgesucht, und es lag nicht an mir, dass aus diesen Plänen lange vor der avisierten Fahrprüfung nichts werden sollte.

Als entschiedene Anhängerin der Vorzüge der Theorie gegenüber der Praxis, verliefen die ersten Theoriestunden noch halbwegs friedlich, und auch die erste Fahrstunde gab zu wenig Ärger Anlass, zumal der rein technische Vorgang des Autofahrens mir nicht völlig unbekannt war. Dass der fließende Verkehr zu Problemen mit meiner ausgeprägten Links-Rechts-Schwäche führen würde, war gleichfalls zumindest für mich nicht wirklich erstaunlich, der Fahrlehrer jedoch, bar jeder heiteren Gelassenheit, die solchen Personen eigentlich zu eigen sein sollte, fuhr den Wagen nach einigen Minuten rechts auf einen Parkstreifen und brüllte mich an. Mit geschwellten Adern, rot wie ein roher Schinken, und generell von jener teigig-pickeligen Beschaffenheit, die ehemalige Unteroffiziere auszeichnet, die nach ihrem Ausscheiden aus der Bundeswehr ihre Abfindung in eine Fahrschule investieren, bramarbassierte die erbärmliche Existenz auf dem Fahrlehrersitz irgendetwas, in dem in auch aussprachetechnisch eher ungepflegtem Deutsch eine ungewöhnliche Konzentration von Kraftausdrücken meine keimenden Fahrkünste diffamierte. Mundgeruch und Speichel ergossen sich über mein Gesicht, und ich stieg aus, um zu Fuß nach Hause zu gehen. Nie wieder, schwor ich mir, würde ich jene Fahrschule betreten, und einen Führerschein bräuchte ich gleichfalls eigentlich überhaupt nicht. Mein Vater, der einer autofahrenden Tochter ohnehin mit einiger Sorge entgegensah, bestärkte mich in diesem Glauben, und versprach ständige Fahrbereitschaft.

Zehn Jahre lang trat die Versuchung nicht an mich heran, und der Daueraufenthalt in großen Städten löste das Fortbewegungsproblem, ohne dass es überhaupt in nennenswerter Weise in meinen Fokus geraten wäre. War doch einmal ein Kraftfahrzeug zu bewegen, so stand der jeweilige Gefährte, jeweils Inhaber von Fahrberechtigung wie Fahrzeug, hilfreich zur Seite.

„Ich kann dich auch weiterhin fahren.“, verspricht der geschätzte ehemalige Gefährte, und verweist auf kurze Distanzen und die seltenen Gelegenheiten, in denen der Besitz eines Autos erforderlich sei. „Ich stelle mir ein eigenes Auto aber irgendwie netter vor.“, maule ich ein bißchen weiter. „Und wenn du einen Führerschein machst, dann bitte auch in Berlin.“, bohrt der J. „Auf keinen Fall!“, rege ich mich auf und stelle mir mit Grauen die Berliner Version des widerlichen Fahrlehrers vor.

„Wenn du dir einen tschechischen Führerschein kaufst und Auto fährst,“, kündigt der J. an, „dann rufe ich deinen Vater an.“ – Elende Petze, ekelhaftes Miststück.“, beschimpfe ich den Herrn, welcher den Status des Exfreundes, wie mir auf einmal wieder überdeutlich vor Augen steht, ja nicht ganz grundlos erlangt hat, und lege empört auf.

Die Keratinkatastrophe

Irgendwann im Sommer verabschiedete sich mein Friseur eines Tages mit fast übertriebener Förmlichkeit von mir und ging zum Theater. „Dann alles Gute.“, drückte ich den unvergleichlichen, wunderschön tätowierten Meister meiner Haare ein letztes Mal ans Herz, und begab mich beim nächsten Friseurbesuch unter das Messer eines anderen Herrn. Als ich heimkam, waren die Haare…. nun ja, irgendwie schief.

„Findest du nicht, dass meine Haare irgendwie schief liegen?“, wandte ich mich an den J. „Warte mal ab, bis du sie selber nochmal gewaschen und geföhnt hast, dann sieht das schon ganz anders aus.“, tröstete der; am nächsten Morgen allein war keine wesentliche Besserung zu verzeichnen. Drei Wochen später ging ich wieder zum Friseur.

„Irgendwas stimmt nicht.“, sagte ich zur C., die meine Frisur längere Zeit von vorn und hinten aufmerksam beobachtete. „Unsinn. Du siehst gut aus.“, wehrte die unentbehrliche Freundin ab, ich aber begann, in jeden Spiegel an den Wegen meines Daseins überaus kritische Blicke zu werfen. – Wenn diese Strähne irgendwie mehr nach vorn fallen würde, dachte ich etwa. Oder: Wäre gut, wenn die Haare auf dem Oberkopf nicht ganz so buschig wären. Oder so ähnlich. Auch ein erneuter Friseurbesuch, und dann noch einer, brachten keine wesentliche Verbesserung der Gesamtsituation mit sich. Auf meinem Kopf hatte sich ein schwarzes, struppiges Problem zu wuchern entschlossen, und die Friseure Berlins scheiterten reihenweise an der Widerspenstigen Zähmung.

„Kannst du mal aufhören, die ganze Zeit in deinen Haaren herumzuwühlen?“, fuhr der J. mich schließlich, Freitag nachmittag war’s, an. Mein Spiegelbild über dem Kaffeehaustisch schaute bei diesen Worten etwas unglücklich und ausnehmend schlecht frisiert auf J. und mich herab, und ich widerstand nur knapp und nicht besonders lange der Versuchung, die Haare am Hinterkopf ein bißchen zur Seite zur schieben, einzelne Strähnen ein wenig einerseits in, andererseits aus der Stirn….und so weiter.

„Ich geh‘ morgen zum Friseur.“, kündigte ich dem J. an. „Blödsinn.“, wehrte der ab. „Du hast sie einfach nicht mehr alle. Du warst doch gerade erst beim Friseur. Deine Haare sind gut.“ – Hast du eine Ahnung, schaute ich dem J. fest in die schwarze Lockenpracht, die glänzend und durch und durch unproblematisch des verehrten Exfreundes Haupt verziert.

Ach, dachte ich aber schon knappe zwanzig Stunden später am Samstagvormittag, und beschloss, dem geschätzten ehemaligen Gefährten zukünftig doch mehr Gehör zu schenken, als dies gewöhnlich der Fall war und ist. Im Spiegel sprang ein mir unbekannter, aber teuflischer Friseur hinter meinem Kopf begeistert hin und her, auf dem Boden lagen kiloweise Haare, die in einem wahren Paroxysmus des Haareschneidens binnen weniger Minuten zu Boden gefallen waren. Auf meinem Kopf dagegen befanden und befinden sich der Haare nur noch wenige, die zudem sehr, sehr sonderbar fallen.

„Meinst du nicht, das ist ein bißchen kurz?“, stammelte ich schockiert dem Friseur vor. „Süße, du siehst super aus.“, verteidigte das Böse sein Werk, und knetete Unmengen Wachs in die traurigen Relikte auf meinem Kopf. Gesenkten Hauptes verließ ich sodann das Golgatha meiner Frisur, und klagte dem geschätzten ehemaligen Gefährten telephonisch mein Leid. „Wart doch erstmal ab, wie es aussieht, wenn du die Haare selber und geföhnt gewaschen hast.“, flüchtete dieser in die billigen Tröstungen derer, die keine Probleme auf dem Kopf haben, und ich wandte mich an die C.

„Ich gehe heute nicht mehr raus. Ich habe jetzt schlechte Laune“, nörgelte ich der C. vor. „Schwachsinn. Soweit kommt´s noch.“, bügelte die C. mich ab, und befahl mein Erscheinen auf den meergrünen Polstern des „Visite ma tente“. Unglücklich und schlechtgelaunt hielt ich mich zwanzig Minuten später an meinem Weinglas fest, spiegelte mich in den Scheiben, und fragte jeden, jeden, ob Herr oder Dame, nach meiner Frisur. – „Können wir vielleicht demnächst wieder über etwas anderes sprechen?“, fragte der J. ungefähr am Dienstag einmal nach und verwies auf sein herannahendes zweites juristisches Staatsexamen.

„Wenn sie wieder nachgewachsen sind.“, ächzte ich durch den Hörer und legte auf.