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Alleine Verreisen

„Hast du jemals daran gedacht, deine Flüge selbst zu buchen?“, fragt der T. und öffnet eine Menge Fenster des Browsers gleichzeitig und wirft prüfende Blicke auf Abflugzeiten und Preise. „Reicht doch, wenn du das kannst!“, sage ich, bestreiche dicke Scheiben Bauernbrot mit sehr viel gesalzener Butter, Roastbeef und raspele Kren in großen Spänen drüber. „Ich weiß nicht, wie du das um diese Uhrzeit essen kannst.“, schüttelt es den T., der ein eigens für ihn angeschafftes Croissant aus der Backstube des Sowohlalsauch verzehrt, und nach eingehender, ziemlich kompliziert wirkender Suche einen Flug von München nach Hamburg vorschlägt, der € 73,– kosten soll und achtzig Minuten dauert. „Hört sich gut an.“, sage ich, und krame in den Papierbergen auf dem Schreibtisch nach meiner Kreditkarte.

„Ich hoffe, du bekommst das alleine hin, das richtige Gate zu finden, und rechtzeitig da zu sein.“, sorgt sich der T., dessen Bild meiner Person deutlich unselbständiger zu sein scheint, als es der Realität entspricht. Zwischen zwei großen Stücken Mondseer Käse zähle ich dem T. alle unbegleiteten Flüge meines Lebens vor, weise auf eine eindrucksvolle Karriere als unaccompanied minor hin, zähle alle beruflich bedingten Flüge großzügig mit, und komme so insgesamt auf zwölf Flüge ohne hilfreichen Begleiter zu meiner Seite. Verpasst, so fahre ich fort, habe ich in all den Jahren einen einzigen Flug im Januar 2004 von Berlin nach Wien, bei dem eine allzu flüchtige Durchsicht der Reiseunterlagen eine Verwechslung von Abflug- und Ankunftsdatum hervorgerufen hat. Bezeichnenderweise war ich bei diesem Flug noch nicht einmal allein.

Ich sei, erinnert der T., aber bei so gut wie allen unbegleiteten Reisen zumindest hingebracht oder abgeholt worden und meistens sowohl bis zum Gate geführt, und unmittelbar nach der Gepäckausgabe wieder eingesammelt worden. Dass meine persönliche Fähigkeit zur Orientierung in unbekannten Gefilden nicht allzu gut entwickelt sei, sei doch schon allein der Tatsache anzusehen, dass ich noch nie allein in Urlaub gefahren sei, noch nicht einmal für zwei oder drei Tage. „Völlig anderes Thema.“, zische ich den T. an, und führe aus, dass seit Erreichen des elternlos reisefähigen Alters bis zur Trennung vom geschätzten ehemaligen Gefährten stets ein sozusagen natürlicher Reisebegleiter zur Verfügung stand. Überdies könne eine Reise mit dem J. als eigentlich unbegleitet gezählt werden, denn die Orientierungslosigkeit jenes Herrn ist in weiten Kreisen der Hauptstadt geradezu legendär.

„Wofür hältst du mich eigentlich?“, frage ich daher den T., und rufe auf einer der vielen Homepages, die gerade offen sind, verschiedene Flugangebote auf. Startort: Berlin. Zielort: Moskau. „Du spinnst doch.“, sagt der T. und erinnert überdies an eine zeitgleiche Kurzreise mit der C. und der J. nach Ungarn. „Ach ja.“, sage ich, und klicke weiter. Mit der Deutschen BA nach Tiflis? Da wollte ich schon immer mal hin. Für den Anfang meiner Alleinreiselaufbahn ganz gesittet nach Paris oder London? Mit airberlin nach Catania? „Du kannst als Frau nicht allein nach Italien fahren.“, diktiert mir der T. „Bin ich blond?“, gebe ich zurück und erinnere daran, überhaupt bereits jetzt ein Alter erreicht zu haben, in dem ich sogar für unser aller Außenminister schon völlig außer Konkurrenz laufe. „Da wirst du wenig Freude haben.“, behauptet der T., und erzählt eine lange Geschichte von seiner Freundin G., die allein in Rom eine Art Martyrium der schmierigen Kontaktaufnahmeversuche durchlebt habe. „Pah!“, sage ich, denke mir meinen Teil über die G., und klicke „Jetzt buchen“: Berlin – Venedig und zurück. Eine Erwachsene. Im November. – „Na dann viel Spaß.“, sagt der T., und verabschiedet sich nach weiteren drastischen Prophezeiungen meines Abhandenkommens in und an der Adria.

Wir werden sehen

An Bord der MS Spreepiratin

Von Wilmersdorf an die Spree und dann fünf Treppen hoch: Die Party ist nicht zu verfehlen. Die Spreepiratin muss nette Nachbarn haben, denke ich, der Geräuschentwicklung entgegenlaufend, werde in einen vollen Korridor gezogen, drücke mich an lachenden, tanzenden und quatschenden Gästen vorbei und lasse mich schließlich in Balkonnähe dort nieder, wo bekannte Gesichter auftauchen. Dann trinke ich Bier und Wein viel zu durcheinander, spreche mit eigentlich allen, insbesondere der charmanten, lebhaften Gastgeberin (und dem Herrn MC, wir haben, glaube ich, aus unerklärlichen Gründen kein Wort gewechselt) , viel zu wenig, und fahre voller Vorfreude auf eine nächste Party irgendwann Richtung Prenzlauer Berg.

Auf den Spuren der Vergangenheit

Ahnenforschung soll sich ja gerade bei ansonsten beschäftigungslosen Rentnern gesteigerter Beliebtheit erfreuen, und so wandte sich auch mein Onkel U. nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben vor zwei Jahren der Erforschung der Familiengeschichte zu.

Allzuviel Unterhaltung kann besagter Onkel aus der Vergangenheit unserer insgesamt doch eher unspektakulären Familie, die weder herausragende Geistesgrößen noch bedeutende Krieger hervorgebracht hat, indes nicht gezogen haben, und die Tatsache, dass jener Vorfahr dort, und ein anderer woanders gelebt haben mag, dieser die Tochter eines Geistlichen heiratete, und jener eine Kaufmannswitwe heimführte, muss schon auf ein sehr gelangweiltes Gemüt stoßen, um als interessant gelten zu können. Insbesondere die Tatsache, dass das immerhin bewegte 20. Jahrhundert durch schriftlich wie mündlich außergewöhnlich mitteilsame Familienmitglieder nahezu lückenlos dokumentiert sein dürfte, führte jenen Onkel schnell in fernere Gefilde der Vergangenheit, in der kaum ein mitteleuropäischer bürgerlicher Haushalt etwas Spannenderes unternommen haben dürfte, als zu arbeiten, zu essen und ab und zu zu heiraten.

Besondere Sesshaftigkeit scheint der väterlichen Familie allerdings nicht zu eigen gewesen zu sein, und so fuhr der Onkel U. auf den Spuren der Vorfahren weiter und weiter, um schließlich ein Flugzeug nach Odessa zu besteigen, von wo um 1850 herum ein Vorfahr aufgebrochen war, um sein Glück in Österreich als ein Seidenhändler zu suchen.

Was der Onkel U. in Odessa so ganz konkret suchte, war aus ihm nicht abschließend herauszubringen. Odessa scheint sich, darf man meinem Onkel Glauben schenken, seit 1850 auch ganz erheblich verändert zu haben, und außer einigen Spaziergängen, ein bißchen ergebnislosem Herumlesen in den der Öffentlichkeit zugänglichen Archiven der Stadt und ebenso fruchtlosem Wandern auf verwahrlosten Friedhöfen, scheint der Onkel U. seinem Ziel nicht näher gekommen zu sein: Erkenntnisse über das Leben und die konkreten Verhältnisse der Vorfahren scheint der Onkel U. nicht heimgebracht zu haben.

Gefallen aber habe er an der Stadt durchaus gefunden, so äußerte sich der Onkel gegenüber meinem Vater. Das Hotel sei ein wenig staubig gewesen, insgesamt aber charmant, und auch die alten Frauen, die auf jedem Flur des Hotels gesessen seien, hätten ihn nicht über Gebühr irritiert. Da er keinen Besuch mit heimzubringen pflegte, habe ihn auch die Angewohnheit der weiblichen Wächterinnen nicht gestört, das Kommen und Gehen in dem wenig besuchten Hotel jeweils schriftlich festzuhalten. Was das in allen seinen Einzelteilen in Plastik verpackte Frühstück anging – nun, ein in vielen Flugreisen gestählter Mensch kennt dieses meist wenig wohlschmeckende Phänomen.

„Wesentlich weiter,“, so mein Vater über die Exkursionen seines Bruders, „wird er auf seiner Suche ja ohnehin kaum kommen.“, denn im Dunkel der Vergangenheit seien frühere Wanderungsbewegungen der Familie mangels entsprechender Überlieferungen wie Dokumente kaum mehr auszumachen. Wolle der Onkel U. auch seinen weiteren Ruhestand mit Exkursionen auf der Suche nach verblichenen Familienmitgliedern füllen, so müsse er sich daher wohl in das weite Land reiner Spekulation begeben, auf der Grundlage einer blühenden Phantasie die Kontinente durchwandern, und könne ebenso gut nach Ägypten fahren wie etwa nach Schweden oder gleich zum Mond.

Wohin es andere Familien ja immerhin fast geschafft haben.

Unter Paaren

„Eigentlich,“, sagt meine blondlockige Freundin, und schlingt ihren Arm noch ein wenig fester um ihren Freund, „wollten wir ja schon im Juli noch eine Woche weg.“ Der Freund nickt und ergänzt die unüberwindlichen Hinderungsgründe in Gestalt des Referatsleiters mit drei Kindern, dem bei der Urlaubsplanung leider der Vortritt gelassen werden musste. „Wir“ hätten also keinen Urlaub bekommen. Jetzt also solle es im Oktober losgehen, Portugal oder Sizilien, und „wir“ würden dann eine Woche mit einem Mietwagen herumfahren und anschließend eine Woche baden. – „Das hört sich aber nett an.“, sage ich pflichtschuldig, und beide Köpfe des eng umschlungenen Paares nicken eifrig und begeistert. Mit einem entschuldigenden Schwenken meines leeren Glases eile ich davon.

„Ja, hallo – Modeste!“, spricht mich vor dem Kühlschrank ein anderer Gast der Party an, und zieht mich in den Korridor, um mir seine neue Freundin vorzustellen, die klein, dünn und hennafarben an ihrer Bierflasche saugt. „Freut mich.“, sage ich, schüttele Hände, und plaudere ein bißchen über Art und Güte des Buffets, die Herstellung eines perfekten Käsekuchens, und woher ich die Gastgeber eigentlich kenne. „Wir haben uns ja in der Referendars-AG kennengelernt.“, strahlt die neue Freundin. „Noch jemand ein neues Bier?“, fragt mein Bekannter, küsst seine Freundin auf beide Wangen, um sich für knappe drei Minuten zu verabschieden, und drängelt sich durch den Türrahmen in die übervolle Küche.

„Schatz?,“ ruft eine hohe, weibliche Stimme aus dem Wohnzimmer. „Schaaatz?“, woraufhin sich ein blonder, schlaksiger Jüngling aus einer unter der Last der Weltpolitik wogenden Gruppe vor dem Buffet löst, und dem Rufen folgt. „Schaaatz“ und Freundin, so erfahre ich, seien nur noch zu Besuch in Berlin, und hätten sich in Hamburg gerade eine Wohnung gekauft. „Wir überlegen ja auch, zu kaufen.“, berichtet eine mir unbekannte Kollegin der Gastgeberin, und auf der Stelle beginnt eine längere und lebhafte Diskussion über den Kauf von Immobilien am Prenzlauer Berg, geeignete Quellen für den Erwerb antiker Kacheln, notwendige Bestandteile eines Badezimmers und die Tapetenfrage.

„Ich muss los.“, verabschiede ich mich von der Gastgeberin und erwähne meine unglaubliche Müdigkeit sowie meine außerordentliche Arbeitsbelastung. „Wohl gestern lange unterwegs gewesen?“, lacht die Gastgeberin: „Wir gehen ja gar nicht mehr so häufig aus.“ – Jaja, denke ich, und versuche mich zu erinnern, ob die Gastgeberin eigentlich zu irgendeinem Zeitpunkt eine Freundin der langen Nächte von Mitte war, und kann mich eher nicht erinnern. „Lass´ uns demnächst mal frühstücken gehen,“, schlage ich vor, „vielleicht im Nola´s? Oder im drei?“ „Gern,“, sagt meine Freundin. Nur nächstes Wochenende, da sei es schlecht. „Unsere Eltern kommen.“

„Melde dich einfach.“, sage ich, laufe die Treppe hinab und sage dreimal ganz laut „Ich“, zu der Frau in den Spiegeln im Treppenhaus.

Flanieren

„Weißt du,“, sagt mein Begleiter, „Berlin ist mir eigentlich zu groß.“ Daheim, so erzählt er, kenne er die Bäckersfrau und den Metzger, alle Nachbarn die Straße hinauf und hinunter, und wenn er den Leichenwagen sehe, wisse er ebenso genau, wer gestorben sei, wie er den Anlass der verstreuten Reiskörner kenne, die vor der einzigen Kirche des Dorfes liegen, in dem er aufgewachsen ist, und in das er zurück möchte, irgendwann. – Auch ich, so antworte ich, während der Tee in lichtem, hellgrünen Strahl in die Tasse fließt, kenne die Verkäuferin beim Bäcker. In denjenigen Bars, in denen ich regelmäßig meinen Wein trinke, fällt mir auf, wenn eine neue Bedienung hinter dem Tresen steht, und meine Nachbarn kenne ich ausnahmslos alle. Die Vorzüge der Großstadt aber, die Opernhäuser, die Konzerte, Lesungen, Parties und Vernissagen, die habe er in seinem Kaff doch keinesfalls, und am Abend in die Stadt fahren zu können, sei nie dasselbe, wie dort schon zu sein. Der eigentlich Reiz einer großen Stadt aber – und hier trinke ich ein wenig vom viel zu heißen Tee – sei aber ein anderer. Ich wisse aber nicht, sage ich, ob er dies verstünde:

Durch die Stadt zu laufen, ziellos, unter den Linden einige Gesprächsfetzen von Passanten aufzufangen und einem Pärchen zuzulächeln, das im Lustgarten auf dem Rasen sitzt. Weiterzulaufen, in die Schaufenster zu schauen, und sich vorzustellen, wer einen prächtigen schilfgrünen, paillettenbesetzten Rock mit Plisseeeinsätzen kaufen wird. Hoffen, dass das Mädchen, dass beim Schuhgeschäft an der Ecke begehrlich ein paar Schuhe in der Hand wiegt, diese auch kaufen kann. Bei einem Antiquar einen Stapel Bücher zu kaufen, und über die Ex Libris ein wenig traurig zu werden, und an denjenigen zu denken, der sich diesen hübschen Linolschnitt im Stil der Neuen Sachlichkeit hat schneiden lassen. Bestimmt ein Arzt, denke ich, denn in einer Ecke prangt ein Stethoskop. Einem offiziell aussehenden Autokonvoi hinterherzuschauen und zu überlegen, wer darin sitzen mag. Durch die Scheibe einigen Männern in einem afrikanischen Telephonladen zuzuschauen, die so heftig diskutieren, dass ihre Rastalocken heftig hin und her schwingen. In einem Café beim Zeitungkesen zuhören, wie die Kellnerin schniefend leise telephoniert, und auf einmal laut wird und brüllt „Du Dreckskerl. Dann hau´ doch ab.“ – Drei, vier U-Bahnstationen von meiner Wohnung entfernt in der Fremde zu sein, eine neugierige Touristin, die den verschleierten Frauen hinterherschaut und überlegt, ob die Frau mit dem safranfarbenem Kopftuch über einem geschmackvollen Mantel glücklich ist. – Vielfalt des fließenden Lebens.

Mein Begleiter schüttelt den Kopf, und ich versuche es mit einer anderen Geschichte.

„Weißt du,“, sage ich, „als ich acht war, hatte mein Vater in London einen Termin bei einem Notar, und ich sollte warten. Irgendwann wurde mir langweilig und ich verließ das Haus, ließ meinem Vater eine Notiz da, ich ginge zum Hotel zurück, und lief die Straße hinab. Ich hätte,“ fuhr ich fort, „das Hotel gefunden, das war ja gar nicht weit. Ich bin aber nicht abgebogen, sondern einfach weitergelaufen, immer weiter, dann in jede lockende Straße hinein, ab und zu in Geschäfte, habe ein wenig geschaut, irgendwann an einem Brunnen an einem ruhigen, baumbestandenen Platz ausgeruht und immer weitergelaufen. Irgendwann veränderten sich die Geschäfte, die Stimmen wurden lauter, die Gerüche andere, und ich hatte schon ganz vergessen, dass ich eigentlich zum Hotel zurücklaufen wollte. Bei einem Bäcker habe ich mir ein bißchen Kuchen gekauft, da muss ich schon lange gelaufen sein, und wie im Rausch bin ich die Straßen im Zick-Zack immer weiter gegangen, stundenlang, und habe mich vergessen und verloren an diese riesige, verführerische Buntheit einer Stadt.“

„Hast du keine Angst bekommen?“, fragt mein Begleiter, der den Reiz, den wirbelnden Zauber der großen Stadt nie verstehen wird, und ich lächle achselzuckend und spreche über Dinge, die wir beide mögen.

Wo ist die Party?

„Ich bin die dickste Frau in der ganzen Bar.“, nörgele ich ein bißchen herum und betrachte die 1,80 großen, schlanken Frauen, die ihre extravagante Garderobe zwischen den weißen Lederwürfeln zur Schau tragen. Am Nachbartisch erklärt ein schon leicht erschlaffter Mittdreißiger im rosa Hemd einer riesigen, schlangenhaften Blondine die Weltwirtschaft, und als die Gläser leer sind, winkt der T. vor der Tür einem Taxi. Ein dicker, schnauzbärtiger Türke fragt nach dem Ziel der Fahrt, und zwischen den goldfarbenen Blumen am Rückspiegel und auf der Hutablage, und unter dem durchdringenden Leiern der türkischen Musik diskutieren der O., der T. und der S. ein bißchen herum.

Am Wochenende sei der vom S. vorgeschlagene Club eine absolute No-Go-Area, sagt der O. und schildert die Beschaffenheit der Wochenendbesucher in drastischen und überaus abschreckenden Farben. Die Party, die der O. dafür ins Gespräch bringt, ist dem S. wiederum zu geschleckt, und in einem anderen Club war der T. gerade. „Wo soll´s denn jetzt hingehen?“, unterbricht der Taxifahrer die Diskussion. „Auf die Torstraße.“, dirigiert der S.,

Richtung Friedrichshain/Kreuzberg, so viel steht immerhin fest, kann eigentlich nicht falsch sein, und so fährt der Fahrer am Alex vorbei, dessen Spitze heute nacht weich in der feuchten, kühlen Luft verschwimmt. Der T. reicht eine Flasche nach hinten. „Was ist das?“, frage ich, die ein bißchen müde wird, so ganz ohne Musik, denn die Taxifahrermusik hat der T. gerade ausgemacht. „Entre Deux Mers“, antwortet der S., der das Etikett studiert, während der T. und der O. bei irgendwelchen Leuten die Telephone klingeln lassen: Wo ist die Party?

„Hört sich ganz gut an.“, höre ich vom Beifahrersitz, aber links neben mir wird heftig mit dem Kopf geschüttelt. „Kenn´ ich, nicht mein Fall.“, heißt es rechts neben mir zu einer anderen Party. „Da bin ich nicht für angezogen.“, höre ich von vorn, wo es anscheinend gerade um eine Party geht, bei der Jeans und Hemd keine gute Idee darstellen. „Geht´s ein bißchen unkomplizierter?“, frage ich, die ich mit schwarzem, gerafften Oberteil und ingwerfarbenem Rock nicht gerade galatauglich daherkomme. – „Der G. meint, die Party da sei öd. Die gehen gerade.“, meint der O., das Telephon am Ohr, und dirigiert das Taxi weiter Richtung Kreuzberg. – „Mir ist heute mehr nach Mittemädchen.“, sagt der T., und lästert ein bißchen ab über die Prenzl´bergerin, die in sehr individuell bedruckten T-Shirts und Jeans mit Turnschuhen an den Füßen durch die Welt liefe, und Unterwäsche aus Frottee trüge. Frauen, proklamiert der T., sollten sowieso keine Turnschuhe tragen. Der S. findet biertrinkende Turnschuhträgerinnen in Tank-Tops sexy, dem O. ist gerade alles egal, und ich überlege zum hundertsten Mal, die halsbrecherisch hohen, wahnsinnig schönen seidenbespannten Schuhe bei Orlando am Hackeschen Markt zu kaufen, in denen ich keine hundert Meter laufen kann.

„Wo soll ich jetzt hin?“, fragt der inzwischen ziemlich genervte Taxifahrer, und der T. weist ihn weiter über die Spree und dann irgendwann rechts. Der O. spricht über die rätselhafte Wiederkehr der Chucks, und ich frage die Herren nach ihrer Meinung zu Schuhen mit Lederbommeln vorne dran. „Alles besser als Turnschuhe!; sagt der T., der gerade sehr müde aussieht, und das Taxi kommt zum Stehen.

„Da seid ihr ja.“, drückt ein sehr dünnes, sehr großes blondes Mädchen den T. und den S., und einen Moment überlege ich, ob es die Frau aus der Bar von vorhin sein könnte.

Aber wahrscheinlich sehen die alle so aus.

Tollpatsch

Na, Sie waren bestimmt ´ne Sportskanone, ich aber, ich war zeitlebens immer nur in denjenigen Sportarten gut, für die eine begrenzte Feinmotorik reicht. Leichtathletik etwa, oder Rudern. Auf Pferden geht es auch ganz gut, wenn das Pferd und ich keine besonderen akrobatischen Akte vollziehen müssen, und einfach so durch die Gegend springen dürfen.

Bei allen Betätigungen, die ein erhöhtes Maß an Feinmotorik voraussetzen, und die nicht vollständig wären ohne eine ältliche Lehrerin, die am Rand steht und die ganze Zeit vergeblich um „Mehr Grazie!“ bittet, da habe ich leider jedesmal schmählich versagt: Die Momente auf dem Schwebebalken gehören nicht zu den angenehmsten Kindheitserinnerungen, die ich so mit mir herumtrage, Rythmische Sportgymnastik war ganz schlimm, dieses ganze Herumgeschwenke von Bällen und Bändern, und beim Ballett, fünf Jahre alt, war ich der Schandfleck der Ballettschule und habe mich vor den Ballettstunden zu Hause immer auf den Boden geworfen und wollte nicht hin.

Wieso, denken Sie nun aber, erzählt das Fräulein Modeste das nun wieder? Das Alter, in dem der Mensch gezwungen wird, am Sportunterricht teilzunehmen, ist ja doch schon ein paar Jahre her, und der betrübliche Mangel an Körperbeherrschung wird sich, so denken Sie, nun doch nicht mehr so auswirken.

Das aber, meine Damen und Herren, ist leider völlig unzutreffend. Nehmen wir einmal nur den gestrigen Abend.

Ich komme also aus meiner Schlafzimmertür und laufe, es ist stockfinster, weil der Lichtschalter auf der anderen Seite ist, erst einen Meter nach vorn, dann ein Stück nach links, und dann wieder nach vorn, weil mein Korridor nicht einem langen Schlauch gleicht, sondern vielmehr ein bißchen schief und krumm ist, wie das manchmal eben so ist im Altbau. Im hinteren Abschnitt des Korridors, gegenüber vom Schuhregal, ragt die Küchentür in den Raum, aus irgendwelchen Gründen tritt man aber nicht in die halboffene Tür – man läuft einfach dagegen. Frontal.

Die Wasserflasche, die man in der Hand hält, die zersplittert natürlich auf dem Boden. Und selbstverständlich hat man nichts auf den Füßen, und sitzt da nun also inmitten der ganzen Scherben. Weil der menschliche Kopf gegenüber einer Holztür doch das fragilere Gebilde darstellt, hat die Holztür ganz eindeutig gewonnen und grinst stillvergnügt vor sich hin – da, in der linken unteren Kassette habe ich´s gesehen. Mir dreht sich alles, als ich aufstehe, wird mir sogar ein bißchen übel, und durch die Scherben hindurch wanke ich zurück und lege mich ins Bett.

Heute morgen habe ich den ganzen Vorgang dann vergessen, stehe auf, so gegen 8 Uhr morgens, und schleppe mich Richtung Küche, um Teewasser anzuwerfen.

Mag es meine Blindheit sein oder mein schlechtes Gedächtnis – eigentlich, eigentlich hätte man die Scherben auf dem Boden ja gar nicht übersehen können. Ich aber setze natürlich meinen Fuß gedankenverloren mitten in das Ensemble aus Wasserresten, gesplittertem Glas und füge noch ein paar Blutflecken dazu.

Überhaupt – die vielen im Laufe der Jahre vom Tisch gewischten Gläser. Der Blumentopf, der erst letztlich unter großer Geräuschentwicklung in den Hof gefallen ist. Meine völlige Unbrauchbarkeit beim Tischtennisrundlauf. Und die Worte eines Herrn, mit dem ich einmal schwimmen war, und der nach meinem Sprung vom Dreimeterbrett nichts weiter sagte als: „ Du springst nicht. Du lässt dich einfach fallen.“

Das ist alles kein Spaß.

Selbstbestimmte Mutterschaft

Zwischen Männer und Frauen, so sagt man, soll es ja ganz wesentliche Unterschiede geben, die ich nach monatelangem Dasein als Single allerdings so gut wie alle vergessen habe. Einer dieser Unterschiede indes, an den ich mich schwach erinnern kann, besteht in dem signifikant unterschiedlichem Maß, in dem Frauen und Männer um die dreißig der Fortpflanzung zuneigen: Frauen, etwas generalisiert gesagt, wollen sich zumeist immerzu fortpflanzen, Männer aber zeigen diesbezüglich keinerlei Neigung und verschieben die Familiengründung auf einen imaginären Zeitpunkt, der irgendwann in der Zukunft liegt und vielfach überhaupt nie eintritt: Es gibt also einen ernsthaften Mangel an potentiellen Kindsvätern.

Dieser Mangel erfährt eine Verstärkung durch die leidige Tatsache, dass sich die fortpflanzungswilligen Männer so gut wie alle mit denselben Frauen reproduzieren möchten, zu der die Bekannte einer Freundin aus vielfältigen ästhetischen Gründen offenbar ganz ausgesprochen nicht gehört. Ende dreißig, meistens berufslos und in Kreuzberg beheimatet, sah jene Bekannte mit den Jahren die Chancen auf erfüllte Mutterschaft davonschwimmen.

Rettung nahte jener Bekannten indes aus einer Gruppe, deren Reproduktionsfreudigkeit offenbar gesellschaftlich noch nicht hinreichend ausgeschöpft wurde, denn die Neigung, sein Leben mit dem eigenen Geschlecht zu verbringen, scheint nicht in jedem Fall einen freiwilligen Verzicht auf die Elternschaft zu beinhalten. Die Bekannte wandte sich also an einen schwulen Freund, und stieß bei diesem durchaus auf Zustimmung zu ihren Plänen.

Wie zwischen beiden Parteien die Abrede, ein gemeinsames Kind zu erzeugen und zu versorgen, getroffen wurde, entzieht sich der Kenntnis nicht nur meiner Person, sondern auch derjenigen meiner glücklicherweise äußerst indiskreten Freundin. Wie auch immer die Vereinbarung auch erfolgt sein mag – die mangels verfügbarer Finanzmittel für eine künstliche Befruchtung auf natürlichem Wege eingeleitete Zeugung verlief erfolgreich, und schon bald trug die glückliche werdende Mutter ihren schwellenden Bauch über den Marheinekenplatz. Die Niederkunft steht unterdessen unmittelbar bevor.

Ob es die mit der Zeugung verbundenen Vorgänge waren, oder die Tatsache der gemeinsamen reifenden Elternschaft – zwischen Kindsvater und werdender Mutter entspannen sich bald Bande, die über das Verhältnis zwischen Freunden um einiges hinausgingen. Die zunehmende Innigkeit im Verhältnis zwischen den zukünftigen Elternteilen rief jedoch eine Person auf den Plan, die im ohnehin nicht spannungsfreien Verhältnis zwischen den Geschlechtern zumeist eher nicht vorgesehen ist: Den Lebensgefährten des Kindsvaters.

Was jener Herr, über siebzig und als einziger Beteiligter mit einem hinreichenden Einkommen gesegnet, an der Situation ganz genau als störend empfand, ist weder meiner Freundin noch mir bekannt, und so sind auch wir verwiesen auf bloße Spekulation: Mag es die Tatsache sein, in hohem Alter noch einmal Onkel (?) zu werden? Fürchtet hier ein Mann an der Schwelle zum Greisenalter, den 38 Jahre jüngeren Gefährten zu verlieren, der ausersehen war, ihm das Alter zu verschönern? Oder stört sich jener Herr an den Finanzmitteln, die aus dem Kreislauf der Beziehung abfließen, da schließlich kein Mann die Mutter seines Kindes darben lassen kann, und zum Unterhalt auch dann berufen ist, wenn es nicht sein eigenes Einkommen ist, dass der Hege und Pflege der Kindsmutter zuteil wird?

Dunkel und verschlungen verlaufen die Pfade des Lebens.

Dankeschön!

Spielchen mit Stieren, hört man, können auch übel enden, und so hat ein ereignisloser, schon fast langweiliger Sommer, lesend zwischen den Bäumen im Park, ja auch sein Gutes. Weil es mit dem Menschen so ganz ohne wilde Tiere ja aber auch nichts Rechtes ist, schaut man sich die schwarzen und die roten Stiere schön geschrieben auf Papier an, und spaziert durch die Seiten vorbei an den Krausser´schen Zerklüftungen von Tod und Eros, in denen sich das menschliche Wesen wie Licht in einem Prisma bricht, und die Wirklichkeit ein trügerisches, schwarzes Strahlen gewinnt, vielgestaltig und ebenso verschattet wie sinnlich.

Man überlegt zum wiederholten Male, den abscheulich orangefarbenen Umschlag der hochgeschätzten Autobiographie Hasenclevers Irrtum und Leidenschaft endlich einmal gegen etwas Schönes auszutauschen – und wenn schon kaum mehr etwas Reizvolles zu Lesen im Hause ist, dann klingelt es in aller Herrgottsfrühe an der Tür, man öffnet blind wie eine ganze Armee von Maulwürfen die Tür, und sieht sich einer frischen, rothaarigen Postbotin gegenüber, die ein Päckchen schwenkt.

„Was hab´ ich denn nun schon wieder bestellt?“, denkt es in den verschlafenen Hirnwindungen, man klappt das Päckchen auf…

… und reißt freudig das Geschenkpapier von den Viktorianischen Ausschweifungen“, mit denen mir ein freundlicher Leser aus Österreich einen Wunsch von meinem Wunschzettel erfüllt hat .

Seien Sie herzlich bedankt!

Erwartung

Irgendwo in der Frau, die ich im Spiegel sehen kann, wartet der Tod und versteckt sich einstweilen. Vielleicht eine Lungenzelle, die einstweilen völlig unbeobachtet in meinem Brustkorb vor sich hin atmet, und eines Tages mutiert, klumpt und wuchert, und dann das Krankenhaus, Haarausfall und der achselzuckende Arzt. Oder der Herzfehler, der sich eines Tages von einer Petitesse auswachsen wird zu einem ernsthaften Problem, das Herz will dann nicht mehr, und ohne Herzschlag, heißt es, lebe es sich ja mäßig und meist nicht besonders lang. Oder der Tod wächst mir in einem andern entgegen, einem nachlässigen, betrunkenen Autofahrer, der heute morgen nüchtern an seinem Schreibtisch sitzt, eines Tages mit Freunden ausgeht, vergnügt ist, und die Kosten des Taxis scheut? Oder der Herbeigerufene, Herbeigesehnte, Geliebte und eines Tages vielleicht dann doch Verlassene trägt meinen Tod in seinem Kopf, und steht eines Tages mit dem Messer im Hauseingang, ein kurzer Schreck, ein scharfer Schmerz und das Ende.

In den letzten Momenten, so heißt es, gingen noch einmal spektakuläre Dinge vor, das ganze Leben zöge an einem nochmals vorbei, und es würde hell, ein letztes Mal würden alle Register gezogen, und erst dann sei es aus, man könne sich loslassen, entschwinden ins Nichts, oder in Sphären, von denen ich nicht weiß.

Es mag aber auch sein, dass auch in diesem Augenblick nichts weiter wartet als die letzte, endgültige Enttäuschung: Zu liegen, hilflos, in Schmerzen und nackter Angst. In der Gewissheit, dass diese Schmerzen nicht mehr enden werden, die Welt verglasen zu sehen, schreien zu wollen und nicht zu können. Größtmögliche Einsamkeit. Sich noch einmal aufrichten zu wollen, ein letztes Mal „Ich“ zu denken, und aus dem Dunkel der Schmerzen, allein und in schriller, lähmender Angst in ein Dunkel hinübergezogen zu werden, das nichts Gnädiges an sich hat.