Sie, meinen lieber Leser, stelle ich mir ja als ein veritables Prachtexemplar vor, ein netter Mensch, der, sofern männlich, kein bißchen nörgelt, nur weil die Gefährtin Ihrer Tage doch deutlich mehr Zeit in den Umkleidekabinen diverser Bekleidungshäuser verbringt, als es Ihnen vernünftig erscheint. Selbstverständlich wissen Sie, dass ohne passende Oberbekleidung so ein Sommer keine Spaß macht, dass die Sandalen vom letzten Jahr dieses Jahr schon wegen der breiten Absätze schlicht gar nicht mehr gehen, und dass der Beginn derjenigen Jahreszeit, in der massenweise Frauen durch die Straßen flanieren, die alle Jahre jünger und schlanker sind als Ihre Freundin, nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf.
Niemals würden Sie, oh geschätzter Leser, daher die Grausamkeit besitzen, ihrer Begleiterin, selbst wenn es sich um Ihre Exfreundin handelt, die volle Wahrheit über ihr Abschneiden beim Beauty-Contest Kastanienallee zuzumuten, und etwa zuzugeben, dass Ihnen die circa zwanzigjährige Blondine mit dem roten Neckholder und der Freitag-Tasche vor der Buchhandlung „Schwarze Risse“ in diesem Moment viel besser gefällt als die ehemals geschätzte Gefährtin? Und die beiden maximal achtzehnjährigen Mädchen, die ziemlich knapp und ein bißchen ordinär bekleidet bei Napoljonska Eis essen, eine Figur haben, wie sie einer Endzwanzigerin vermutlich nie wieder beschert sein wird? Und dass von den Frauen vorm 103 mindestens zehn so verdammt gut aussehen wie wandelnde Titelblätter großer Modemagazine, die Kleidungsstücke anpreisen, die an ihrer Begleiterin vermutlich aussehen würden wie die Hülle einer Wurst. „Aber darum geht´s doch letzten Endes auch nicht.“, würden sie auch nicht hinterherschieben und auf die wahre Bindungswirkung tiefer Gefühle und eines guten Herzens hinweisen. „Nur darum geht´s“, würde Ihre in den Stürmen des Lebens zur Teilzeitzynikerin gereifte Begleiterin dann nämlich sagen, und hätte vollkommen recht.
Fragt Ihre Begleiterin Sie dann, ob sie auch ein bißchen abnehmen sollte, dann schütteln Sie natürlich energisch den Kopf, und beteuern, jedes einzelne der 62 Kilo schmerzlich zu vermissen, wäre es nicht mehr da. Ganz falsch wäre es allerdings, dann darauf hinzuweisen, dass Ihre Begleiterin, mag es auch bloß Ihre dicke Exfreundin sein, bei einer Größe deutlich unter Modelmaß, zu wenig Sport und ungefähr doppelt so alt wie die Grazien auf Klassenfahrt, die angestrebte Erscheinung ohnehin nie erreichen würde, und kulinarische Entbehrungen daher von vornherein als sinnlose Askese gelten müssten.
Denn dann, lieber Leser, müssten Sie die nächste halbe Stunden damit zubringen, einer schwer depressiven Person im schwarz-weißen Schlabberrock gut zuzureden, sich nicht auf der Stelle vor die Tram zu werfen.
„Kommst du heute nachmittag mit zur Artothek?“, frage ich die C., und weise auf die beiden leeren Wände meiner Wohnung hin, die geschmückt sein sollen. „Ich schleppe aber nicht schon wieder Riesenschinken durch die halbe Stadt.“, mahnt C., und schlägt vor, doch zumindest eine Wand mit Kunstdrucken oder Photos zu verzieren, die nicht alle drei Monate ausgetauscht würden. „Kunstdrucke will ich nicht.“, schleudere ich der C. empört entgegen und sehe mich schon zwischen fehlfarbenen Postern Van Gogh´scher Sonnenblumen und einem großen Blauen Pferd von Franz Marc ein trauriges Dasein in knallbunten ästhetischen Abgründen führen.
Einen Kunstdruck jedoch, fällt mir ein, als ich auflege – einen Kunstdruck werde ich mir doch hängen: Dix´ Bildnis der Anita Berber.
Der Druck hing schon einmal in meiner Wohnung und begrüßte meine Gäste. Aus grünen, verwesten Augen am Betrachter vorbei schauend, sehr körperlich und sehr entrückt zugleich. Die weiße Haut, die nicht von Reinheit spricht, sondern nur noch von thy pale, lost lilies der toten Liebe. Jenes Rot in Kleid, Haar und Hintergrund, dieses Rot über und über, an dem man stirbt. Traurige Enkelin der schönen Damen des Fin de siècle, die tanzend und lächelnd haarigen Feinden den Kopf abschnitten. Ein alle Konturen des Körpers nachzeichnende Sinnlichkeit, die nichts Frivoles an sich hat, nichts Lachendes, Leichtes, sondern nur den tiefen Ernst der Vergeblichkeit und die Maßlosigkeit des Untergangs.
In der gemeinsamen Wohnung mit J. verschwand Anita Berber hinter dem Schrank. J., der die saubere Damenhaftigkeit einer Audrey Hepburn schätzte, und Grace Kelly mit einem Glas weißen Weins zuprosten mochte, mochte die „fette Frau“ nicht sehen. Sehnsucht und Verfall wurden ferngehalten von der erschrockenen Seele, und irgendwann war das Bild weg und ward nicht mehr gesehen. Ab und zu erwähnte ich das verschwundene Bild, auf dem J. nichts sah als eine etwas aus der Form geratene Tänzerin, die den vitalen Elan nicht gehabt hatte, alt und wohlhabend zu werden. Käuflich sei sie gewesen, hielt J. mir vor, und hielt die Debatte für erledigt.
Erledigt hat sich irgendwann die Wohnung mit J. Die gemeinsame Zukunft rottet nun irgendwo auf dem Grund der Spree, oder in den dickflüssigen Resten in den Gläsern, wenn die Bar schließt. Die leeren Stellen in der Wohnung sind fast wieder voll, und über der weißen Kommode, auf der die Lilien stehen, wird Dix´ Anita Berber hängen, wenn ich sie wiederfinde, irgendwo.
Das Telephon bleibt stumm, die Mailbox leer, und mein Schreibtisch quillt über vor langweiligen Stapeln Arbeit, die nach Erledigung schreien: Die Welt weigert sich, mich zu amüsieren.
Wäre doch, so male ich mir aus, eine gute Fee schon auf dem Weg zu meiner Wohnung, ginge geradewegs die Straße hoch, stünde vor der Haustür und käme die vier Treppen hoch zu mir. „Was wollen sie?“, würde ich die Fee fragen, und die Fee, wie es die Art der Feen ist, böte mir die Erfüllung dreier Wünsche an.
„Das lässt sich hören.“, würde ich antworten und der Fee einen Tee anbieten. „Genug geschwatzt!“, schnitte die Fee mein gastfreundliches Entgegenkommen ab. Die Wünsche bitte.
Zuerst einmal natürlich würde ich auf die Stapel auf meinem Schreibtisch deuten, und – zack: Wäre die Arbeit auch schon getan. Die nächsten vier Monate hätte ich frei. „Danke liebe Fee.“, würde ich sagen, aber die Fee würde nur ungeduldig auf den Zehen wippen und die nächsten Wünsche einfordern. Testweise würde ich eine deutliche Gewichtsreduktion erwähnen, aber dafür hätte die Fee überhaupt nichts über. Das, würde sie sagen, würde ich mir doch sowieso wieder anfressen über die Tage und Wochen. Ein oder zwei reizende Gefährten, die mir den Sommer versüßten? Ein Bikini, der passt?
Kurz bevor die Fee ungehalten meine Wohnung verließe, fiele mir dann doch noch der zündende Gedanke ein. Eine Angorakatze.
Ich möchte eine Angorakatze sein.
Ich würde in einem großen Haus mit Garten auf dem Lande wohnen, und mehrmals täglich würde ich gefüttert. Ich wäre ein bißchen kapriziös und würde nur ganz bestimmtes Futter essen, und alle paar Wochen hätte ich das Lieblingsfutter über, und meine Halter würden alle möglichen Katzenfutter kaufen oder selber kochen, damit ich wieder fresse. Ein älteres Ehepaar wäre da nicht schlecht. Am Abend zöge ich durch die Felder, und würde die wilden Kater besuchen, die ich mir sehr unkompliziert vorstelle. Gefällt mir ein Kater nicht, so würde ich ihm mit der Pfote auf die Nase hauen und zöge meiner Wege. Am Morgen wäre ich dann wieder daheim.
Ein weiches Kissen hätte ich beim Kamin, und ein Körbchen in der warmen Küche, wo es gut riecht. Bin ich gut gelaunt, so striche ich meinen Haltern um die Beine, ließe mich streicheln, und stünde auf, wenn ich genug hätte. Mag ich keinen sehen, so würde ich mich verstecken, keiner würde mich finden, und aus meinem Versteck würde ich meinen Haltern zuschauen, wie sie durch den Garten laufen und „Modeste, Modeste“, rufen. Ich würde schlafen, wann immer es mir passt, und alle Leute kratzen, wenn ich schlechte Laune hätte.
„Und?“, steht auf dem Display. „Ist zu öde zum Erzählen.“, tippe ich zurück. „Lies selbst.“
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Misdroy
„Nur ein Zimmer?“, fragte die Vermieterin, und bis zum Ende klebte der fragende Blick in unseren Rücken auf dem Weg zum Strand. Wir schliefen zwölf Stunden am Tag, schon morgens aß ich geräucherten Fisch und Rührei, und lief lachend, naß bis auf die Haut, durch den Regen. J². erzählte Märchen, in denen Fische und Prinzessinnen vorkamen. R. hatte in Krakau ein paar Bücher gekauft, und las Mörike vor. Mozart auf der Reise nach Prag.
Am Morgen schien die Sonne, gegen Mittag bezog es sich, und wenn wir am Strand ankamen, packten die Familien ihre Taschen und gingen. Wir saßen auf dem feuchten Sand, schauten weit hinaus auf das Meer und zeigten uns die Stelle, von der aus man nicht mehr würde zurückschwimmen können.
Den abreisenden Nachbarn der Pension kauften wir den Kassettenrecorder ab, erwarben ein paar Kassetten von fliegenden Händlern auf dem Markt. „Stuck in the middle with you“, sang ich, und zog den R. an den Ohren. Die Träger meines Badeanzugs zeichneten mir ein Andreaskreuz auf den Rücken, J². aß den ganzen Tag Sprotten aus einer Holzkiste, die er jeden Morgen auf dem Weg zum Strand kaufte, und von seinen Schultern hing die sonnenverbrannte Haut in Fetzen herab. Am Sonntag packten wir unsere Sachen und fuhren.
„Mach´s gut.“, verabschiedete ich R. in Rostock. „Das ist für dich.“, sagte er, und schob mir ein Buch in die Tasche. R. und J2 schüttelten sich die Hände, und ab Hamburg fuhr auch J² in anderen Zügen. Der Sommer war vorbei.
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J² schläft zur Stunden wohl gerade in paar Kilometer entfernt. Wo auch immer R. sein mag, weiß ich indes nicht zu sagen, und das geschenkte Buch aus einem Krakauer Antiquariat habe ich so lange nicht in Händen gehalten. Vor dem Regal schaue ich die Reihen entlang und ziehe das schmale, stark gebräunte Bändchen schließlich hervor.
Auf der ersten Seite hat R. mit einem Kugelschreiber, den er sich von unserer argwöhnischen Vermieterin geliehen hatte, eine Widmung geschrieben:
„Bliss was in that dawn to be alive
and to be young was very heaven“,
lese ich und stehe lächelnd vor der offenen Balkontür.
„Kann ich bei dir waschen?“, fragt der geschätzte ehemalige Gefährte, und ist zwanzig Minuten später bei mir mit einer großen Tasche voll mit weißen Hemden. „Wie war´s Wochenende,“ fragt er und stopft seine Hemden in die Wäschetrommel. „Viel unterwegs,“ sage ich und biete Tee an. Als wir uns, den Tee in der Hand, gegenüber sitzen, fragt er nach: Es stünde ja noch eine Geschichte aus. „Ach ja.“, sage ich. Die polnische Reise:
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Von Warschau nach Krakau
Jeder kennt Hotels, die geschaffen sind für die möglichst triste Inszenierung des eigenen Ablebens, Kulissen des schlechten Gewissens für jene, die uns Stunden warten lassen, allein zwischen durchgelegenen Matratzen und fleckigen Wänden. Mit kaltem Tee in einem großen Krug, ein bißchen Gebäck aus der Tüte und ein paar schrecklichen Büchern, die andere Gäste im Hotel gelassen hatten, ließ der Tag sich herum bringen, und am Abend stand R. in der Tür.
Warum R. nach einem wahrhaft dramatischen Abschied sich überhaupt dazu hinreißen ließ, auf ein simples Telephonat zum Bahnhof zu fahren, und ganz allein zwanzig Stunden nach Osten zu fahren, ist mir bis heute unbekannt. Allein, er fuhr, und zerstritten mit J²., nach Stunden missgestimmten Brütens, fiel ich dem erschöpften, unrasierten R. um den Hals, und für ein paar Stunden, wenige Stunden nur, war alles gut.
„Lass uns ein bißchen umschauen.“, sagte der R. am nächsten Morgen. „Ich mag Warschau nicht.“, sagte ich, und bestand auf sofortiger Abreise.
Von Krakau nach Misdroy
Die Schönheiten Krakaus anzupreisen ist nicht meines Amtes, auch wenn es viel zu preisen gäbe zwischen Wawel und Hauptmarkt, das Zimmer in der Slowackiego war charmant und sauber, und das Essen erwies sich als fett, üppig und entsprechend nervenberuhigend. Tagsüber erklärte mir R. alle Baudenkmäler anhand eines Dumont-Kunstreiseführers, und ich ging eine Menge zu Fuß. – In der Kirche der Heiligen Anna stand J². und strich um die Altäre.
„Was machst du denn hier?“, gehört sicher schon seit Generationen – ach: Äonen – zu jenen Redensarten, die auch unter den Theaterautoren der sehr leichten Muse verpönt sein dürften. Zu banal sind jene Zufälle, die bekannte Gesichter an fremden Orten zusammenführen. Die Realität indes, grinsende Schmierenkomödiantin, schert sich nicht um Geschmack und Sitte, und so war J² nur einen Tag nach uns von Warschau aufgebrochen, um der wahren Schönheiten Polens teilhaftig zu werden.
„Ist euer Hotel in Ordnung?“, fragte J²., ich bejahte, und noch am selben Abend bezog J². gegen geringen Aufpreis die Couch im angemieteten Zweibettzimmer. Am nächsten Nachmittag schon flogen die Fehdehandschuhe scheppernd durch die Luft, R.´s Konventionalität, J².´s Egozentrik und alle meine Launen stapelten sich auf dem Schreibtisch, und das einzig wahre Wort des Tages rührte nicht von mir her: „Ich hasse euch.“, sagte R. und verschwand. Müde, verschwitzt und zerkratzt erschien er am nächsten Morgen. – Wir nahmen unser Besuchsprogramm wieder auf und stritten uns erst abends.
„Ihr seid scheußlich!“, sagte J², auf seiner Couch liegend, und blätterte in einem Ausstellungskatalog. „Wir könnten so einen herrlichen Urlaub haben. Es ist großartig hier.“ – R. starrte an die Decke und machte einen mehr als nur strapazierten Eindruck. Die Reise schien ihm nicht zu gefallen.
„Wir sollten an die See fahren.“, schlug ich vor, denn es ist bekannt, dass Kunstdenkmäler durch das ihnen eigene hohe Maß an Verfeinerung ein nervöses, verschlungenes Odeur an ihre Rezipienten weitergeben, wohingegen das Meer die Nerven beruhigt. „Misdroy“, sagte der R., der sich auskannte, und zu dritt erwarben wir eine Fahrkarte und verließen Krakau am nächsten Tag.
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„Ich muss los.“, sagt der geschätzte ehemalige Gefährte, und erwähnt missmutig Termine am frühen Morgen. „Bis bald“, sage ich. „Ich komme die Hemden über die Tage mal abholen.“, sagt er, und bittet um Fortsetzung. „Der Rest ist langweilig.“, sage ich. „Erzähl´s trotzdem.“, sagt er, und winkt die Treppe hinauf, die leere Tasche über der Schulter.
„Lass uns nach Nizza fahren,“, schlägt der geschätzte ehemalige Gefährte vor: Ein pittoreskes Hotel in der Altstadt, natürlich mit getrennten Zimmern, Tee im Negresco, Moules Frites bei Lou Pilha Vega, und dann weiter nach Antibes oder Menton. „Komm schon,“, sagt er. Die Gelegenheit sei in Ermangelung irgendwelcher kleinlichen Nachfolger überaus günstig, und überhaupt sei niemand so geeignet in der Rolle der freundschaftlichen Reisebegleitung wie der langjährige Exfreund, der alle enervierenden Eigenheiten kenne, und den sie nichts mehr angingen. Und sei nicht auch die polnische Reise mit einem anderen längst verflossenen Gefährten in nostalgischer, wenn auch nur bruchstückhaft kommunizierter, Erinnerung geblieben?
„Geht so.“, sage ich, und winke dem Kellner nach zwei weiteren Bionaden. „Erzähl doch mal.“, kommt die prompte Bitte., „Ist ziemlich verwickelt,“, antworte ich, „dauert ein bißchen länger.“, und schaue auf die Uhr. Nur noch zwanzig Minuten bis Ladenschluss. „Dann fang´ halt an, und erzähl demnächst mal weiter.“, sagt er und nickt dem Kellner dankend zu, der die Bionaden auf den Tisch stellt.
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Von Köln nach Kampen
In jenem fernen Sommer nämlich war mit J². wieder einmal Schluss für immer. Ich fuhr heim, er fuhr angeln, und als der R., einige Wochen zuvor auf einer Party kennengelernt, auf dem Bahnsteig stand, war ein paar Wochen lang alles in Ordnung, und das Leben weich und ohne scharfe Kanten. Im Herbst jedoch splittere das Glück, und eines Nachts rief ich, gestrandet auf dem Sofa einer fürsorglichen Freundin in Köln, den J² an. Das alles, so sprach der J² nach ausführlicher Schilderung des Vorgefallenen, höre sich hochgradig strapaziös an, und mein nervlicher Zustand mache einen erholsamen Aufenthalt an der See geradezu zur Pflicht.
Zwei Tage später wurde mir bei einem gemeinsamen Freund in Kampen aufgetan, und der J² wie mir gleichermaßen zugetane Gastgeber hörte sich die nächsten vier Tage abwechselnd des J². Lamento wie auch meine eigenen Beschwerlichkeiten an. Ein Herz und eine Seele wanderten J². und ich, in dem angemessenen Abstand, der den enttäuschten Hoffnungen geziemt, am Strande hin und her, und erzählten uns leise flüsternd alle unsere Geheimnisse, die man dem aktuellen Geliebten aus guten Gründen niemals verraten würde.
Von Kampen nach Warschau
„Ich war den ganzen Sommer nicht richtig weg.“, klagte ich dem J², und auch jener gestand ein gewisses Fernweh. Irgendwo, wo keiner von uns jemals gewesen sei, den Hauch des Abenteuers, den die ausgetretenen Pfade längs des Mittelmeers und der Küsten Skandinaviens nicht zu bieten haben würden, schwebte uns vor, und Geld hatten wir im Grunde auch nicht. Tschechien erwies sich als von mir ausreichend bereist, Finnland war uns zu teuer, und für einen Abstecher in gänzlich fernliegende Gefilde boten die zwei Wochen bis Semesterbeginn nicht mehr ausreichend Zeit. Das südliche Polen, so schien es uns, würde am ehesten unseren Wünschen gerecht, und so begaben wir uns zum Bahnhof in Westerland und kauften zwei Bahnfahrkarten. Der Gastgeber versuchte uns, den Plan auszureden, und empfahl abwechselnd Capri und diverse griechische Inseln. Am nächsten Morgen brachen wir auf.
Wie Sylt überhaupt zu einer beliebten Stätte der Erholung werden konnte, ist angesichts der Wetterlage, die üblicherweise in diesem Teil der Welt herrscht, ein Rätsel für sich. Es regnete. Tagelang, und wochenlang, und hätten wir gewusst, dass es auch in Polens nördlichen wie südlichen Landesteilen immerzu, eigentlich den ganzen Tag, regnen würde, dann hätten wir auf unseren klugen Gastgeber vielleicht doch vertraut und wären ans Mittelmeer gefahren, und alles wäre anders und besser gekommen. So aber standen wir im Regen von Sylt, warteten ein paar Stunden später im Hamburger Hauptbahnhof auf unseren Zug, während der Regen auf das Dach des Bahnhofs plätscherte. In Hannover regnete es natürlich auch, denn in Hannover regnet es gleichfalls eigentlich immer, und nach ungefähr zwanzig Stunden kamen wir in Warschau an.
J², begabt mit der Fähigkeit an eigentlich allen Orten und in so gut wie jeder Körperhaltung zu schlafen, war munter wie der junge Morgen. Ich war müde, schlechtgelaunt, hungrig, und ein Hotelzimmer hatten wir natürlich auch nicht. Warschau war häßlich. „Lass uns ausschlafen und nach Krakau fahren.“, schlug ich vor. „Am Bahnhof ist jede Stadt häßlich.“, meinte J², und handelte mit dem schmierigsten Hotelier Warschaus überteuerte Preise für ein schmutziges Zimmer aus. „Ich will hier nicht bleiben.“, sagte ich, schlief auf der Stelle ein, und als ich erwachte, war J² nicht im Hotel.
Sechs Stunden später war J.² wieder da. Ich hatte in der Zwischenzeit eine Sauerkrautsuppe gegessen, ausführlich durch die gräulichen Gardinen in den Regen von Warschau gestarrt und in der Lobby des Hotels zwei alte Ausgaben des Standard gelesen. Der Hotelier brachte mir von Zeit zu Zeit ein Gläschen Tee, und unter der ruhigen Oberfläche einer lesenden Frau in einem orangefarbenen Ledersessel quollen Tonnen von Magma und Lava gen Oberfläche, um sich sodann über den heimkehrenden J². zu ergießen.
J². blieb keine Antwort schuldig. Noch am selben Abend, beidseitig versehen mit tiefen – wenn auch nur verbalen – Fleischwunden, wechselte J². das Hotel, und bezog eine andere schmierige Absteige, deren genaue Lage und Beschaffenheit mir ebenso unbekannt wie gleichgültig war. Allein im dunklen Zimmer, frierend in klammer Bettwäsche, lag ich im Dunkeln, und sah den Autos nach, die langsam durch die Bahnhofsstraßen fuhren. Gegen Morgen griff ich zum Telephon und rief den R. an. Weit weg, in Köln am Rhein, nahm der verschlafene R. den Hörer ab, und versprach ein paar Stunden später, längst hatte das Zimmermädchen geklopft, sein Erscheinen in Polens Kapitale am Folgetag.
Und ich schlief ein.
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„Ich muss los.“, sage ich zum geschätzten ehemaligen Gefährten und stelle die leere Bionadenflasche auf den Tisch. „Bis bald.“, sagt der. Und ich verspreche, die Geschichte demnächst weitererzählen. Von Warschau nach Krakau bis zum Ende am Meer.
Am Abend zog mein Vater die Vorhänge zu, setzte sich in den Sessel, der heute vor meinen Büchern steht, und begann vorzulesen. Von den Gebrüdern Grimm und Erich Kästner über den Rheinischen Hausfreund bis zu C. F. Meyer, Stefan Zweig und Grillparzer wurden die Lesezeiten später und später, und irgendwann, mitten im Maupassant, packte ich meine Sachen und zog aus.
„Lies mir doch vor.“, bat ich mal den einen, mal den anderen, aber der eine erwies sich als unfähig, seine sarkastische Irritation über diese Bitte nicht in jedem gelesenen Wort mitschwingen zu lassen. Ein anderer unterbrach sich ständig beim Lesen, und riss mich mit seinen Anmerkungen und Anekdoten aus dem sanften Schwung der Worte, auf dem ich davongleiten wollte, erzählte dies und das, und schließlich bat ich nicht mehr, sondern las ausschließlich selbst. Der letzte, der geschätzte ehemalige Gefährte J., las nicht vor, und ob ich ihn nicht bat, ob er sich dem Lesen entzog, ist mir entschwunden, und auch er weiß es nicht mehr zu sagen. Gut geschlafen habe ich trotzdem, so warme Arme und den regelmäßigen Atem, das nächtliche, beruhigende Flüstern nach den schlechten Träumen, und am Morgen mit der Tasse Caffé Americano geweckt, die ich damals noch vertrug. „Wie spät ist es?“, war stets die erste Frage, und meist, musste ich nicht arbeiten, war es dann zehn. Oder elf, oder noch später, am kühlen, hellen Morgen nach Hause gelangt, und erst erwacht, wenn die Cafés längst die Markisen ausgerollt hatten zum Schutz gegen die Mittagssonne.
Ob es am Vorlesen liegt, oder am fehlenden Wächter des Schlafes und der Träume? Ob mein Schlafzimmer zu hell ist, oder meine Matratzen nicht optimal? Ob es einfach normal ist, jeden Morgen, aber auch jeden Morgen, um sieben zu erwachen allerspätestens, heimgekommen um drei, hellwach den Rechner noch einmal hochgefahren, oder leise plaudernd auf dem Balkon gesessen, bis auf der schwarzen Silhouette des Alex die hellen und die dunklen Felder sichtbar wurden.
An Naturheilkunde glaube ich schon aus Prinzip nicht, und so helfen Johanniskraut und Baldrian nicht durch die Nächte. Vor den obskuren Mittelchen der pharmazeutischen Wissenschaften graut mir noch ein wenig. Und vielleicht, so sage ich mir, wartet ja irgendwo noch ein Vorleser auf mich, der mich nach wiederum acht Stunden Schlaf mit einer Kanne Tee aus Träumen zieht, die keinen Wächter brauchen.
Ein Stöckchen vom wahrhaft verehrungswürdigen Herrn Kid kann man natürlich nicht liegenlassen:
1. Du steckst in der Welt von Fahrenheit 451, welches Buch möchtest Du sein?
Vielleicht Hugo von Hoffmannsthal, Der Tor und der Tod. Dabei sind die Schwächen dieses Buches Legion, der Stil kippt manchmal fast ins Süßliche und sein Eklektizismus stößt mit dem Kopf locker gegen die Stratosphäre. Der Verführung, die von dieser klingenden Melange von Schönheit, Sinken und Dämmerung ausgeht, kann ich mich trotzdem nicht entziehen. Die Angst, auf den Oberflächen des Seins letztlich am Lebendigen zu versagen, die halsabschnürende Furcht vor den scharfen Schatten des Nichts, hat in diesem schmalen Bändchen, Insel-Bücherei Nr. 28, einen Ausdruck weichen, goldenen Lichts gefunden, den ich vielleicht gerade seiner Schwächen wegen liebe.
2. Warst du je in eine Figur aus einem Buch verknallt?
Aber selbstverständlich. In Lord Henry Wotton zum Beispiel. Oder in Darcy. Im Allgemeinen in das, was jeweils gerade nicht zur Verfügung stand.
3. Welches Buch hast du zuletzt gekauft?
Von Alexander Lernet Holenia, Die Standarte, die man nicht gelesen haben muss, auch wenn Lernet-Holenia wunderbare Bücher geschrieben hat, den Baron Bagge zum Beispiel oder auch Beide Sizilien; außerdem von Hermann Kasack, Die Stadt hinter dem Strom, die in einem Zwischenreich zwischen Tod und Leben spielt, in dem Erinnerungen und individuelles Sein aus den jüngst Gestorbenen gespült werden, ein Vorwaschgang des Jenseits, und Manfred Fuhrmanns Geschichte der Römischen Literatur, um ein wenig gebildeter zu werden, falls mal jemand fragt.
4. Welches Buch hast du zuletzt gelesen?
Die Standarte, und Nadeschda Mandelstam, Das Jahrhundert der Wölfe, eines jener Bücher über den blutigen Tod des Traumes von Freiheit und Gleichheit im Gulag.
5. Welches Buch liest du gerade?
Die Stadt hinter dem Strom und Hunter S. Thompson, The Rum Diary, das hinter meinen Erwartungen bisher leider ein wenig zurückbleibt – aber Fear And Loathing in Las Vegas hat die Latte auch hoch gehängt.
6. Welche fünf Bücher nähmst du mit auf eine einsame Insel?
Fünf ist bitter. Man kennt ja die Prozedur vor dem offenen Koffer – nur zwanzig Kilo Gepäck und etwas anzuziehen braucht man ja auch noch. Wählen wir also aus:
1. Die Buddenbrooks natürlich. Immer wieder gerne. Wie der Tod die Konsulin Kröger bricht. Was habe ich über Christian Buddenbrook gelacht, mit Toni, dieser Verkörperung fehlgeschlagener guter Absichten, gelitten, dem Konsul Thomas bei der Anstrengung zugesehen, die Fasson zu wahren, und am Ende stirbt es sich dann doch, weil man nicht mehr zubeißen kann. Nur Hanno, den mag ich nicht, und hätte ihn bestimmt gekniffen in der Schule, Weichling, den.
2. Djuna Barnes, Nightwood, meinen magischen Gesang, Müdigkeit und Untergang. Oder doch die Gräfin Reventlow, Von Paul zu Pedro, jenes kleine charmante Büchlein über die Liebe, das ich mit 19 einmal geschenkt bekam von jemandem, der die Wahrheit hinter jenen lächelnden Zeilen bis heute nicht erkennen will.
3. Natürlich Theodor Mommsens Römische Geschichte, diese brillante, unterhaltsame, selbst in den ödesten Teilen zu Ackerbau und Kriegsführung nie langweilige Schilderung des Aufstiegs Roms. Mit Mommsen auf dem Nachttisch werden Generationen von Schülern von einer großen Karriere als Althistoriker geträumt haben – leider scheinen die Träume nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein: Die meisten Althistoriker schreiben sturzlangweilige Werke. Ähnlich amüsant zur Neuzeit ist dann wohl nur der geschätzte Friedell, der wiederum der exakten Wissenschaft weniger zuzurechnen ist, aber das kann mir als Leser zum Glück ja egal sein.
4. Proust. Die Suche nach der verlorenen Zeit. Daran lese ich seit Jahren, ein Buch, in dessen ebenso eleganten wie abseitigen Räumen man sich verlieren kann, aber zum sich Verlieren braucht man Zeit und Ruhe. Eine einsame Insel ist da genau das Richtige, um Sodom und Gomorrha zu verlassen und die verlorene Zeit wiederzufinden.
5. Und Eichendorffs Taugenichts natürlich, eine heitere, runde Unschuld, ein vormoderner Sehnsuchtsort, in dem die Zitronen blühen, die Wasser am Mühlbach rauschen und am Ende bekommen sie sich noch dazu.
Ja, und dann stehe ich vor dem Koffer, mein Reisegepäck geht kaum noch zu, hinter mir liegt ein Haufen Bücher – und muss wohl daheim bleiben. Ach, denke ich – was soll ich anfangen ohne den geliebten Doderer. Joseph Roth und Perutz, Virginia Woolf, Kleist, die französischen Naturalisten, denen ich doch gerne auf der Insel einen kleinen Altar aus Sand baute, mit Muscheln drauf. Aber der Koffer ist zu.
Langsam wird´s schwierig – aber Frau Arboretum hat noch kein Stöckchen gefangen. Und die Frau Brittbee soll auch einmal darlegen, was denn auf ihrem Nachttisch liegt. Und was Herr Parka liest, will ich auch mal wissen.
„Wir haben uns wieder vertragen.“, berichtet die A., und gießt sich ein wenig Milch in den Tee. Ihr Gefährte habe gelobt, die kleine und vollkommen bedeutungslose Eskapade mit einem äußerst muskulösen Herrn aus seinem Gedächtnis zu streichen, und hätte versprochen, nie wieder dieses leidige Thema anzuschneiden. „Modeste,“, sagt die A. „du kannst dir nicht vorstellen, wie er auf der Sache herumgeritten ist. Als wäre sonstwas vorgefallen.“ Einen Augenblick denke ich mit Mitleid an den klugen und stillen Freund der A., in dessen Koordinatensystem vermutlich tatsächlich nicht nur sonstwas, sondern der größte anzunehmende Unfall stattgefunden hat. „Armer Kerl.“, sage ich deswegen. A. schnaubt.
„Wirklich, Modeste, ich liebe ihn, ich würde ihn morgen heiraten.“ sagt A., und schiebt sich den letzten Rest eines Merveilleux in den Mund. „Aber so hinter dem Mond kann man doch gar nicht leben. Ich habe ihn gefragt – sind deine Eltern treu – ist irgendwer treu, den du kennst? Treu ist keiner, die einen reden nur mehr drüber als die anderen, also bitte.“ Ehrlich entrüstet schaut mich die A. über den Rand ihrer Teetasse an. Die stattgefundenen Diskussionen stehen mir lebhaft vor Augen.
„Und darauf hat er sich eingelassen?“, frage ich die A., die aufgebracht den Kopf schüttelt. „Mit dem Mann kann man ja nicht vernünftig reden.“, meint die A. Sie habe alles versprochen, und sei selber gespannt, wie lange die guten Vorsätze halten.
„Und jetzt gehen wir shoppen, ja?“, fragt die A. und schildert einen dramatischen Mangel an Oberbekleidung.
„Liebe Modeste,“ steht in der Klappkarte mit dem Brautpaar vorne drauf, „vielen Dank für die schönen Eierlöffel, die wir jeden Morgen benutzen!“ – Nichts zu danken, denke ich, und bewundere ein wenig das Brautkleid mit einem Überwurf aus elfenbeinfarbener Spitze, das geschmackvolle Diadem, und die – mir unbekannte – lächelnde Braut mit rotblonden aufgesteckten Haaren. Ich war nicht auf der Hochzeit.
„Erstklassige Feier“, berichtet der T. auf telephonische Anfrage, und hebt die Familie der Braut hervor, deren Familie schon mit Heinrich dem Löwen gen Osten ritt. Der Bräutigam habe Glück gehabt. „Wieso bist du nicht mitgekommen?“, fragt T., und berichtet, es sei nach mir gefragt worden. Der Bräutigam G. habe sich am Abend mit T. eine ganze Weile über mich unterhalten und bedauert, dass der enge Kontakt nach dem Umzug in der Oberstufe so schnell versiegt sei. Auch die N., enge Freundin sowohl des G als auch von mir, sei leider nicht dagewesen, heirate aber selbst im Herbst in Wien. „Heiratet bestimmt nicht irgendwen, die N.“, beschließt T. das Gespräch, und damit hat er wohl recht.
Damals, frisch in der Obertertia, war die N. meine lässige Nebensitzerin, ein Mädchen wie von Arno Breker in Stein gehauen, und zu ihren Füßen lag die halbe Oberstufe und winselte. Schließlich küsste sie den Schlagmann des Schulachters, um ihn noch vorm Ende des Halbjahres gegen einen athletischen Studenten auszutauschen, der nicht nur adelig war, sondern auch reich. „Du brauchst auch einen Freund.“, sagte die N. nachmittags zu mir, teetrinkend auf unserer Veranda. – Zwar teilte ich diese Auffassung der N., die Anschaffung eines Gefährten allein erwies sich insbesondere vor dem Hintergrund schwierig, dass ich, ganz für mich, mir schon einen Kandidaten ausgesucht hatte, den G. nämlich, jenen inzwischen frisch verheirateten Herrn.
Die Schritte, die Menschen unternehmen, um denen nahe zu sein, die sie verehren, haben es an sich, dass sie nur dann nicht unendlich tölpelhaft, peinlich aufdringlich und unglaublich ridikül wirken, wenn es denn letztendlich klappt, und man sich eines Tages in die Arme sinkt. Diese Erkenntnis jedoch blieb einem späteren Lebensalter vorbehalten, und so begab sich mein fünfzehnjähriges Ich in den Redaktionsraum der Schülerzeitung, um dort die Mittelstufenseite vollzuschreiben, und dem G. näherzukommen. In der Pause zerrte ich N. auf den Raucherschulhof, wo der G. herumstand, und bis heute fürchte ich, dass meine Teilnahme am Finale von „Jugend trainiert“ in gleich drei Wettkampfklassen im wesentlichen auf den Wunsch zurückzuführen war, G. zu begleiten.
Die Kalkulation, G. wenigstens kennenzulernen, ging immerhin auf. Wir gingen ins Kino, ich trank meinen ersten Gin Tonic auf seinem 18. Geburtstag, und G. versuchte mir erfolglos, Chemie beizubringen. Nachts träumte ich vom G., morgens wartete ich auf ihn im Foyer der Schule, und eines Tages fasste ich mir ein Herz, und griff nach seiner Hand. Ein paar Minuten saßen wir so da, ich umklammerte seine Finger, und schließlich zog G., seine Linke vorsichtig weg, alle Himmel stürzten ein, ich heulte eine Woche am Stück und wollte nie mehr in die Schule gehen.
Ein paar Wochen später stand der G. vor unserer Haustür, ich schöpfte neue Hoffnung, kochte eine große Kanne Tee, und erfuhr, dass sich auch G.´s Herz keineswegs auf dem freien Markt befand. Das Mädchen, dem seine Neigung gehörte, war blond, schlank und sportlich, verbrachte seine ganze Freizeit auf Pferden, und sprach so gut wie nie.
„Tja, dann –„, sagte ich, und lächelte vernichtet und ein bißchen geniert vor mich hin. G. nickte, verabschiedete sich, und ein paar Wochen später war die schweigsame Blonde seine Freundin. „Nimm´s dir doch nicht so zu Herzen.“, riet die N., und versuchte, mein Augenmerk auf andere nette Menschen zu lenken. Wer einen nicht liebe, sei einen auch nicht wert. Geradezu eine Notwendigkeit des Stolzes sei daher unverzüglich ein fester Freund, damit weder der G. und auch sonst einer bemerke, dass mir die ganze Sache ja offenbar ein wenig mehr zu Herzen gegangen sei, als man noch als vernünftig bezeichnen könne. Überdies gebe es nichts, was vor den Augen der Welt lächerlicher sei als vergebliches Hinterherlaufen.
Ich schwieg und litt also im vollen Bewusstsein, mich gerade unsterblich zum Depp zu machen, und spazierte ein paar Wochen im Winter neben einem Studenten mit Überbiss über den Weihnachtsmarkt, dessen Namen ich vergessen habe.
Mit dem Hochzeitsphoto in der Hand stehe ich ein paar Minuten am Fenster. Aus dem Hinterhof winkt mir ein Nachbar hoch, ich winke zurück, und setze mich wieder an den Schreibtisch. Irgendwo, in einer Ecke, sitzt mein fünfzehnjähriges Ich und schnieft ein bißchen vor sich hin. „Blöde Bratz´n“, sage ich zu dem kleinen Mädchen, das ich schon so lange nicht mehr bin. Das kleine Mädchen erzählt von Hochzeiten in weiß, Nächten mit dem Kopf an einer warmen Schulter und Zusammenbleiben für immer.
„Schmink´s dir ab.“, sage ich, und schicke die Kleine weg.
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