Das Fräulein Modeste, so erwarten Sie vielleicht, wird am Montag, und wenn das Wetter schön ist, vielleicht bei „Lass uns Freunde bleiben“ ihren Pfefferminztee trinken, und nette Menschen werden ihr ein bißchen erzählen, wie sich ihr Leben so anfühlt unter strahlend blauem Himmel. Am Dienstag geht sie möglicherweise einmal aus, kommt wieder allein nach Haus, und ist dann am Mittwoch ein wenig betrübt und erwägt kurzzeitig einen Besuch bei Weight Watchers. Am Donnerstag geht sie am Helmholtzplatz die Schokolade einkaufen für jene Sachertorte, die sie zum Blogmich am Samstag mitbringen wird, und am Freitag wird sie jene backen.
Leider, leider – weit gefehlt.
Am Montag, am Montagmorgen sogar, kurz nach halb elf, besteigt eine ziemlich mißmutige Person am Ostbahnhof einen Zug Richtung Osten und verbringt fünf geschlagene Tage in einer Seminarstätte, die laut ihrer Homepage vor allem „Einkehr und Stille“ zu bieten hat. Ob die Anbieter von Einkehr und Stille ihren Gästen zumindest die Kommunikation mit der Außenwelt per Internet ermöglichen werden, ist vor diesem Hintergrund leider weniger wahrscheinlich.
Wenn Sie bis Freitag nichts von mir lesen, gehe ich, zu deren persönlichen Wünschen Einkehr und Stille eher weniger gehören, in einem abgelegenen Winkel der Republik gerade die Wände hoch.
„Findest du den Flyer gut?“, fragt der Junge vom Nachbartisch, beugt sich weit über mein Teeglas und schiebt mir sein iBook entgegen. „Tja,“, sage ich, „kommt drauf an.“, und frage, welcher Art das beworbene Ereignis eigentlich sein würde. Sein Projekt, so hebt der Junge an und deutet mit einer grazilen Handbewegung zum Display, auf dem es blau und schwarz schimmert, thematisiere den Mangel an authentischen Erlebnissen im Leben des postmodernen Großstädters durch das Auftreten von Schauspielern auf Parties, die er und sein Partner in Privatwohnungen veranstalten würden. Die Schauspieler würden im Verlaufe dieser ansonsten ganz normalen Parties Szenen nachspielen, die jeder schon einmal erlebt habe, und sich dabei nicht als Schauspieler zu erkennen geben.
Auf diese Weise, schließt der Junge – nachdem er noch viel mehr gesagt hat – würden die Gäste am Ende nicht mehr wissen, was real und was Vorführung sei, und die Grenzen von Kunst und Leben würden sich in der Wahrnehmung der Gäste ins Ungefähre verschieben, wo dann alles authentisch oder alles künstlich sei.
„Oha,“, sage ich und bestelle mir am Tresen eine Bionade, während der Junge mit etwas ratlosem Interesse den Text auf dem Display meines Notebooks überfliegt. „Ist ja schwere Kost.“, meint er, als ich mit der Flasche in der Hand zu meinem Tisch zurückkehre.
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„Ich finde die kreative Energie toll, hier vibriert alles so.“, sagt die Frau vor der Weinerei und zerwühlt mit der Hand ihren Pferdeschwanz, während sie fortfährt: „Ich würde nirgendwo anders leben und arbeiten wollen. Außer vielleicht in NY, also das schon. Hier ist aber so´n Brennpunkt von Energie, da entsteht soviel Neues, Tolles, dass, wenn ich mal für ein paar Wochen woanders bin, dann merke ich das ganz deutlich, wie sich das bei mir auswirkt. Auf meine Arbeit, meine ich.“ Um uns herum sitzen ein paar Gäste träge auf den Stühlen und schauen den Fahrradfahrern auf ihrem Weg die Invalidenstraße herab zu. „Was machst du denn eigentlich genau?“, frage ich die rothaarige Frau, die ich über selbst eher entfernte Bekannte vage kenne. „Was mit Veranstaltungen.“, sagt die Frau und springt auf, eine Freundin zu begrüßen.
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Dass so gut wie jeder junge Mann, der einem auf den öffentlichen Sofas der Stadt begegnet, den großen Berlinroman schreibt, ist zumindest den Ortsansässigen nichts Neues. Erregt, denn die Sache ist wichtig, schildern die jungen Männer in allen Dialekten der Republik den geplanten Geschehensverlauf ihres opus magnum, das eigentlich immer von jungen Männern handelt, die nach Berlin kommen. Ob diese Romane ungeschrieben in den Gehirnen jener jungen Männer verrotten, oder von den Lektoraten irgendwelcher Verlage ungedruckt retourniert werden, gehört dabei zu denjenigen Umständen des Lebens, über die ich schon aus Taktgefühl wenig weiß, denn wer mag schon einen hoffnungsvollen Literatureleven fragen, was eigentlich aus seinen Romanplänen geworden ist. Einen zumindest individuellen Einblick in das Ausbleiben des großen Berlinromans verschaffte mir allerdings ein netter, pausbackiger Bekannter, der eines Nachts gestand, gar nicht angefangen zu haben.
„Weißt du,“, meinte er, mehr zu den eleganten Hängeleuchten gewandt als zu mir„wenn ich bei meinen Eltern in Garmisch bin, kann ich nicht schreiben, da fehlt mir das Flair der Stadt, da kann ich mir mein Leben in Berlin kaum vorstellen. Und wenn ich in Berlin bin, ist immer zuviel los. Da komm´ ich zu nichts.“
Es muss eine Zeit gegeben haben, als für Ehre noch gestorben wurde, und für Liebe sich die Klippen herabgestürzt, denn die Duelle gab es ja nicht nur auf der Bühne, und das Publikum muss die Rache am Verführer genauso nachvollzogen haben können wie diejenige am Mörder des Vaters. In einer Gesellschaft, zwischen deren Säulen eine Frau in jeder Hinsicht verloren sein konnte, wenn man sie im Zimmer eines anderen antraf, und nicht statt mit X mit Y zukünftig ihre Tage verbringen würde bis auf Widerruf, sondern den Rest ihres Lebens im Kloster verbringen konnte, wenn es denn schlimm kam, muss die Liebe noch etwas wahrhaft Schicksalhaftes besessen haben.
Fern und unverständlich ist nicht der Wunsch der Zerline, Herrin auf einem Schloss zu werden. Vertraut, wenn auch nicht eigen, mag sogar der Don Giovanni sein, der dämonische Verführer und gelangweilte Lebemann. Auch den Zwiespalt, den kennen wir, die Schmerzen der Donna Elvira, den Verbrecher zu erkennen, ihn bekämpfen zu müssen und ihn trotzdem zu lieben, ist uns nicht unvertraut, die wir dort sitzen, Türsteher und Croupiers in jenem Casino, zu dem unsere Welt geworden sein wird in den Augen der Späteren. – Aber dass sie ihn liebt. Dass sie sich nicht abwendet, weil beide doch ersichtlich nicht dasselbe Beziehungsmuster goutieren. Oder weil auf jemanden, der so ist, wie Don Giovanni es idealtypisch eben lebt, doch kein Verlass sein wird, und man sich das nicht antun möchte. Dann trennt man sich eben, ruft alle Freundinnen an, lange Abende bei Rotwein oder Tee, und nach ein paar Wochen geht man wieder vor die Tür, nächtelang durch die Clubs, bis die Ohren schmerzen, und irgendwann wacht man wieder zu zweit auf, oder eben auch nicht.
Wahrscheinlich ist die Operation, die der Liebe den Ernst und das Schwere herausgeschnitten hat, eine gute Sache. Es gibt vermutlich kaum etwas Vernünftigeres, als sich kennenzulernen, ein paar Jahre miteinander gut auszukommen, zusammenzuziehen, und wenn es dann nicht harmonisch zugeht, dann sucht sich jeder wieder eine eigene Wohnung und gibt eine Kontaktanzeige auf. „Wir haben zu unterschiedliche Lebensvorstellungen“, sagt man dann, oder auch „Ich bin mit seinem Beziehungsmodell nicht klargekommen.“ Und alle Freundinnen nicken ernsthaft und sagen, dass die Trennung dann doch wirklich das beste war.
Dann klappt es auch mit dem nächsten nicht. Der übernächste hat ernsthafte Probleme, die man nicht aushält den ganzen Tag. Der drauf ist zu lieb, und seine Witze findet man auch nicht komisch, und die Freunde fangen langsam an zu mahnen, man möge doch seine Vorstellungen einmal langsam der Realität anpassen. Nachts fährt man im Taxi nach Haus, lobt die Besetzung, vergleicht Inszenierungen und lästert ein bißchen über die Kluft, in der die Berliner ihre Opernhäuser besuchen, und heute nacht an der Bar wird man so wenig sein Herz verlieren, wie in allen Nächten davor.
Meist am Freitag kam ich an der „Bücherstube“ vorbei, zwischen Uni und Innenstadt gelegen. Die Bücherstube war winzig klein, ein langer, dunkler Raum mit kleinem Schaufenster, das stets mit Bücher dekoriert war, von der die Hausherrin gewusst haben muss, dass die Werbewirkung eine sehr zweifelhafte sein würde. Auf kleinen Pappkärtchen neben den Büchern hatte die Besitzerin stets ein paar einführende Worte zu dem jeweiligen Werk notiert, deren Zusammenstellung von Tagesereignissen und dem Lauf des Jahres bestimmt war.
Vor der Tür standen zwei Kartons mit alten Büchern, einer mit solchen für zwei Mark und einer mit Taschenbüchern, die man schon für eine Mark bekam. Die Auswahl der feilgebotenen Bücher in den wandhohen, honigfarbenen Kieferregalen war mehr vom Geschmack der Buchhändlerin als von merkantilen Überlegungen geprägt, und so kam es, dass ihre wenigen Kunden ihr nicht nur von Angesicht sondern sogar mit Namen bekannt waren.
Der Freitagsbesuch bei der Bücherstube wurde zu einem der ersten Rituale in jener westfälischen Stadt, in die die ZVS mich zu verfrachten die Güte hatte. Die Buchhändlerin hatte so gut wie nichts vorrätig von meinen angestrebten Leseerlebnissen, musste alles bestellen und bot ab und zu statt dessen Werke von Christa Wolff an, schenkte mir sogar einmal ein Buch von Gudrun Pausewang, die nicht nur brutale Kinderbücher geschrieben hatte, sondern zumindest damals auch versuchte, Erwachsene mit ihrer literarischen Tätigkeit zu belästigen.
Manchmal, gerade samstags beim Abholen der bestellten Bücher, waren noch andere Kunden da, ein Ratsherr der Grünen, ein paar Lehrer, ein paar Universitätsangehörige, und diskutierten miteinander ruhig und in schleppendem Tonfall über Politik und Literatur. Die Buchhändlerin brühte Tee auf, auch ich bekam einen emaillierten Becher in die Hand gedrückt, und setzte mich mit an den Kassentisch, der eigentlich ohnehin bloß ein alter Esstisch war, da die Buchhändlerin sowieso keine Kasse hatte.
„Haben sie Kinder?“, fragte ich die Buchhändlerin einmal. Sie verneinte. Einen Mann gab es in ihrem Leben auch nicht, abends sah ich sie ab und zu in dem einzigen Programmkino der Stadt oder auf einer Lesung, meist allein. Manchmal, wenn ich mir die frisch erstandenen Bücher in die Tasche gepackt hatte und den Laden verließ, tat mir die Buchhändlerin leid und ich stellte mir vor, wie eines Tages einer der Lehrer oder ein ganz neuer Kunde in das Geschäft kommen würde, und sich in die hochgewachsene Frau mit den glatten, langen Haaren verlieben würde.
Später, als ich längst nicht mehr in dieser Stadt zuhause war, und gelegentlich dort einmal Freunde besuchte, war ich noch einige Male in jener Buchhandlung. Die Buchhändlerin kam mir stets entgegen, fragte mich nach meinem Werdegang, meinem Freund, den neuen Städten und auch, was ich gelesen hätte. Es tat sich eine Menge in jenen Jahren. „Sie müssen ein aufregendes Leben führen.“, sagte die Buchhändlerin einmal zu mir, und ich fragte mich, ob sie mich beneide oder bedauerte.
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Seit drei Jahren bin ich nun schon in der gleichen Stadt. Am Morgen stehe ich auf, esse Müsli und lese ein bißchen in der Zeitung. Dann arbeite ich, am Abend gehe ich aus. Nachts schlafe ich alleinm und denke manchmal an die Möglichkeit, dass sich das nicht mehr ändern wird, und dass dieses Leben mein Leben sein wird, bis ans Ende meiner Tage.
Ich habe selten ein freudloseres Kinderfest gesehen. Links und rechts der Straße des 17. Juni säumten ungefähr zwanzig Hüpfburgen den Straßenrand, türkische Lebensmittelhersteller boten Grillkäse feil, und gemeinnützige Organisationen boten kindgerechte Aufklärung über wichtige Probleme der Gegenwart und der Körperpflege. Mit einem Gesichtsaudruck, der zwischen mürrischer Pflichterfüllung und quengelndem Überdruß changierte, sprangen die Minderjährigen auf den Hüpfburgen herum. Alle Kinder waren ziemlich häßlich.
„Du kannst dir das nicht vorstellen,“, sage ich ein paar Tage später zum T., und beschreibe die bleichen, teigigen Kindergesichter und deren übergroße Hände und Füße. Normale Kinder waren fast gar nicht zu sehen. „Ist genetisch,“, meint T. und verweist auf die Tatsache, dass normale Eltern, in deren Genpool solche Nachkommenschaft gar nicht vorgesehen ist, derartige Volksbelustigungen nicht zu besuchen pflegen. Ich bestreite aus den Tiefen meines inzwischen vollständig verschleimten Hauptes eine genetische Prädisposition zur Normalität in jenem Sinne, in dem T. den Begriff gern verwendet. „Politische Korrektheit führt selten zum Ziel.“, meint T. tadelnd und verweist auf die britischen Inseln, auf denen weite Kreise der Bevölkerung ein wesentlich entspannteres Verhältnis zu jenen Axiomen hegten, die T. als Tatsachen betrachtet: Die verschiedenen Kreise der Bevölkerung Großbritanniens entstammten schlicht nicht demselben genetischen Pool. In Deutschland sei das bedingt durch jahrhundertelange politische Instabilität ein wenig anders, aber ein Blinder könne doch sehen, dass die durchschnittlichen Bewohner eines heruntergekommenen Sozialbaus in einem schlechtbeleumdeten Viertel der Stadt sich nicht durch ihren Kontenstand von anderen Menschen unterscheiden, sondern bereits optisch auffällig seien.
„Das ist die Ernährung. Und Haarschnitt und Kleidung.“, meine ich, und dass sich Dummheit ab einem bestimmten Alter auch in den Gesichtszügen ausdrückt, wenn die Leute eben einfach etwas zu oft ihre Haut in ziemlich dumme Falten gelegt haben. „Ich bitte dich – ganz unter erwachsenen Leuten.“, wischt T. Bedenken vom Teetablett und legt ein Weltbild dar, welches im wesentlichen auf einer Umdrehung des üblicherweise angenommenen Zusammenhanges von Ursache und Wirkung im Erscheinungsbild und Habitus jener Menschen beruht, die dauerhaft der öffentlichen Fürsorge und minderwertigen Unterhaltungsangeboten anheimfallen. „Das kann man doch so nicht sagen.“, halte ich dem T. ein wenig geniert vor. „Das sind doch bloß die Denkverbote und Tabus des sozialdemokratischen Zeitalters.“, gibt T. als ein regelmäßiger Leser konservativer Frankfurter Periodika zurück, um sich alsbald zu verabschieden.
Und das, denke ich, ist noch das Privatweltbild eines promovierten Zeitungslesers. Wie die Privatweltbilder derjenigen aussehen, über die T. gerade spricht, mag man sich da gar nicht vorstellen – allerdings sprechen gewisse Anzeichen dafür, dass Verschwörungen, der Präsident der USA, und Erscheinungen, die man gemeinhin eher den Parawissenschaften zurechnet, in den Privatweltbildern der Deutschen ohnehin eine große Rolle spielen. Esoterik, Strahlungen, und ungesetzliche Tätigkeiten der öffentlichen Hand zur Informationsgewinnung bezüglich der Bürger dürften auch beliebt sein.
Und wie die skurrilen Seiten des eigenen Privatweltbildes ausschauen, entzieht sich glücklicherweise der eigenen Betrachtung wie Bewertung.
Im Trenchcoat über dem Poloshirt nur einmal kurz ins 103, und dann doch weiter, bis es dunkel ist und kalt. In jenem Tweedblazer, der den Spott meiner sagenhaft unkonventionellen Bekannten bildet, durch´s dunkle Friedrichshain, und sich erst zu spät einen Anorak leihen, die Nacht über frieren, und dann doch am Morgen über den Markt mit zu wenig an; auf dem windigen Balkon der C. sitzen und feststellen, dass Weißwürste trotz bedenklicher Zutaten doch immer noch schmecken. In Tiergarten vergeblich Brotkörbchen jagen, durch die ganze Stadt zu Fuß zurück, und daheim ist es eisig, auch wenn das Thermometer das Gegenteil sagt. Nachts unter zwei Decken frösteln.
„Hast du wenigstens Appetit?“, sagt der T., und ich bejahe diese an sich idiotische Frage: Den Zustand, in dem mir das Essen nicht mehr schmeckt, habe ich noch nicht erlebt. Aber der Hals kratzt ein bißchen, mein Gehirn ist ein wenig langsamer bei Bewegungen als der restliche Kopf, ich stecke ästhetikfrei in meinem dicksten Wollpullover, und quäle mich sinnlos durch die Seiten.
„Pack dich ins Bett“, rät T., und verspricht aufheiternden Besuch wie nahrhafte Versorgung in den Abendstunden. Ich rege die Lieferung von Torte an, erbitte dringend sehr romantische DVD´s, in denen Hochzeiten vorkommen, und etwas Beruhigendes zum Lesen. Morgen früh, hoffe ich dabei, ist alles wieder gut, der Wollpullover kann verschwinden, und die Zigaretten sollen wieder schmecken.
Sollte ich allerdings doch länger darniederliegen, und Dich, o Leser, in den nächsten Tagen mangels anderer berichtenswerter Aktivitäten mit meiner Lektüre langweilen müssen, dann wird es auf diesen Seiten wieder einmal recht still. Und was es für ein sonderbares Licht auf meine geschätzten Lesern wirft, die die aussichtslosen Ruinen meines Liebesleben eifrig goutieren, und meine um ein vielfaches unterhaltsamere Existenz als Leserin nicht wissen wollen – tja, da mache ich mir Gedanken drüber, wenn die Watte weg ist, die gegenwärtig meine Hirnschale füllt.
„Jedenfalls ist er jetzt ziemlich sauer.“, beschließt meine liebe Freundin über einer Tasse Tee die Erzählung über das Ende der Ehe ihres früheren Arbeitgebers, der wohl auch als Vorgesetzter nicht die angenehmste aller denkbaren Existenzen darstellt. Sonst, so meine Freundin, hätte sich die ganze Geschichte möglicherweise ja auch gar nicht so herumgesprochen, allerdings hat besagter Herr durch die Jahre schon einiges dafür getan, dass seine Untergebenen ein reges Interesse an seinem Privatleben entwickelt haben.
Jener Herr, eher etwas älter und unansehnlicher, habe lange Jahre seines Lebens als ein geschiedener Mann seine ganze Energie dem Wohl seiner Firma gewidmet. Die Pflege bekam jenem Unternehmen prächtig, und so wuchs und gedieh der Kreis seiner Untergebenen und das Konto des Chefs dazu. – Zwar sagt der Volksmund, mit Speck finge man Mäuse, besagter Volksmund scheint aber doch etwas anderes zu meinen: Der Chef blieb unbeweibt.
Dass dieser Zustand nicht auf Freiwilligkeit beruhte, ging aus den chefigen Worten klar hervor. Frauen, so der Chef, seien ein oberflächliches und naseweises Volk, welches, verrannt in völlig unzutreffende Vorstellungen über die Liebe und das Verhältnis zwischen Frau und Mann, ihn in himmelschreiender Weise verschmähe. Frauen, so gab der Chef gern zum Besten, hätten Frauen zu bleiben, ein Mann sei ein Mann, und die Emanzipation der Damenwelt habe eine Menge Schaden angerichtet.
Die Jahre verstrichen, der Chef wurde noch ein bißchen älter und noch ein bißchen unansehnlicher, da ergab es sich, dass die Vorstellungen jenes Herrn andernorts auf größeres Verständnis zu stoßen schienen, und er sich aus – zumindest für seine Untergebenen – heiteren Himmel mit einer russischen Dame verheiratete, welche alle Vorzüge wahrer Weiblichkeit in sich vereinte, wie der Chef nunmehr zum Besten gab. Die Nachfrage nach deutschen Frauen werde in Zukunft gen Null sinken, und allein mit ihrer Zickigkeit würden jene Damen zwischen Flensburg und Rosenheim sich noch einmal überlegen, ob es so eine gute Idee sei, statt eines gestandenen Mannsbildes eine eierlegende Wollmilchsau mit ihren Launen und Ansprüchen zu peinigen. Der eine oder andere der männlichen Untergebenen soll sich diesen Ausführungen gelegentlich angeschlossen haben, für entsprechende Taten reichte die Vergütung der im Dienste des Chefs ausgeführten Verrichtungen aber wohl eher nicht aus.
Ein – wenn auch weibliches – Kind gebar die russische Dame dem Chef, führte seinen Haushalt zur vollen Zufriedenheit, und der Chef kaufte ihr schließlich ein kleines Auto, in jenem ländlichen Raum geradezu eine unabdingbare Lebensvoraussetzung, so ähnlich wie Trinkwasser. Ab und zu ging das Auto kaputt, der Chef bezahlte die Reparaturen in einer kleinen Werkstatt, und so geschah es wohl im Laufe der Zeit, dass die russische Dame eine Freundschaft zum Inhaber der Reparaturwerkstatt aufbaute, und schließlich aus der Freundschaft ein vertrautes Verhältnis wurde, das am Ende in den Auszug aus dem Hause des Chefs mündete. Das Kind nahm sie mit.
Die Scheidung läuft. Der vorteilhafte Aufenthaltsstatus der Dame ist außerordentlich gesichert, sie soll in jenem kleinen Ort eine Berufstätigkeit begonnen haben, und in großer Harmonie mit dem Reparaturwerkstattinhaber durch die Straßen jenes kleinen Ortes spazieren, in dem man sich nicht selten begegnet.
Dass auch unglaublicher Undank Unterhaltsansprüche nicht ausschließt, wird wohl das Familiengericht klären.
Es ist eisig in den Tilsiter Lichtspielen, und nicht nur meine Zehen verwandeln sich langsam in eine kalte, harte und brüchige Substanz. Auf der Leinwand rollt eine Menge irrwitzig verwandelter Schrott umher, ich lache ein wenig, und schiele zu meinem Begleiter, dessen Lachen mit zunehmendem Verlauf der Handlung eher etwas eindeutig Angewidertes annimmt.
„Hat dir der Film gefallen?“, frage ich auf dem Weg nach draußen, und er wiegt abwägend und ein wenig vorsichtig den Kopf. „Geht so.“, erfolgt als sparsame Antwort, und wir sprechen über etwas anderes. Vor der Tür schlägt mir die Kälte entgegen und schlägt kleine Krallen in mein Gesicht. „Willst du meine Jacke haben?“, fragt J², und als er zum zweitenmal fragt, auf der Frankfurter Allee Richtung Osten, nicke ich. Auch nicht viel wärmer.
Später, zwanzig frostige Minuten später, wärme ich meine Hände über der Kerzenflamme, wir sprechen über alte und neue Zeiten, und mit den Stunden leert sich der Raum. Als wir zahlen, fegt die Kellnerin den Boden.
„Weißt du, wie lange die Ringbahn noch fährt?“, fragt der Begleiter, und ich schüttele den Kopf. Keine Ahnung. „Wie lange lebst du schon hier?“, merkt er stirnrunzelnd an, und ich erläutere ein wenig meinen üblichen Bewegungsradius und die dazugehörigen Fortbewegungsmodalitäten, zu der die Ringbahn eher selten gehört. Als wir auf dem Bahnsteig stehen, ist die letzte Bahn weg, und der Weg einmal quer durch die Stadt weit.
„Du kannst mein zweites Bettzeug haben.“, sage ich, angekommen in der eigenen Wohnung, und dann: „Gute Nacht.“, beziehe das Sofa für Gäste und schließe hinter mir die Tür. Verdammt kalt ist es auch hier, seit Stunden steht die Balkontür offen, die ich vergessen haben muss, bevor ich irgendwann am Nachmittag das Haus verließ. Fröstelnd ziehe ich mir diese Nacht nur eine einzige Decke hoch bis unters Kinn.
Ach – damals, denke ich, und ergehe mich ein bißchen in sentimentalen Erinnerungen an die guten Zeiten mit dem vormals geschätzten Gefährten J. mit den warmen Füßen, den feinen Händen und einer weichen Schulter, den Kopf darauf zu legen. Mein Begleiter tappt derweil Richtung Bad, und so erinnere ich mich auch an ihn ein bißchen, an die guten Zeiten, die es ja irgendwann gegeben haben muss. So lange ist das her.
Minutenlang bleibt der Begleiter im Bad. Ob du kämest, wenn ich dich frage, überlege ich ein wenig, und bin mir nicht sicher. Wenn ich mir sicher wäre, denke ich dann, würde ich dann nach dir rufen? Auch, ob du dich gut anfühlen würdest, weiß ich nicht, und ob es nicht nur ein Ersatz wäre, für etwas, was es gerade nicht gibt, und was die Auseinandersetzungen nicht wert wäre, die nachkommen würden, und die Stürme in der Begleiterseele samt Begleiterbeziehung auch nicht.
„Du hast ja an und für sich ganz schöne Zähne.“, sagt die Urlaubsvertretung und leuchtet mir in den Mund. „Mmmmh,“, antworte ich und betrachte an der Wand, patientenfreundlich etwas höher als angebracht als üblich, die eingerahmten Querschnittsdarstellungen kariöser Zähne.
Nie, denke ich beim Anblick des leicht angegrauten Sprechzimmers und des unrasierten Zahnarzthalses, wäre ich aus freien Stücken zu diesem Herrn gegangen, der mit einer mürrischen Sprechstundenhilfe sich nun anschickt, meinen Mundraum zu betäuben. Am Morgen jedoch, just beim Verzehr eines ohnehin eher deprimierenden Trockenfrüchtemüslis geschah es, dass eine harte Substanz, ein Steinchen vielleicht oder eine besonders harte Frucht eine der vielen Füllungen, die meinen Mundraum zieren, ihrer Stabilität beraubte. Die Füllung brach, ein bedenklich großer Teil fiel mir aus dem Mund, und ein wenig erschrocken – denn große Angst hege ich vor Dentalmedizinern – saß ich eine ganze lange Weile mit der Zeitung an der Hand am Frühstückstisch. Und meine Zahnärztin ist in Urlaub. In dringenden Fällen, ist dem Anrufbeantworter zu entnehmen, wende man sich bitte an besagten Herrn, der mir fröhlich duzend ins leere Wartezimmer entgegenkam.
„Was haste denn für´n Problem?“, frug mich der Zahnarzt und zog einen weißen Kittel aus einem Schrank in der Ecke. Meine Schilderung beantwortete der Zahnarzt mit einem freundlichen Grunzen und zog mich sodann auf den Zahnarztstuhl. Er, so der Zahnarzt, praktiziere seit mehreren Jahren eigentlich so gut wie gar nicht mehr. Für Tochter und Neffen jedoch mache er mehrmals jährlich noch die Urlaubsvertretung, auch sonst wohl für den einen oder anderen Kollegen, wie jene Dame etwa, der sonst die Sorge für meine Zähne obliegt. „Aaaah.“, sage ich und betaste mit der Zunge vorsichtig die nun taube Stelle. „Schöne Krone ham´se da.“, meint der Zahnarzt, und tippt mit einem hakenbewehrten Metallstab auf den Zahnersatz. „Jold hätt ick nich machen lassen.“, fährt er fort, während er die Füllmasse in den Zahn drückt. Schon in wenigen Jahren, fährt er fort, würde Zahnsubstanz einfach in den Knochen von Ratten nachgezüchtet werden können. Im Labor sei das heute schon der Fall, die kommerzielle Verwertung daher nur noch eine Frage der Zeit. Also wozu langlebige Füllungen und Kronen, Provisorium sei ohnehin alles.
Ob ich denn auch eine Zahnpasta benutze zum Aufhellen der Zähne, fragt er, und ich gebe zu verstehen, dass dies nicht der Fall sei. „Nützt eh nüscht. Bleaching!“, sagt der Zahnarzt da, und es klingt ein wenig triumphierend. Seine Tochter mache das dauernd, ohne weiße Zähne ginge ja heute nichts mehr. Er könne mir gleich einen Termin vermitteln bei der Tochter, günstig sei es auch. Die Tochter könne auch gleich einmal überprüfen, ob mit meinen Vorderzähnen denn gar nichts zu machen sei.
Hätte ich nicht einen Schlauch zum Absaugen im Rachenraum, so würde ich dem Zahnarzt die Vergeblichkeit einer langen kieferorthopädischen Behandlung erläutern, die mir über Jahre meines Lebens völlig ergebnislos eine vollgesabberte Zahnspange eintrug. Die Vorderzähne blieben schief.
„So,“, sagt der Zahnarzt, und wirft seinen Kittel durch die offenen Tür auf einen Stuhl im Vorraum des Behandlungszimmers. „Sind wa fertich.“ Ich nicke, lächele und greife nach meinem Trenchcoat. „Auf Wiedersehen,“, gurgele ich aus den Tiefen meiner Lokalanästhesie.
„Darf meine Tochter sich mal bei dir melden?“, fragt der Zahnarzt.
Den einen oder anderen meiner geschätzten Leser kenne ich inzwischen persönlich, andere lese ich selbst und freue mich über ihre Kommentare. Den unbekannten Leser aber, den, der sich nie räuspert, sich nicht auf twoday anmeldet, um mir einmal mitzuteilen, wie großartig er mich findet, jenen unbekannten Leser eben, der stillvergnügt durch die blühenden Auen meines Leben schreitet – von jenem Leser habe ich mir stets, und wenn die Gelegenheit einmal danach war, ein recht positives Bild gemacht. Wer überhaupt willens und in der Lage ist, durch diese virtuellen Bleiwüsten ohne das klitzekleinste bunte Bild zu flanieren, und sich den Petitessen eines vorwiegend ereignislosen Lebens zwischen Patisserie Albrecht und dem 103 aussetzen mag, der kann kein schlechter Mensch sein, dachte ich so bei mir.
Heute jedoch, vor gut einer Stunde blinkt mein Mailaccount auf, und siehe da: Ein unbekannter Leser fasst sich ein Herz und gesteht mir seine geheimsten Wünsche. Der Leser ist so unbekannt, dass ich anhand des verwandten yahoo-accounts nicht einmal sagen, ob hier Mann oder Frau einen Wunsch loswerden möchte. Anhand der mir verliehenen weiblichen Intuition tippe ich aber einmal scharf auf ein Wesen ohne zweites X-Chromosom, welches mich im Anschluss an ein paar recht beliebige Komplimente um Folgendes bittet:
„Mehr S*exgeschichten und daß es mal mehr zur Sache geht. Hat Berlin da nicht mehr zu bieten? Wenn du soviel weggehst, wie du schreibst, muß da doch auch mal was passieren. Trau Dich!“
Wähnt jener Leser mich nun schon auf dem Weg zum Wäschegeschäft, um sodann unverzüglich und in verführerisch-transparente Hüllen gekleidet auf die Pirsch zu gehen, hat sich da aber jemand kräftig geschnitten. Angetan mit meinen üblichen schwarzen Pullovern, Jeans und den unsexiest Perlenohrsteckern überhaupt sitze ich hier, werde auch heute nacht die Bar meiner Wahl allem menschlichen Ermessen nach allein verlassen und rufe ins Dickicht der unbekannten Leser:
Ich bin doch nicht RTL 2! Wer glaubt, hier findet das große Wunschkonzert in der Kurmuschel statt, hat sich schwer in der Location geirrt. Sie, mein Herr, verhöhnen hier gerade in übelster Weise die Fußkranken des urbanen Liebeslebens. Fragen Sie gefälligst andere Leute nach ihren S*exgeschichten, in dieser Hinsicht ist beim Papst mehr los als hier.
Oder versuchen Sie´s einfach mal woanders.
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