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Richtigmachen

Eine gewisse gelöste Stimmung greift ja stets dann Raum, wenn wir bemerken, in irgendeiner Hinsicht überhaupt alles richtig gemacht zu haben. Ich zum Beispiel, die auf einen Haufen Fehler im Verlaufe der letzten 28 Jahre zurückblicken könnte, würde ich zu solchen Akten kritischer Introspektion neigen, habe vor geraumer Zeit eine Geschichte beendet, in der J. – seither also mein Exfreund – die Hauptrolle spielte.

Diverse Freundinnen haben seit dem Ende der ganzen Sache mehrfach schwere Bedenken bezüglich meiner Zukunft angemeldet. Seriöse Herren, so ernsthafte und besorgte Stimmen in meiner Umgebung, seien im einschlägigen Alter bereits in sehr festen Händen, und überdies präferiere der überständige Rest einen Frauentypus, dem meine Person eher weniger entspräche. Nach einer Phase der tiefgreifenden Besorgnis habe ich mich allerdings entschließen müssen, die freundlichen Offerten lieber Freundinnen, wahlweise ihre älteren Brüder, auf dem Heiratsmarkt übriggebliebene Arbeitskollegen, Bundesbrüder des eigenen Freundes oder gute, alte Freunde zu mir zu nehmen, auszuschlagen. Ich werde nunmehr also alleine alt, und kein alter Mann wird mir den Lebensabend mit klugen Sentenzen zur Tagespolitik versüßen.

„Ob das mal kein Fehler war.“, warnt mich meine liebe C. in ungefähr wöchentlichem Abstand vor den Folgen meines Tuns und weist auf mehrere ihrer Tanten und Großtanten hin, die ob überzogener Ansprüche an die Person ihres Gatten als lästige Dauergäste der restlichen Familie ein entwürdigendes Dasein führten.

Jene Tiraden, die wohl jeder Single von Zeit zu Zeit aus dem Kreise seiner Freunde oder Verwandten vernehmen darf, dürfen einen indes nicht in die Arme der vorstehend bezeichneten traurigen Notlösungen oder gar zurück in die des jüngst verstoßenen Scheinprinzen treiben. Jede Trennung, raunt der Mund der Wahrheit, ist vielmehr richtig, sie ist befreiend und kein Weg führe zurück auf jene Schlachtfelder, denen man mit knapper Not und einigen Blessuren entkommen ist.

Himmlische Heiterkeit erfüllte vor diesem Hintergrund im Verlauf der letzten Woche einen gemieteten Kleintransporter an einer Bushaltestelle an einem uns völlig unbekannten Ort irgendwo im Wedding, in dem mein erwähnter Exfreund J. neben mir hinter dem Steuer hockte und als Ausdruck einer tiefgreifenden Orientierungslosigkeit, ja Verzweiflung, mehrfach mit dem Kopf gegen das Lenkrad schlug. „Wir werden alle sterben!“, röchelte der J., und riss mir einen zerschlissenen Falkplan, auf dem die Stadt Berlin von oben abgebildet ist, aus den Händen, um ihn hektisch einmal im Uhrzeigersinn zu drehen und vergeblich den gegenwärtigen Standort zu suchen.

Die nachfolgende Viertelstunde voll der gegenseitigen Beschuldigungen und Beleidigungen erspare ich meinen Lesern. Wer nach einer mehrjährigen Beziehung, die eine Reihe Fern- und Städtereisen umfasste, ausgerechnet mich um Mithilfe bei der Abholung eines geschenkten Kühlschranks bittet, ist selber schuld, und kann auf Schonung seiner Hilflosigkeit angesichts von Stadtplänen oder jeglicher Form der Groborientierung nicht rechnen.

„Ich bin um acht verabredet.“, erinnerte ich den J. daher an die verrinnende Zeit. J. hob resignierend die Hände an die Decke des Kleintransporters und bellte dann etwas, das sich anhörte wie: „Das wirst du wohl kaum schaffen.“ – Es war kurz nach halb sieben.

Aus der Zeitung ist bekannt, dass der Tiefstand der Sprachfähigkeit der Bewohner derartiger urbaner Gegenden nicht nur mich bereits tiefgreifend verärgert hat. Ob die Bewohner des Wedding Auswärtige hassen, und daher absichtlich in die Irre schicken, oder hier ein tatsächliches Problem besteht, vermag ich indes nicht zu beurteilen. Die von uns gesuchte Straße befand sich jedenfalls nicht dort, wo fünf Passanten entlang der Müllerstraße uns hingewiesen hatten. In einem Anfall von lautstarkem Jammer kurbelte J. schließlich das Fenster auf der Fahrerseite herunter, eine Hand streckte sich Richtung Bordstein, und mein nutzloser Falkplan flog einige Meter über den Bürgersteig, einer dicken Dame vor die Füße.

Einige Minuten später waren wir da. Zwei Stunden später sah ich mich zur Abgabe endloser Entschuldigungen gezwungen, um eine selbst für meine Verhältnisse außergewöhnliche Verspätung zu entschuldigen. Und noch später, sehr viel später, als ich allein nach Hause ging, die Invalidenstraße bergauf, segnete ich meinen Schöpfer für die jene glückliche Daseinsform, die er mir in seiner unendlichen Gnade gewährte, und beschloss die sofortige Anschaffung einer Katze als Gefährtin eines freudigen Zölibats.

Frühlingsgefühle

Auf dem Rückweg von der Neuen Nationalgalerie, am Sony Center vorbei, sprechen wir über Sophie Calle und Frauen, die Tod´s an den Füßen tragen. Von den Frauen zu den Männern ist es dann nur noch ein kurzes Stück, und die J. beklagt ein wenig die Totenstarre ihres Liebeslebens, die sie als das endgültige Ende beschreibt.

„Oje, das doch nicht,“, beschwichtige ich. „So wird es schon nicht kommen.“ Dann beschwöre ich den blauen Himmel, den Frühling und die Massen an reizenden jungen Männern, die ja irgendwie übrig geblieben sein müssen, wenn es auf Erden ungefähr gleich viele männliche und weibliche Menschen gibt. Schlimmstenfalls, so male ich eine glückliche Zukunft in die Luft, ist es ja auch noch rein theoretisch denkbar, anderen und selbstverständlich unsympathischen Frauen ihren Begleiter abspenstig zu machen. J. schüttelt verzagt den Kopf.

Eine knappe Stunde später mit einer warmen Mahlzeit im Magen sieht die Welt schon wieder besser aus. J. ist bereit die Möglichkeit zu konzedieren, dass irgendwo im Großraum Berlin noch männliche Möglichkeiten herumlaufen. Indes, und sie schaut wieder traurig in ihr Glas, hielten sich die Möglichkeiten des Kennenlernens doch sehr in Grenzen. Der Ritter ihres Herzens, er gehe so wenig in Clubs wie sie selber auch. Und in Bars spreche er keine Frauen an, denn ein solcher Herr sei er nicht, und vielleicht sogar eher schüchtern.

„In Galerien? Oder Lesungen?“, frage ich die J., die aber verneint wiederum mit entschlossenen Gebärden. Nein, keiner der Bewohner von Mitte mit einer schwarzen Brille und einem halbfertigen Roman. Kein Grafiker mit Visionen, kein freier Journalist. Ziemlich patent soll er sein und kochen soll er auch können. J. beschreibt die Vorzüge des fürsorglichen Mannes und vermutet ihn am Stadtrand mit einem Kind auf den Schultern, denn er verfügt über einigen Familiensinn.

„Ach was.“, sage ich. Hat doch nicht jeder Kinder. Bestimmt ist er nach drei Ehejahren verwitwet und rührt gerade in seinem Tomatensugo. Dazu hört er Musik, die auch J. hören würde, würde sie kochen. Vielleicht zieht er sich demnächst einen Wein auf, und bedauert, nur ein Glas zu füllen. Inzwischen kann er sich auch wieder vorstellen, mit einer anderen Frau als der Verstorbenen anzustoßen, und seine Gläser haben ebensoviel Stil wie er selbst.

Witwer ginge gar nicht, sagt aber die J. Ihre Mutter habe sie stets vor Witwern gewarnt: Gegen Tote könne man nicht gewinnen.

„Grundlos verlassen.“, schlage ich alternativ vor. „Genau.“, meint J. und erwähnt die Kinder, die die Ex inzwischen mit der männlichen Ursache des Beziehungsendes mit J.´s zukünftigem Gatten aufzieht. „Aber wenn er,“, überlegt J. weiter, „gerade Tomatensugo kocht…“, dann trifft sie ihn nicht einmal in dem Restaurant, in dem wir sitzen und auf der Suche nach einem krönenden Dessert in der Karte blättern.

Bestimmt, sage ich, besucht er Flohmärkte, denn einen Flohmarkt wollen auch wir demnächst einmal wieder aufsuchen. Die J. sucht einen silbernen Brotkorb, ich suche ein kleines Tischchen, vielleicht ein Schachtischen, denn ich spiele zwar selten Schach, schätze aber die verspielten Tischchen, die man inzwischen leider selten sieht.

„Dann geht er an mir vorbei, ich denke noch, wie nett er ausschaut, und dann ist er weg.“, sagt die J. und entscheidet sich für ein Eis mit heißen Himbeeren. Sie greifen beide nach dem selben Brotkorb, schlage ich vor. Dann überlässt er ihr das schöne Stück und bittet um einen Kaffee als Schadensersatz. Ich schlage mich unauffällig in die Büsche, und dann stehen sie beide an einem offenen Wagen und trinken Kaffee, er sagt genau das Richtige, sie lacht über seine Scherze, und mühelos, ohne Anstrengung und ganz von selbst verabreden sie sich ein paar Tage später. Er findet sie schön, sie findet ihn interessant, und noch ein paar Tage später kocht er für sie und zieht den Wein für beide auf.

„Wird doch wieder nichts draus.“, sagt die J. und lächelt immerhin wieder.

Hamburg

Alle paar Jahre zieht eine liebe Freundin ein paar hundert Kilometer nach Norden, ist inzwischen in Hamburg angelangt, und will dort besucht werden. Umgeben von sehr, sehr norddeutschen blonden Hünen, die sich von Labskaus und Grünkohl ernähren, feiert diese gute Freundin dortselbst demnächst ihr bestandenes Staatsexamen. Wir, die wir wissen, wie die juristischen Hamburger Staatsexamina unter Volk geworfen werden, können selbst über satt zweistellige Ergebnisse natürlich nur lachen. Eine exzessive Feier ist aber auch ein Hamburger Staatsexamen natürlich jederzeit wert, und so fahre ich in nächster Zeit für ein paar Tage in diese Stadt, deren Schönheit die Einheimischen stets preisen, ohne mich bei meinen gelegentlichen Besuchen von dieser Behauptung überzeugt zu haben.

Da auch sehr gelungene Examensfeiern aber selten mehr als einen Abend in Anspruch zu nehmen pflegen, wende ich mich hiermit an meine verehrten Leser aus den nördlichen Gefilden:

Wo isst, trinkt und tanzt der Hamburger, wenn es einmal besonders nett sein soll?

Schicken Sie mir eine Mail, oder schreiben Sie die Tipps in die Kommentare. Ausgangspunkt der Streifzüge ist Winterhude, ein Auto steht nicht zur Verfügung.

Dankeschön.

Hasen aus Glanzpapier

Später am Tag liege ich bei I. auf dem Boden und schaue zur Zimmerdecke hoch. M. zieht CD´s auf dem Regal, schraubt die Bässe hoch, und die fragilen, erlesen bemalten Eier an den Windenzweigen schaukeln im Takt der elektronischen Beats. I. döst ein wenig mit halbgeschlossenen Augen und einer schwarzen Katze auf dem Bauch, der S. lässt Mozartkugeln auf der Zunge schmelzen, und auf dem Tisch stehen die Reste eines außerordentlich opulenten Mahls und warten auf jemanden, der wieder essen kann und mag.

„Ihr braucht nicht auf die Beete zu gehen.“, hat I. gesagt, denn die Stapfen zwischen den dicken Kissen von Kroken und Winterlingen verrieten schon vom Weg aus den Standort der Osternester. Halbgegessen liegt mein Schokoladenhase nun neben mir.

„Ist der Mückenstich immer noch nicht verheilt?“, fragt die R. und deutet auf mein Schienbein knapp unterhalb des Rocksaums. Ich schüttele den Kopf, denn meine Insektenstiche pflegen sich stets aufs Ekelhafteste zu entzünden, anzuschwellen und nach dem Abschwellen kleine runde Stellen zu hinterlassen, die etwas dunkler sind als der Rest. Ich bin eindeutig nicht tropentauglich. Wir sprechen müde und knapp über den Ausflug nach Prato im letzten Jahr, als im Garten einer Mediceischen Villa die Mücken über mich herfielen. Über einen Abend am Mittelmeer am steinigen Strand von Nizza, an dem I. stolperte und eine Narbe am Fuß behielt. Über die Nacht in der Charité, als J. und M. warten mussten, bis der Arzt R. fertig genäht hatte, über T.´s Weisheitszähne, und J.´s Denguefieber und die schreckliche Nacht im Bangkok Nursing Home, bis die Medikamente wirkten.

Übersättigt und mit dem Geschmack von Pistazienmarzipan auf der Zunge überlege ich langsam und träge, wie viele Jahre ich die Truppe auf dem Boden zumindest teilweise schon kenne, wie viele Narben geschlagen und bedauert, wie viele Taschentücher vollgeheult, und wie viele Fässer Wein, Badewannen voll Tee, gebratene Ochsen und Lämmer in Rosmarin schon verzehrt wurden. Ergebnislos kräuseln sich die Gedanken, steigen hoch an die Decke und vermischen sich mit dem Rauch der Zigaretten.

„Ich hab´ euch alle gern.“, sage ich, verführt von Marzipan und süßem Marsala. Und ich mag euch sogar für euer Hohngelächter und die fliegenden Kissen.

Betrachtungen in der Badewanne

Das Jahr, so steht es in meinem Kalender, hat 52 Wochen, im Allgemeinen – und wer wird denn so pingelig sein – damit auch 52 Samstage. In jener Stadt, in der ich zuhause bin, wohnen etwas mehr als drei Millionen Menschen, und jeder Berliner, der mehr als zehn dieser Menschen kennt, muss damit rechnen, ebenso viele Wochenende die Besitztümer seiner Freunde durch die Stadt zu tragen: Die ganze Stadt zieht unablässig um. Wer an einem Samstag durch die hiesigen Gefilde schlendert, und keinen gemieteten Umzugswagen von Robben & Wientjes sieht, ist nicht in Berlin.

Der Tiefstand der Berliner Wirtschaft bei gleichzeitig reger Bautätigkeit soll neben dem Überangebot an bezahlbarem, ansehnlichem Wohnraum durchaus weitere negative Folgen zeitigen. Ich stehe indes nicht an, die schiere Möglichkeit annähernd berufsloser Menschen, hundert Quadratmeter renovierten Altbau zu beziehen, anders denn als einen echten Nachteil zu bewerten. Die Tatsache, dass Ignoranz und Armut den eingeborenen Berliner offenbar zwingen, seine schönen, alten und zentnerschweren Besitztümer Zugezogenen und Auswärtigen für sagenhaft wenig Geld zu verticken, macht die Umzüge auch nicht gerade angenehmer. Hier ein Biedermeiersekretär, dort ein Gründerzeitschrank, und die schweren Tische, an denen es sich auch mit vielen Menschen komfortabel sitzen lässt, haben schon vielen verhältnismäßig jungen Menschen ernsthafte Rückenleiden eingebracht.

Ach, denkt man dann, beladen mit unermesslich schweren Kisten. Mögen nahestehende Menschen doch endlich eine Wohnung kaufen. Oder ein Klavier, denn auch der Besitz eines solchen Instruments soll ja seßhaft machen. Oder würden sie wenigstens, endlich, nach diversen folgenlosen Ankündigungen ernst machen mit dem Versprechen, nie, nie wieder ohne professionelle Unterstützung den Wohnsitz zu wechseln.

Photographieren

„Ich sehe auf Photos nicht so gut aus.“, sagen die Leute gern, die noch hoffen, dreidimensional im echten Leben schöner zu sein als das, was man auf Papier oder Bildschirm sehen kann. Ich, die ich weder abphotographiert noch in Spiegeln oder Fensterscheiben meinem Schönheitsideal auch nur annähernd entspreche, bin beizeiten ein wenig vorsichtig geworden, und so ist die Anzahl von aktuellen Abbildungen meiner Person eher klein. Ab und zu gerate ich auf einen Urlaubsschnappschuss, von Zeit zu Zeit brauche ich Passphotos, die visuelle Spur meiner Erscheinung ist und bleibt aber eher dünn.

Meine Abneigung gegen Kameras aller Arten hat auch die C. nicht überwinden können. „Mach´ doch mit.“, quengelt diese liebe Freundin schon seit mehreren Wochen, denn die C., die demnächst ihren dreißigsten Geburtstag begehen wird, plant die Anfertigung von kunstvoll ausgeleuchteten Abbildungen ihrer Person, professionell geschminkt und frisiert, durch eine ambitionierte Photographin, die damit wirbt, jede Frau wie einen Filmstar inszenieren zu können. „Ich bin aber kein Filmstar.“, halte ich der C. also ebenfalls seit Wochen entgegen, und auf irgendwelchen Photos grandios auszusehen, die sich sowieso keiner über´s Vertiko hängt, ist mir auch eher egal. Die einzige photographische Dauerausstellung, in der ich die Hauptrolle spiele, steht auf dem Schreibtisch meines Vaters, und dem ist es völlig gleichgültig, wie ich objektiv aussehe. C. muss sich daher wohl allein inszenieren lassen.

„Denk an das Hotelphoto aus Avignon!“, gibt die C. zu bedenken, und spielt auf eine Episode an, von der sie das eine oder andere Mal im schrillen Diskant des Leides gehört haben dürfte, damals im Sommer 2003, als ich ohne das Photo aus Frankreich zurückkehrte. Einen Moment fange ich an zu überlegen. Dann aber schickt mir die C. ein paar Referenzbilder der Photographin, und ich sage ab. Nein, diese steif lächelnden, geschleckten und gelackten Damen entsprechen nicht im mindesten jenem Bild, dass der J., damals noch mein geschätzter Gefährte, für ein paar Stunden auf seiner Kamera hatte.

Wir waren spät am Abend in Avignon angekommen, müde von stundenlangen Irrfahrten durch halb Frankreich, und die ersten beiden Hotels am Wegrand waren voll. Die Luft innerhalb des Wagens war klebrig, und die Stimmung aufs Äußerste gereizt. Vor einem etwas abgewrackten Haus mit Hotelschild hielt J. schließlich an. Entweder es gebe hier ein Bett für uns, oder er werde im Wagen schlafen, verkündete er und schickte mangels Kenntnis der Landessprache mich an die Rezeption. Sie hatten ein Bett für uns, und am Ende langer und verwinkelter Flure öffnete sich eine etwas verrottete Tür zu unserem Zimmer.

An den überhohen Wänden des Zimmers hingen, teilweise ziemlich verrutscht, altrosa Seidentapeten. In der Mitte des Raums stand die Mutter aller Betten – ach was: die Großmutter. Gottmutter aller Schlafstätten aus Eisen, mit einem außerordentlich geblümten Grandfoulard obendrauf, und der Boden war aus schmutzigem, stumpfen Marmor verfertigt. An den Seidentapeten hingen vergilbte Bilder, die die Unschuld und den Frühling in zarten Farben feierten. Es roch nach Staub.

Etwas betreten stand J. in der Tür, dachte wohl mit einiger Wehmut an das saubere Auto, und warf sich dann kurzentschlossen aufs Bett. Quietschend gab die Matratze nach.

Später, geduscht und nach Einnahme einer hervorragenden Mahlzeit, war die Welt wieder schön, wenn auch immer noch ziemlich warm. J. duschte gerade das drittemal in vier Stunden. Ich schwitzte auf dem Bett, angetan mit einem Hemd des von mir sehr geschätzten Wäscheherstellers Vive Maria, stemmte die Beine zwecks besserer Rundumbelüftung an die rosa Tapete und blies Rauchringe gegen die Decke. Ein schwerer, grüner gläserner Aschenbecher stand auf meinem Bauch.

Eingewickelt in ein lendenbedeckendes Leinenhandtuch verließ der J. das Badezimmer und setzte sich auf die Bettkante. „Gut siehst du aus.“, tätschelte er mir den Bauch, zog an meiner Zigarette und machte ein paar Tanzschritte nach rechts und links. Links vom Bett, auf einem arg beschädigten geschnitzten Tischchen lag der Photoapparat. Mit dem Photoapparat in der Hand tänzelte der J. durch das Zimmer, blickte durch den Sucher auf mich, das Bett, den Aschenbecher, und was sonst noch zu sehen war.

Ob es Absicht war oder Zufall, irgendwann geriet des J´ zarte Hand an den Auslöser, und auf dem Miniaturbildschirm auf der Kamerarückseite erschien für wenige Sekunden das perfekte Bild. „Das ist super.“, lobte ich den J. und bat sofort um Vergrößerungen. J. aber zierte sich.

„Ist mir doch egal, was die Kerle vom Photoladen denken.“, führte ich gegen die Bedenken an. Überhaupt könne man die Bilder auch sehr anonym an Rossmann schicken, wo garantiert bloß eine Maschine rattert und keine real existierenden schmierigen Photokerle sich die Bilder zeigen. Überhaupt sei die Abbildung ja nun keineswegs pronographisch.

J. ließ das Bild noch einmal, ein letztesmal auf dem Monitor erscheinen. Ich sah hervorragend aus. J. schwankte. Den Ausschlag zuungunsten des Bildes gab schließlich das Seelenheil des zum damaligen Zeitpunkt noch nicht völlig ausgeschlossenen Nachwuchses. Seine Mutter, so der J., solle niemand so zu Gesicht bekommen.

Mit Menschen, die ihre eigenen Eltern nur bekleidet kennen, ist an diesem Punkt jede weitere Diskussion vergeblich. Ich schrie, flehte und versuchte, ihm die Kamera wegzunehmen. Nichts half. „Delete YES / NO“ wurde positiv beschieden, und wir kehrten mit einer Handvoll Photographien französischer Straßenszenen zurück. Auf dem einen oder anderen Bild war ich auch abgebildet. Auf keinem Bild sah ich auch nur annähernd so aus wie auf dem Hotelbild, bloß eine braungebrannte Touristin ohne den Zauber, diesen schmutzigen Reiz, den mir der Moment, die schäbige Pracht des Hotelzimmers, geliehen hatte, und den C.´s Photographin nicht im Fundus hat.

Goldene Zeiten

Wieso er ausgerechnet mich gegooglet und angeschrieben hat, mag der Teufel wissen, aber vielleicht war ich wirklich die einzige Person, die während der letzten Schuljahre mit dem armen Kerl aus war, dessen Sozialstatus in der Jahrgangsstufe kaum mehr messbar war, ohne dass ich jemals herausgefunden hätte, wieso.

Ein guter Teil seiner Probleme lag vermutlich in der Tatsache begründet, dass er sich mit seinem hoffnungslosen Status offenbar nicht bereit war abzufinden. Nach den Gesetzen dieses 11. Jahrgangs war er unberührbar, und die Tatsache, dass er trotzdem Mädchen ansprach und einlud, wurde von meiner frischgebackenen Banknachbarin als eine unglaubliche Frechheit und unzumutbare Belästigung betrachtet.

Ich war neu in der Schule und neu in der Stadt. Seine Anfrage nach einer Tasse Tee im Garten seiner Eltern stieß schon deswegen auf freundliches Interesse, weil es die erste Einladung war, noch am zweiten Tag nach meiner Ankunft. „Ihhh!“, gluckste meine Banknachbarin. „Der ist eklig. Der geht gar nicht. Du musst auf jeden Fall absagen, nachher will der noch was von dir.“ Natürlich ging ich hin.

Mit der Banknachbarin freundete ich mich nicht an, dafür mit einigen anderen Kameraden, die meine gelegentlichen Besuche bei dem Jahrgangsparia extrem skurril und ziemlich lustig fanden. Den Schneid, ihn zu meiner Abiparty einzuladen, hatte ich leider trotzdem nicht, und nach der Schulzeit sah ich ihn nie wieder.

Er sei gelegentlich in Berlin, hatte er vor ein paar Wochen geschrieben, ich schrieb darauf etwas, in dem die Worte „mal einen Tee“ und „melde dich doch mal“ vorkamen. Er rief sofort an.

„Hey,“, versuchte ich zu bremsen, „ruf einfach kurzfristig an, und ich sag an, ob ich Zeit habe.“ „Nein, nein“, kam zurück. Es müsse auf jeden Fall klappen. Ewig nicht gesehen. Alte Freundschaft.

Na gut. Montag abend also. Aber Montag abend war ich krank – oder zumindest ein bißchen unpässlich, zu wenig gut beisammen, jedenfalls, um mich irgendwo mit irgendwem zu treffen. So rief ich an und sagte ab. Er war ein bißchen enttäuschter, als angemessen. Heute morgen lag dann ein Brief im Briefkasten, er muss ihn gestern nacht eingesteckt haben, ohne zu klingeln.

Er habe, schreibt er, mich treffen wollen, um herauszufinden, ob da noch etwas sei. Er habe der verpassten Chance lange hinterhergetrauert. Er sei zu schüchtern gewesen, um mich direkt anzusprechen, hoffnungslos verliebt und unbeholfen. Und nun wolle er doch einmal wissen, mehr zehn Jahre später, ob es die Chance gegeben habe, von der er bis heute nicht wisse, ob sie tatsächlich bestand.

Und nun weiß ich nicht, ob ich wirklich ehrlich sein soll, oder ihm die Erinnerung an Jahre, die für ihn quälend gewesen sein müssen, ein bißchen vergolden soll, nachträglich.

Öffentliche Angelegenheiten

Am Ende der Nacht sitze ich bei C. auf dem Sofa. Wir trinken indischen Gin, weil die Flasche noch vorrätig ist in diesem ansonsten ziemlich abstinenten Haushalt, und die C. spricht über Helmut Lang. Ich schaue ein bißchen aus dem Fenster und überlege, ob es sich noch lohnt, schlafen zu gehen.

„Ist dein Freund nicht da?“, frage ich C., und diese verweist auf ein Seminar, dass diejenige Parteistiftung gerade veranstaltet, die aus unerklärlichen Gründen dem Freund der C. das Studium bezahlt hat. „Auf eine Partei wäre ich ja nie im Leben verfallen,“, teile ich der C. mit. „Du liest doch nicht einmal den Politikteil.“, lacht die C. und stubst die FAS an, die zerblättert vor meinen Füßen auf dem Boden liegt. „Das ist so nun auch wieder nicht richtig,“, streite ich ab. Die C. wehrt ab. Ihr bräuchte ich nichts vormachen. Im übrigen hätte ich auch recht: Politik habe angesichts der Globalisierung jede Gestaltungsmacht verloren, und welche Partei die Regierung stelle sei ganz und gar Wurst.

Ob diese doch eher etwas grobschlächtige Auffassung nun tatsächlich den Realitäten entspricht, kann durchaus dahingestellt bleiben. Faktum scheint aber zu sein, um ein Fazit eines übermüdeten Frühstücks und einen langen Spaziergangs dazu zu ziehen, dass sich vielleicht nicht die Politik von der Gestaltungsfähigkeit verabschiedet habe, sondern schlicht die Gesellschaft von der Politik. Und das hat keineswegs etwas mit Politikverdrossenheit zu tun.

Der T. etwa, jener freundliche und gutaussehende junge Herr, ist, wenn ich es richtig verstanden habe, sogar Mitglied einer unterhaltsamen Partei, der auch S. angehört. Beide gehen regelmäßig wählen, glauben an die arbeitsplatzvermehrende Wirkung von Unternehmenssteuersenkungen und Sozialhilfekürzung, und haben sogar ein paar Bücher, in denen Spitzenfunktionäre des deutschen Verbandswesens die deutsche Misere beklagen. Zum Glück sprechen sie selten davon.

Der J. wählt schwarz oder grün, je nachdem, wer zur Wahl steht, und pflegt jenen beiläufigen Liberalismus, in dem jeder alles machen kann, es sei denn, er träte J. dabei zu nahe. Fragt man ein wenig nach, so erhält man als J.´sches Lösungsangebot für schwerwiegende Probleme der Republik einen etwas wolkigen Appell an das Pflicht- und Anstandsgefühl der Deutschen, die sich mehr fragen sollten, was sie für die Gesellschaft tun könnten. Vom Rest meiner Umgebung kann ich nur raten, ob und was sie wählen oder denken. Ich tippe auf ein ausgeglichenes Verhältnis von 50 % Grün, und jeweils 25 % gelb und schwarz. Die Sozialdemokratie hat meines Wissens keine real existierenden Anhänger unter 50 mehr und wird demnächst aussterben, aber diese Vermutung kann auch auf einer Sinnestäuschung oder der zufälligen Zusammensetzung jener Menschen, die mir ihre politische Haltung mitteilen, beruhen.

Die untergeordnete Rolle der Politik im Kanon der Dinge, über die ich sprechen höre, steht in einem geradezu schreienden Gegensatz zu der zentralen Rolle, die alle politischen Angelegenheiten im Leben der heute Sechzigjährigen einnehmen. Vermutlich hat das 20. Jahrhundert alle in diesem Universum verfügbare politische Leidenschaft endgültig verbraucht. Zwar habe ich irgendwo erst letztlich gelesen, den meisten Menschen seien politische Themen außerordentlich wichtig, und nur die Mechanismen der real existierenden Politik hielten die Bevölkerung von politischem Engagement ab. Die Gesellschaft warte geradezu mit angehaltenem Atem auf mutige Reformen, entschlossene Führung und breite gesellschaftliche Diskussionen, aber das ist natürlich alles Kokolores: Die Gesellschaft, soweit sie sich mit mir unterhält, wartet auf gar nichts, leidet an gar nichts, und erwartet von der Politik im wesentlichen einen störungsfreien Verlauf der öffentlichen Angelegenheiten. Grundlegende gesellschaftliche Defizite hat mir gegenüber schon lange keiner mehr beklagt. Unter den Themen an den Tischen, an denen ich esse, nimmt die Politik weit weniger Raum ein als die Gartenbaukunst – und niemand von uns besitzt überhaupt einen Garten. Weder Arbeitslosigkeit, noch Bürokratieabbau, weder die Steuerreform noch der Umbau des Sozialversicherungswesens, bringt irgend jemanden, den ich kenne, um den Schlaf. Hier gibt es ebenso wenig drängenden Reformwillen wie wütende Besitzstandswahrung.

Ob die Gleichgültigkeit gegenüber der Politik eine vernünftige Haltung darstellt, darf selbstverständlich bezweifelt werden. Vermutlich will der Rest der Welt sich vielleicht zu recht von Menschen wie uns ohnehin nicht regieren lassen. Aber wer, so fragt man sich manchmal, wird denn eines Tages in zwanzig Jahren oder fünfzehn die Regierung stellen? Werde ich, wenn es mir 2014 einfällt zu wählen, irgendeinen pickligen Nerd zum Bundeskanzler küren müssen, weil er weiland aufgrund von schlechtem Aussehen und minderer Intelligenz außer der Ortsgruppe der JU Pfaffenhofen keine Möglichkeiten der Freizeitgestaltung hatte? Besteht die Bundestagsfraktion der Grünen dann irgendwann aus meiner Nachbarin im Studium, die immer so weinen musste, wenn sie von Armut in der Dritten Welt oder dem Holocaust las?

Im Zweifel wird mir das egal sein, aber besser wäre es schon, es wäre anders. Wie wird es die Politik verändern, wenn sie keine emotionalen Reaktionen mehr auslöst? Wird eine kühle, technokratische Sachpolitik jenseits der Träume und Visionen vielleicht reibungsloser funktionieren? Oder hat die Presse recht, die Gesellschaft schreit nach Veränderungen – oder eben nicht – und nur in meiner Luftblase, irgendwo am Grunde des Meeres, schreit halt keiner?

All The Perfumes Of Arabia

Als ich noch ziemlich klein war, lud mich meine Mutter einmal bei einem meiner Onkel ab, der sein Geld verdiente als ein Strafverteidiger in einer reizenden Barockstadt, in der zu seinem Glück auch schlechte Menschen ein gutes Leben führten. Es war Hochsommer, ich saß im Garten herum und versuchte einmal täglich, das Pferd der Nachbarn zu besteigen oder wenigstens mit Fallobst zu füttern. Jeden Abend gab es stundenlang Unmengen Essen und mein Onkel führte mit meiner Tante lange Gespräche über Dinge, die ich nicht verstand. Aufstehen durfte ich trotzdem nicht.

Einmal die Woche fuhr meine Tante zu irgendeiner Veranstaltung in die Stadt, und mein Onkel und ich aßen allein vorbereitete Speisen, die ich wärmen durfte. Ich deckte also ziemlich unsachgemäß den Tisch, mein Onkel erschien und fragte nach Verlauf und Gestaltung des Schulunterrichts. Anschließend erzählte er ein paar antiklerikale Witze und lachte, dass die Fensterscheiben klirrten.

Eines Abends kam der Onkel spät und ernst. Er aß langsam und lachte so gut wie gar nicht, und am Ende lehnte er sich zurück und erzählte von einem Prozess, in dem ein Mandant überraschend gestanden hatte, seine Geliebte umgebracht zu haben. Es war eine lange und verwickelte Geschichte, insbesondere verstand ich nicht, wieso ein Mann, der schon eine Frau hatte, noch eine weitere brauchte, nur um ihr dann die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken.

Das Zudrücken schilderte mein Onkel ganz genau. Und wie der Mörder die Tote ausgezogen und gewaschen hatte. Und wie die Frau am Ende doch noch gar nicht tot gewesen war, und der Mandant sie noch einmal töten musste, damit sie ruhig war und sich nicht mehr bewegte und schrie. Dies alles erzählte mein Onkel stundenlang. Mit einer für seine Verhältnisse sparsamen Gestik vollzog er all die Bewegungen, die der Mandant auch vollzogen haben muss, nur ohne Opfer natürlich. Als er die Fäuste zusammendrückte, um zu zeigen, wie fest der Mörder zugedrückt haben muss, um das Zungenbein zu brechen, konnte man die Knochen auf seinem Handrücken sehen.

Jahre später, ich war vielleicht 17 oder 18, stand ich mit einem Freund auf einem Hochstand im Wald. Es war frühmorgens, die Nacht war vielversprechend, aber tatenlos verlaufen. Ich war müde, und die Welt leuchtete in unberührter und schweigender Reinheit, als der Freund anlegte und schoss. Als er sich neben dem Wild hinkniete, den Fangschuss verteilte und schließlich das Wild aufbrach, stand ich hinter ihm. Er griff kräftig zu, mit ungebremster Kraft führte er das Jagdmesser und strahlte schwitzend und befleckt, als wir zum Wagen gingen. Ab und zu sah er mich an und lächelte dann ein bißchen unsicher und leicht verschämt.

Mein Onkel behandelte meine Tante stets mir Respekt und einer spürbaren Distanz, die sich als ein ironisches Lächeln in seinen Mundwinkeln festgefressen hatte. Mein Freund von damals lächelte mich nie so an wie den toten Rehbock, und so mag es wohl sein, dass die Liebe, das Beisammensein unter Gleichen, nie den selben Grad an Intensität erreicht, nie die Leidenschaft und das ungebrochene, runde, volle Gefühl.

Vielleicht gibt es die vitale Besinnungslosigkeit der Begeisterung, des Rausches nur in Zusammenhang mit dem fließenden Blut und jenen Handlungen, die vor dem seichten Fluss von Intellekt und Ironie bestanden. Vielleicht ist das, wovon die Liebe uns ein schattenhaftes und verzerrtes Abbild liefert, das Verlieren unser selbst, den lustvollen Untergang im Absoluten, nur der ferne und gebrochene Abklatsch eines Wesens, das unmittelbarer und wahrer war als wir es sein werden, weil es näher ist an den Quellen, von denen wir uns weit entfernt haben. Vielleicht ist das Glück eine schwarze und düstere Angelegenheit, vor der wir zu recht zurückschrecken.

Lob der Torheit (ernst gemeint)

Meine liebe J., die ja nun schon ein paar Tage länger allein durch die große Stadt streift als ich, scheint resigniert zu haben. Die Männer, sagt J, während sie ein paar altrosa Ballerinas in der Hand herumdreht und die Sohle biegt, könnten von ihr aus alle Zeit der Welt mit 22 Jahre alten blondierten Rechtsanwalts- und Notarsgehilfinnen verbringen, oder winzige fernöstliche Musikstudentinnen ausführen. Das ließe sie nun alles kalt. Sie käme gut allein durchs Leben, sagt die J., und geht mit einem braunen Paar Schnürschuhe zur Kasse.

Dass die J. gut allein durchs Leben kommt, steht außer Frage, und so stimme ich leicht zerstreut zu. Was mich angeht, entwickele ich auf dem Weg nach Hause, den Weinbergsweg hoch, doch gewisse Bedenken, die ich der neben mir einherstapfenden J. mitteile. Keineswegs verhält es sich so, dass die Gegenwart eines Mannes in meinem Leben, von seltenen und eher spezifischen Gelegenheiten abgesehen, zumindest in praktischer Hinsicht wirklich fehlt. Indes….ob aufgrund von Veranlagung oder Erziehung: Irgend etwas ist da schief gelaufen.

„Frau Modeste, versuchen sie doch noch einmal, ihre Einnahmen 2004 lückenlos…“, quäkt die letzte Woche nach zunehmender und schließlich verzweifelter Numerophobie engagierte Steuerberaterin aus der kleinen, schwarzen Dose neben dem Telephon, als ich die Wohnung betrete. Dreck, denke ich. Könnte ich meine Einnahmen und Ausgaben 2004 auch nur annähernd vollständig nachvollziehen, hätte ich die weiße Schachtel, in der der papierene Niederschlag meiner weltlichen Angelegenheiten aufbewahrt wird, nicht der Steuerberaterin auf den Schreibtisch gefeuert. „NACHRICHT GELÖSCHT“, tönt es auf meinen nervösen Knopfdruck daher aus der Dose, und bis nächste Woche habe ich erst einmal Ruhe.

Die kurzzeitig geplante Anmietung einer neuen Wohnung ist im Laufe der letzten Woche schon an der Tatsache gescheitert, dass ich von vier potentiellen Heimstätten zwei buchstäblich nicht gefunden habe. Zum Teil liegt dieses Versagen zwar an der lästigen Unart Berliner Makler und Vermieter, unrichtige Angaben zum Standort der Mietobjekte zu machen. Nicht zu verschweigen ist allerdings auch, dass gewisse Schwierigkeiten im Bereich der Orientierung in den letzten Jahren bereits erhebliche Kosten für Heimfahrten per Taxi generiert haben. In den beiden Fällen von letzter Woche bin ich allerdings einfach umgekehrt.

Die nach genauerer Betrachtung einzig verbliebene und um ein Haar angemietete Wohnung in einem mir bereits bekannten Teil des Prenzlauer Bergs konnte dagegen wegen schwerer Bedenken bezüglich der Verlegung von ungefähr 6 m² Laminat nicht angemietet werden, da die Dielen in der Wohnung die Küche aussparen. Mit Linoleum kann ich nicht zusammenwohnen und Laminat kann ich nicht verlegen. Selbst wenn einer käme, und mir das Laminat verlegen würde, so würde vielleicht die Tür nicht zugehen, hat man mir gesagt, und das wäre bei einer Küchentür doch schlecht. Ich bleibe also, wo ich bin.

Ich kann nicht richtig Auto fahren. Ich habe schon einmal ein Versäumnisurteil kassiert, weil ich den Gerichtssaal im Berliner Landgericht nicht gefunden habe. Und ich bin außerstande, Flüge im Internet zu buchen. Ich bin deswegen der letzte Mensch, der zu diesem Zweck Reisebüros aufsucht. Bei der Vorstellung, eine Lampe aufzuhängen, bricht mir der kalte Schweiß aus, da ein solcher Versuch vermutlich mein sofortiges Ableben unter starkter Geräuschentwicklung und infernalischem Gestank bedeuten dürfte. Und so fort.

„Meinst du nicht, dass du das hinbekämst, wenn du es einfach mal versuchst?“, fragt die J. beim after-shopping-tee Ich schüttele den Kopf, ebenso vergeblicher wie zahlreicher Versuche eingedenk. „Meinst du, dass sich irgendein Mann mit einer radikal unpraktischen Person belasten will?“, J. scheint skeptisch. „Ich kann doch auch ´ne ganze Menge.“, sage ich und versuche mich meiner praktischen Fähigkeiten zu erinnern.

Wer aber die sprichwörtliche Frau zum Pferdestehlen sucht, der ist hier ganz falsch. Ich setze daher fest auf die männliche Unvernunft.