Mein kleiner Cousin ist deprimiert. In der großen Pause hat er das verehrte Fräulein gestellt, bis hinter die Turnhalle ist er ihr gefolgt, hat ihr dortselbst sein Herz ausgeschüttet und einen Korb kassiert, der wohl nur deswegen so umfänglich wirkt, weil es eben der erste ist. Immerhin, und dass hebe ich telephonisch hervor, hat sie nicht auf seine individuelle Untauglichkeit als Dauerbegleiter abgestellt. Sie wünsche sich einen Mann, keinen unreifen Jungen, hat die Verehrte meinem Cousin entgegen geschleudert, und ich kann für das Mädchen nur schwer hoffen, dass sie sich diesen Wunsch entweder schnellstens abschminkt, oder sich in ihrem späteren Leben an einen Ort begibt, der sich keinesfalls dort befindet, wo ich meine Zeit mit annähernd dreißigjährigen Kindsköpfen totschlage.
Er werde sich nie wieder verlieben, klagt der Kleine, und ich ertappe mich dabei, mit den drei mittleren Fingerkuppen der linken Hand abwechselnd ungeduldig auf den Schreibtisch zu klopfen, während ich dem Kleinen versichere, sich mindestens dreimal erneut zu verlieben, bevor das Jahr zur Neige geht.
„Wann hast du dich das letzte Mal verliebt?“, stößt der Kleine zu. Treffer, denke ich. Versenkt. Und dass man Minderjährige nicht unterschätzen sollte. Ich grabe tief in meinem Gedächtnis, um schließlich festzustellen, dass der Zeitpunkt des letzten tiefsitzenden und drei Wochen überdauernden brennenden Interesses an einem gegengeschlechtlichen Mitmensch schon eine Weile her ist.
„Ich führe ja auch nicht gerade ein exzeptionell empfehlenswertes Dasein.“, entgegne ich mit dem Versuch, meine persönlichen Angelegenheiten aus der Schusslinie zu bringen und erläutere in einer gewissen Breite, dass jeder, der sich mein Leben als Leitstern wählte, einen folgenschweren Fehler beginge. „So wie du, will ich nie werden.“, jammert der Kleine. Ich auch nicht, denke ich. „Na dann viel Spaß auf der Suche nach stilvollen Alternativen.“, sage ich noch. Und dass ich mich nächste Woche wieder melde.
Kürzlich sprach mir ein Herr über die Möglichkeit, auch die mäkeligen Damen zum Essen zu erziehen. Obschon jenem Herrn ein beträchtliches Überzeugungstalent zu eigen ist – an den schmalen Lippen jenes Eisklotzes an Frau, dem ich mich gestern Nacht gegenüber sah, wäre jeder Versuch der Fütterung abgeprallt.
Vor gar nicht allzu langer Zeit, als der M. noch ein Optimist gewesen sein muss, bezog er eine für eine Person geradezu unmäßig große Wohnung, geeignet für die Anschaffung einer Rotte Kinder und der gleichzeitigen Unterbringung von Frau und Geliebter, ohne dass sich beide jemals hätten begegnen müssen. Leider hat sich das Personal dieser reizenden Vision im Leben des M. nicht eingefunden, und so sitzen um den langen Tisch des M. in aller Regel nur die üblichen Freunde: Der T., gestern in einer originellen Kombination von Tweed überm roten T-Shirt, die C. mit Begleiter, und ich. An besonderen Abenden – und was wäre mehr speziell als ein dreißigster Geburtstag – verlieren sich aber noch weitere Gestalten in den Zimmerfluchten des M., Kollegen etwa, obskure Menschen, die der M. an uns unbekannten Orten aufgelesen hat – und, seien wir ehrlich: Möchte man Menschen kenne, die auch gute Freunde in der Friedrichshainer Astro-Bar aufgesammelt haben?
Weil der M. nicht kochen kann, klingelt in den Nachmittagsstunden irgendwann ein Party-Service, der mit Salatblättern ausgelegte Kalte Platten auf den Tisch stellt. Die üblichen Antipasti, kleine, runde Frikadellen und langweiliger Käse, dekoriert mit Scheiben von Obst. Die warmen Gerichte sind das Geschenk von T. und mir zum Dreißigsten eines lieben Menschen, und so bepinselt T. einen Rinderbraten mit Öl, ich hacke Schalotten, und zwischen lauter mitgebrachten Töpfen und Utensilien entsteht mein spezielles Risotto. Es ist das fetteste Risotto der Welt, aber das ist mir zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt.
Als die anderen Gäste eintreffen, wechsele ich für eine knappe Stunde noch einmal die Party. Zwei Parallelstraßen weiter, nahe Arkonaplatz, wird eine weitere Bekannte dreißig. Hier gibt es Becks aus Flaschen, Kartoffelsalat und Bockwürste, eine außerordentlich abstoßende Speise, und so schlendere ich zurück zu den selbstgefüllten Schüsseln und Schalen beim M.
Vorm Risotto spricht mich der Eisklotz an. Sie ist dünn, auffallend dünn, so dünn wie die dünnste Kellnerin im 103, und sie deutet mit einer Gabel auf mein Risotto. „Was ist denn da drin?“, werde ich gefragt, und gebe freimütig Auskunft. Arborio-Reis und Schalotten. Butter. Ich erläutere die Zusammensetzung, lasse Mascarpone, Parmesan, Gorgonzola und Hühnerbrühe nicht aus und befülle einen Löffel, den ich dem Eisklotz einladend über den Teller halte. Der Eisklotz zieht den Teller schnell weg.
Mit allen Anzeichen des Ekels, hochgezogener Oberlippe und krauser Nase spricht der Eisklotz die folgenden Worte: „Das ist ja wohl das fetteste Risotto der Welt.“, und als wäre dies ein hinreichender Grund, die Nahrungsaufnahme zu verweigern, wendet sich das Weib ab. Ich zucke die Schultern und esse das Risotto selbst.
Der Eisklotz muss die Information weitergegeben haben. Nach einiger Zeit kommt die C. zu mir. „Tust Du da wirklich….also, das ist wirklich das fetteste Risotto der Welt.“. Auf ihrem Teller liegt ein halbgegessener Klecks des cremigen Reisgerichts. Mitten im Prozess des Verspeisens muss die Information die C. ereilt haben. Der Klecks liegt traurig und halbverzehrt auf ihrem Teller und wird kalt. „Wenn ich fett esse, bekomme ich Pickel.“, höre ich von anderer Seite. „Ich vertrage so fettes Essen nicht mehr.“, spricht ein anderer Gast.
Als die Gäste nach und nach verschwinden, sitzen T., M. und ich in der verwüsteten Küche. Die noch halbgefüllte Schale Risotto erinnert mich an meine Niederlage im versehentlichen Feldzug gegen Größe 36 bei anderen Frauen, und langsam schiebe ich mir Löffel um Löffel der erkalteten und ziemlich festen Masse in den Mund.
„Das Risotto ist nicht so gut weggegangen.“, sage ich, und bin ein bißchen beleidigt. „Naja, Modeste“, sagte der M. „Das ist wirklich das fetteste Risotto der Welt.“
Als Kind, das ist lange her, hatte ich einige Nächte lang Alpträume, wenn der geteilte Säugling in meinen Träumen erschien. Die für den Tag hinreichende Erinnerung an den weisen König Salomon, dessen Klugheit es zu verdanken war, dass die Richtige das Kind mit nach Hause nehmen durfte, versagte vor der Grauenhaftigkeit der klaffenden, offenen Wunde. Übrigens schrie das Kind in meinen Träumen. Das war bei Licht besehen nicht gut möglich, bei Licht besehen war das Kind ja aber auch ganz geblieben.
Mag sich diese Geschichte auch vor jedem Familienrichter tausendfach wiederholen, wie man sagt, – in meiner menschlichen Umgebung ereignet sich regelgerecht und wie immer nur die Farce:
Die ehemalige Berliner Rechtsreferendarin N., eine gute und leider zu selten angerufene Bekannte, lernte vor Jahren während eines Semesters an der DHV Speyer einen anderen Referendar kennen. Dieser stammte aus Trier, ein pausbäckiger, freundlicher Mann, der nach bestandenem Examen ein Amtsrichter wurde, gleichfalls in Rheinland-Pfalz. Für jenen äußerst heimatverbundenen Herrn galt, dass extra Augustam Treverorum nullum est vita, und so lebten meine Bekannte und ihr Gefährte einige Jahre glücklich in dieser Region, die ich mir als sehr geeignet für junge Familien und Menschen mit erhöhtem Ruhebedarf vorstelle.
Ob es an der Pfalz lag oder am Gefährten, irgendwann wurde es der N. öde, und man begann sich zu streiten. Die N. fuhr immer öfter nach Berlin, und als in einer befreundeten Kanzlei ein Schreibtisch verwaiste, unterschrieb N. schnell einen Arbeitsvertrag. Sie begann in Schöneberg zu arbeiten, trieb allerlei Allotria in den Bars von Berlin, und schließlich trennte man sich unter Umständen, über die ich mich hier gar nicht weiter äußern möchte. – Die Wohnsitze und Besitztümer waren unproblematisch, den Hund behielt der Pfälzer mit Garten, und am Ende blieb nur ein Problem: Wutz. Der braune Plüschbär vom Schützenfest. Wahrzeichen und Symbol der Liebe.
Als die N. den Bär einfach in ihre Kartons packen wollte, war der Gefährte dazwischen gegangen. Sie möge ihm doch den Bär lassen, als Erinnerung an das verlorene Glück. Er habe ihn ihr geschenkt, erinnerte N. den Gefährten an die Herkunft des synthetischen Ungetüms mit dem viel zu großen Kopf. Einer unstreitigen Handschenkung hat ein Amtsrichter nicht viel entgegenzusetzen, mit der Kraft des verwundeten Herzens klammerte sich der Gefährte aber trotzdem an den Bär. Schließlich ließ N. ihm das Plüschvieh.
„Weißt du,“, sagte mir die N. beim Wein vor ein paar Wochen. „Im Grunde bin ich doch blöd, dem G. den Bär zu lassen.“ Ich aber riet ab von weiteren Kämpfen, der T. bezeichnete die ganze Geschichte mit dem Bär als schlichten sentimentalen Blödsinn, den er sich keine Minute länger anhören würde, und so schwieg die N. und betrieb die Heimholung des Bären fortan hinter unserem Rücken.
Juristen können fürchterlich kaltschnäuzig sein. Die N. rief einmal an, zweimal an, und dann schickte sie dem G. einen Brief mit der Aufforderung zur Herausgabe des Bären auf dem Postweg auf ihre Kosten und unverzüglich. Ob die Drohung, ansonsten gerichtliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, auch in dem Brief stand, entzieht sich meiner Kenntnis. Eine Fristsetzung jedoch muss enthalten sein, denn einen Tag nach Fristablauf rief mich die schäumende N. an.
Ich verlasse meine unmittelbare Umgebung zwar generell nur ungern, die Sensationsgier jedoch gehört zu den wenigen Impulsen, die mich bis zum Wittenbergplatz treiben können. Und so brach ich auf. Dort, in der Wohnung der N., in einem gelben Postpaket, lag der halbe Bär. Die weiße Füllung quoll aus der Mitte, der braune synthetische Plüsch hatte jede Fasson verloren, und ebenso wütend wie nach Rache geifernd stand die N. neben dem geöffneten Paket. „Der kann was erleben!“, sprach die N. Man darf also gespannt sein.
Wo man in dieser Stadt gepökelte Kalbszunge bekommt, bleibt mein gut gehütetes Geheimnis. Während T. die Zunge so hauchdünn schneidet, wie die Metzgereigehilfen dieser Stadt es nicht für mich tun würden, hacke ich Zwiebeln und Ei und krame nach der Kräutermühle.
„Glaubst Du an die Dreitagesregel?“, frage ich den T. aus gegebenem Anlass. „An die was?“, fragt der T., der neue Bekanntschaften allerdings ohnehin selten zurückzurufen pflegt, wenn ich richtig informiert bin. „Erstes Date, drei Tage abwarten, dann anrufen.“, erläutere ich diese Regelung, die allerdings auch in meinem Leben keine größere Bedeutung hat als etwa buddhistische Bekleidungsvorschriften oder das schwedische Zivilprozessrecht.
T. schnaubt nur. „Glaubst Du überhaupt an Regelungen beim Kennenlernen?“, frage ich T. und nenne ein paar Beispiele wie etwa „Sex beim ersten Treffen mündet nie in eine Beziehung“, oder „wenn beim dritten Treffen nichts passiert, passiert nie was“.
„Meine Liebe,“, sagt der T., „ich glaube auch nicht an Oberregierungsräte, aber solange andere Leute an Oberregierungsräte glauben, muss ich ihre Existenz zur Kenntnis nehmen, und so tun, als ob diese Kategorien auch für mich Geltung hätten.“ „Du hältst dich also an solche Regelungen?“, frage ich nach. „Hängt von der Frau ab.“, sagt T. und schüttelt den Schnittlauch so energisch, dass dicke Tropfen auf den Boden fallen.
T.´s Argumentation leuchtet mir zwar unmittelbar ein, ein wesentlicher Punkt indes bleibt nach wie vor nebelhaft: Woher wissen die Leute eigentlich, wie die Spielregeln sind? Flüstern die besorgten Mütter dem Töchterchen vorm ersten Ausgang die Spielregeln verstohlen in die Ohren, und nur meine Mutter fand die Weitergabe dieser doch essentiellen Information übertrieben konventionell? Oder wurde die Kunst des Kennenlernens in den ersten Schuldstunden morgens unterrichtet, denen ich wegen einer lebenslangen Unfähigkeit, vor neun Uhr morgens aufzustehen, leider nicht beiwohnen konnte? Stehen die Regeln in der „Brigitte“, die ich zu Unrecht verschmähe, um statt dessen meine Zeit in Bars zu verbringen, wo ich entsprechend alles falsch mache, statt einfach mal einen Abend pro Woche der Lektüre dieser grundlegenden Fachzeitschrift zu widmen?
„Frag doch mal in deinem tollen Blog“, rät der T. „Die können mir ja viel erzählen.“, sage ich und bleibe, die ich bin.
Nachtrag
Mehr zur Drei-Tages-Regel bei der fabelhaften Frau Fragmente
„Se tu m´ami“, singt die Schwarzkopf, ich singe ein bißchen mit, und warte hungrig auf den O., um sodann zu zweit ergebnislos durch den Prenzlauer Berg zu streifen. Hat jenes Lokal geschlossen, so hält dieses ganztags nur Frühstücksbuffet vor, und ein weiterer Laden kann vom O. unmöglich betreten werden, um einer unangenehmen Bekanntschaft aus dem Weg zu gehen. „Du solltest keine Kellner küssen,“, stichele ich, inzwischen ziemlich hungrig.
Als die Papardelle vor mir stehen, kann ich auf einmal nichts mehr essen. O. dagegen isst, als hätte es drei Tage nichts gegeben und berichtet dabei eine eher erstaunliche Geschichte, in der eine Hotelsuite, diverse Betäubungsmittel und etwa zwanzig unbekleidete Personen eine ungewöhnliche Rolle spielen. Ich werfe meine Berlinalischen Feierlichkeiten in die Runde, welche bekanntlich dem Berliner das Faschingsfest ersetzen. Nachdem Einigkeit über die Qualität des hiesigen Winters herrscht, und die Meinungsverschiedenheiten über den besten Strand des Mittelmeers wohl hingenommen werden können, trennen wir uns vor dem Restaurant, und ich gehe nach Hause.
„Nicht erschrecken,“, mir bleibt fast das Herz stehen. J. steht in meinem dunklen Flur, der vor vielen Monaten einmal der gemeinsame Flur war. „Was willst du hier?“, frage ich, und J. zuckt mit den Schultern. Ich schaue auf die Uhr, zur letzten Verabredung bin ich jetzt schon zu spät. „Schön,“, sage ich, „trinken wir irgendwo einen Kaffee“.
Eine halbe Stunde später fühlt sich die Stimmung wieder halbwegs natürlich an. J. erzählt kleine, komische Geschichten, ich erzähle von meiner Urlaubsplanung, wir erinnern uns an die Sommer in Menton und der Maremma, das Rote Meer und die klirrend kalten nächtlichen Heimwege am Getreidemarkt vorbei. „Wann fährst du wieder?“, frage ich den J., der auf einmal unendlich traurig ausschaut.
Ich weiß nicht, wann er gefahren ist. Ich habe das Geld für den Tee auf den Tisch gehauen, war erst beim T., dann irgendwo in Charlottenburg, auf einer Party unbekannter, nicht sehr amüsanter Leute.
Heute morgen wieder daheim. Mit einem Griff zur Fernbedienung fängt die Schwarzkopf wieder an zu singen.
„Se sospiri“, singt Elisabeth Schwarzkopf, und ich koche mir einen Tee.
„Wartet Ihr noch auf jemanden?“, fragt ein Mann und fährt sich mit der Hand durch die sorgfältig verstrubbelten Haare. Meine Freundin deutet einladend auf den leeren Hocker auf der anderen Seite des Tisches, der Mann setzt sich und schaut von Zeit zur Zeit zur Tür. Irgendwann setzt sich ein anderer Kerl zu ihm, ebenso strubbelig, auch in schwarz, von dem ersten anhand der schwarzen Brille aber gut zu unterscheiden.
Der Verspätete scheint etwas unternehmungslustiger zu sein als sein brillenloser Kumpel. Aus einem an ausladenden Gesten reichen Gespräch heraus dreht er sich zu uns an der Wandseite des Tisches um und spricht Worte, von denen aufgrund des Lärmpegels auf unserer Tischseite nicht einmal ein fragmentarischer Rest ankommt. Ich lächele, zucke die Schultern und brülle meiner Freundin weitere Einzelheiten einer langen Geschichte zu.
Der Brillenträger deutet lachend auf seine Ohren und beginnt in seiner Tasche zu wühlen. Seit Jahren rätsele ich, was Männer in diesen riesigen Freitag-Taschen eigentlich mit sich durch die Nacht schleppen, und wieso es dieses Transportbedürfnis noch vor wenigen Jahren offensichtlich nicht gab, als ein Mann alle seine Utensilien in Jacken- und Hosentaschen verstauen konnte und sollte.
Eine repräsentative Antwort auf diese Frage vermag der Brillenträger offensichtlich auch nicht zu vermitteln. Aus seiner Tasche zieht er irgendwas Wollenes, vage viereckiges und hält es uns mit einer etwas verunglückt eleganten Geste unter die Nasen. Ich habe keine Ahnung, was das Strickwerk bedeuten könnte und fürchte zum Opfer einer eklektischen Miniaturausstellung zu werden. Erfahren im Umgang mit den hoffnungslosen Kunstjüngern von Mitte nehme ich das Ding einen Moment in die Hand, prüfe mit zwei Fingern die Textur, lächele den Mann an und reiche es nickend wieder über den Tisch. Dann wende ich mich mit ernster Miene wieder meiner Freundin zu.
Der Brillenträger ist hartnäckig und wühlt weiter in der Tasche. Als er gefunden zu haben scheint, was er sucht, zieht er ein nun ausgefülltes Strickviereck nach oben. In dem mit einem psychedelischen Muster versehenen Stricküberzug steckt ein I-Pod. Ich bedeute dem Mann kopfnickend meine Zustimmung. Großartig, nicke ich, darauf hat die Welt gewartet. Verbale Zustimmung dagegen könnte ich nicht einmal dann ausdrücken, wenn ich wollte, denn es ist, wenn dies überhaupt noch möglich war, noch lauter geworden.
Dem Brillenträger scheint das Maß meiner Begeisterung auszureichen, und um den konzeptuellen Hintergrund des Projekts „Stricküberzug“ zu erklären, quetscht er sich neben mich auf die Bank. Der Stricküberzug, erfahre ich, sei das Werk einer befreundeten Künstlerin. Die Stricküberzüge seien extrem individuell, sie würden durch das ausgewählte Material und den Kontext ihrer Verwendung eine Qualität erreichen, die im Rahmen von Gebrauchskunst selten sei. Die Künstlerin, schreit uns der Brillenmann in die Ohren, habe das Konzept ganz unbefangen entwickelt. Erst er habe erkannt, dass hier Chancen der Vermarktung existieren, von denen wir nicht glauben dürfen, dass sie dem Kunstwerk an sich seinen Kunstcharakter nähmen. Überhaupt sei er der Ansicht, Kunst und Kommerz bildeten keinen Gegensatz! Von der Radikalität seiner Äußerung berauscht, schaut uns der Brillenmann triumphierend in die Augen. „Wir müssen jetzt mal,“ sagt meine Freundin, und schaut auf die Uhr. „Was geht denn noch heut´ nacht in Mitte?“, fragt der Brillenträger. Meine Freundin behauptet eine Privatparty und wir greifen nach unseren Jacken.
Als ich hinter meiner Freundin an den beiden Männern vorbei zum Ausgang gehe, hält mich der Brillenträger kurz am Ärmel fest und hält mir aufmunternd eine Art Visitenkarte entgegen, auf der links neben den Namen ein I-Pod Stricküberzug prangt.
„Nun, Herzchen, das sind ja ganz neue Töne.“, T. steht konsterniert im Türrahmen. Ich beteuere, heute abend das Haus nicht einmal mehr dann für eine Party zu verlassen, wenn Gottvater persönlich angekündigt wäre. T. schimpft noch ein bißchen über die ausgeschalteten Telephone, dann schließt sich die Tür, und ich stehe ergebnislos vor dem Bücherregal. Der von amazon angeforderte Nachschub ist noch nicht da, nichts schreit heute abend nach Wiederlesen, und so beschließe ich, einen Film sehen zu wollen und stelle mir das Notebook vors Bett.
DVD´s habe ich sozusagen keine, fällt mir als ernsthaftes Hindernis meiner Pläne ein. Der DVD-Besitzer meines Vertrauens, der T., befindet sich an einem mir unbekannten Ort, jedenfalls aber keinesfalls daheim, und dies dürfte auch für die anderen Menschen gelten, die entweder DVD´s besitzen, oder zumindest eine Ausleihkarte einer Videothek ihr eigen nennen. Kurz überlege ich, selber eine Videothek aufzusuchen, zur Torstraße zur fahren, und dort Mitglied zu werden, aber bevor ich heute das Haus noch einmal verlasse, surfe ich eher bis zum Abwinken durchs Netz, um dann zu Bett zu gehen.
Zu essen ist auch nichts mehr im Haus, und die Flyer der Bringdienste sind alle umweglos in der Kiste gelandet, die derartigen Müll unter den Briefkästen aufnimmt. Also fahre ich den Rechner wieder hoch, tippe in das Google-Feld „Bringdienst Berlin indisches Essen und DVD“, aber kein Inder will mir Rahmkäse mit Spinat bringen und den noch ungesehenen letzten Almodóvar dazu. Auch die Pizzadienste der Stadt zeigen sich widerspenstig.
Eine Stunde später würde ich fast alles essen und rufe den erstbesten Pizzaservice an.
„Wieso führen Sie eigentlich keine DVD´s?“, frage ich den Mann an der anderen Seite der Leitung. „Wieso repariere ich keine Wasserrohrbrüche?“, fragt der Pizzakerl und weist die restliche Bestellung wegen Geringfügigkeit zurück.
Nun denn. Spaghetti mit Olivenöl und Chilipfeffer. Und hätte ich heute etwas mehr Energie, ein Quentchen mehr als die komplette Antriebslosigkeit, die nicht einmal mehr zum Badewannenbefüllen reicht – ich stände auf meinem Balkon, der Wind rauschte durch mein Haar, und ich würde brüllen:
„Nie wirst Du, Berlin, auf einen grünen Zweig kommen. Nichts zu essen und keinen Film. Hier steht die zahlungswillige Nachfrage, Herr Wowereit, stopft sich diese lappigen Nudeln in den Schlund, und bereichert T-Online in Darmstadt.“
Subjektiv stehe ich jeden Morgen kurz vorm Magendurchbruch. Objektiv scheint indes keine solche Gefahr zu drohen, und so schicke ich meinen Begleiter auf den weiten Weg um ein weiteres Glas Wein. Es ist in diesem an sich intimen und angenehmen Laden lauter und voller als an irgendeinem anderen Abend: Eine Frau in einer Art Vintage-Dirndl läuft mit einem Kuchen auf dem Kopf durch den Raum, Leute singen und das Lachen einiger Frauen, die gläserschwenkend zwischen den Tischen stehen, wird immer durchdringender und schriller.
Als weiter hinten im Raum eine Tischecke frei wird, versuche ich den Durchmarsch. An der ersten Ecke werde ich festgehalten. „Hey,“, begrüßt mich eine lockige Fremde, „Bist du Schauspielerin?“ Ich schüttele mittelmäßig irritiert den Kopf. Die Frage ist nachts während der Berlinale zwar nicht so abwegig, wie dies an anderen Orten oder zu anderen Zeiten anmuten mag. Allerdings ist die Vermutung individuell schon eher fernliegend, und so frage ich die Fremde nach der Ursache der Frage.
Die Frau, so stellt sich heraus, ist Regisseurin und plant einen Kurzfilm, der am kommenden Wochenende gedreht werden soll. Die Finanzierung steht, ein Kameramann ist aufgetrieben und das Drehbuch fertig, da verschwindet die mir optisch nicht unähnliche Schauspielerin und ward nicht mehr gesehen.
Das Drehbuch umfasst exakt zwei nicht ganz volle Seiten und könnte in seiner ganzen gespreizten Banalität von Judith Hermann stammen, so etwas mit melancholischem, einsamen Mädchen in Berlin, einem Kerl, emotionalen Ausbrüchen, Entfremdung trotz Gemeinsamkeit. „Das klingt ja total interessant!“, sage ich deswegen, und dass ich leider gar nicht schauspielern kann. „Macht nichts!“, sagt die Frau, und zieht mich um den Tisch. Auf einer Kiste sitzend probe ich den emotionalen Ausbruch. In der vollbesetzten Bar fällt mein Ausbruch gerade einmal nicht für fünf Pfennig auf, da außer meiner gespielten Szene noch mindestens zehn weitere Gefühlsausbrüche parallel stattfinden. „Fassungsloser!“, sagt die Frau. Auf der anderen Seite des Tisches grinst mein Begleiter und kippt weiteren Wein in mein Glas.
„Du machst das gut.“, sagt die Fremde dann, und fragt, ob ich mitmachen würde. „Klar,“ sage ich, und versuche mich zu erinnern, ob, wieviele und welche Termine ich am Wochenende verschieben müsste, und ob es sehr peinlich sein wird.
Die emotionale Siedestufe in der Bar erreicht unterdessen geradezu vulkanische Höhepunkte, die gläserschwenkenden Frauen quietschen und kreischen, und wir fliehen ins 103, wo fast alle guten Nächte enden.
„Etwas wirklich Ernsthaftes haben Sie also nicht?“, die Ärztin schaut mich streng an. Ich rutsche ihr gegenüber auf der Plastiksitzfläche des Stuhles ein wenig umher. Angesichts der Massen schniefender, Tröpfcheninfektionen versprühender Patienten im Wartezimmer hatte mich diese Idee zwar auch schon beschlichen. Indes – wäre nichts, wäre ich nicht hier, und so packe ich den Stier bei den Hörnern.
„Sehen Sie,“, sage ich der ungefähr sechzigjährigen Ärztin, „es ist jetzt nicht so akut. Halt etwas Herzklopfen, Händezittern in den Morgenstunden, ein gelegentlich nervöser Magen und hin und wieder Schlafstörungen. Das hält nun schon einige Wochen an, beeinträchtigt mein Wohlbefinden in gewisser Weise schon, und da dachte ich…“ – Die Ärztin schaut noch strenger.
„Nehmen Sie Drogen?“, ich schüttele den Kopf. Alkohol? – Mäßig. Dafür rauche ich. Die Ärztin schnaubt. Wann ich zu Bett gehe? Was ich beruflich tue? Habe ich Kinder?
Die Darlegung meiner persönlichen Verhältnisse scheint die Ärztin nicht zufriedenzustellen. Etwas unbehaglich rutsche ich hin und her. Die Ärztin hält ein flammendes Plädoyer für einen geregelten Tagesablauf, regelmäßige und maßvolle Mahlzeiten im Abstand von jeweils wenigen Stunden, nächtliches Schlafen und Nikotinabstinenz. Hinter ihr im Spanplattenregal stehen die Miniaturen der Wirbelsäule früherer Opfer als Trophäen und Warnung nebeneinander.
„Die Schwester wird jetzt ein EKG mit Ihnen machen.“, bescheidet mich die Ärztin.
Nach dem EKG sitze ich stundenlang im Wartezimmer auf einer ungeschlachten Couch und blättere in den ausliegenden Zeitschriften. Mein mitgebrachtes Buch habe ich lange durch, draußen dunkelt es, und nach und nach leert sich das Wartezimmer, bis schließlich auch ich erneut in die Ordination gerufen werde.
„Frau Modeste,“ verkündet mir die Medizinerin, „Ihr EKG ist völlig in Ordnung. Sie haben nichts. Suchen Sie sich eine vernünftige Beschäftigung und schlafen Sie regelmäßig.“ Die Ärztin streckt mir die Hand über ihren Schreibtisch hinweg entgegen und verabschiedet mich. „Machen Sie die Tür hinter sich zu.“, ruft mir die Ärztin auf dem langen Weg zur Tür noch hinterher.
Meine Freundin erzählt von ihrem langsam in den Wahnsinn abgleitenden Bruder und tut mir leid dabei mit ihrem Schwanken zwischen Ekel und Mitleid und der feinen Prise von Selbstvorwürfen, die wohl immer dabei ist, wenn denen, die wir lieben, etwas geschieht. Hinter den großen Fenstern ist es kalt und dunkel, und das gedimmte Licht über der Bar wirft weiche Schatten, in denen die Gesichter verschwinden.
Wir sind alle tot, denke ich. Am Nachbartisch greift ein Mann seiner Begleiterin an die Wange, als wolle er sich vergewissern, dass da Fleisch ist unter seiner Hand. Die Kruste der Crème Brûlée bricht noch, noch kommt der Kellner, wenn ich winke und im Spiegel über dem viereckigen Waschbecken lacht noch eine Frau, die einmal mehr ihren Friseur wechseln sollte.
„Bist du auch wieder einmal daheim,“ begrüßt mich mein Vater, als ich noch in meiner Jacke das Telephon abnehme. Er ist heiterster Stimmung, plaudert und lästert, liest mir Rätselgedichte vor, und lässt mich ein Geschenk erraten, das er mir von einer kurzen Reise mitgebracht hat.
Kurz denke ich an jenes ausnahmslos geltende Tabu, eine Stimmung zu durchbrechen, aber dann frage ich ihn doch nach dem Tod. Und ob Berlin schon die Unterwelt sei, der Totenfluß irgendwann gleichgültig über eine Autobahnbrücke überschritten. „Ach, geh,“, lacht mein Vater, und malt mir in braunen und pastellenen Kreiden jenen Moment aus, ein Absinken in leuchtenden Schlamm, Schmerz und Verwandlung. Dann kündigt er ein Paket in den nächsten Tagen an und wünscht gute Nacht.
Als ich im Bett liege, klingelt es, aber ich mache nicht auf. Im Dunkeln stehe ich am Wohnzimmerfenster und sehe einen Wagen auf der anderen Straßenseite lange stehen und schließlich davon fahren.
Diese Website verwendet Cookies und das Tool Counterize, über das ich einige Daten, wenn auch keine IP-Adresse, erhebe und verwende. Wenn Sie auf meiner Seite bleiben, gehe ich davon aus, dass Sie damit einverstanden sind.OKNeinWeiterlesen