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Halten zu Gnaden

Irgendwann zwischen meinem 12. und meinem 20. Lebensjahr habe ich eine halbe Stunde verloren. Vielleicht war´s der Tag, an dem ich stundenlang an einer Bushaltestelle stand, durchweicht und frierend, und auf jemanden wartete, der just an diesem Tag von seinem Vater am Clubhaus abgeholt worden war. Oder der Tag, an dem ich die letzte rettende Matheklausur verschlief, die mich vorm „mangelhaft“ hätte retten sollen. Ich bin dann doch nicht sitzengeblieben, aber das ist eine andere Geschichte.

Die habe Stunde habe ich nicht mehr aufgeholt.

Bin ich um 20.00 Uhr verabredet, wird es halb neun. Ich stelle mir die Uhr auf den Schreibtisch, ich kann mir sogar einen Wecker stellen. Wenn ich eine halbe Stunde vor dem verabredeten Zeitpunkt aufbrechen möchte, klingelt das Telephon und einer Freundin geht´s dreckig. Wer hätte das Herz…. Meine Strumpfhosen haben immer Laufmaschen, ich schmiere mir Make-Up auf´s Oberteil, und habe ich es ins Treppenhaus geschafft, steht mein netter Nachbar auf dem Absatz. Die U-Bahn ist gerade weg, die Taxen sind voll, und eine halbe Stunde nach dem verabredeten Termin stehe ich atemlos in der Tür.

Schlimm war das Jahr, als ich nach Berlin zog. Alles schien nah, alles war eine Dreiviertelstunde entfernt, und für ein paar Monate wurde aus der halben eine ganze Stunde.

Die halbe Stunde hängt mir nach. Bin ich eine halbe Stunden zu spät am Marheinekenplatz, um beim M. Tee zu trinken, so kann ich nicht nach einer knappen Stunde aufbrechen, denn ich bin ja kaum angekommen. Dann sitze ich also beim M. auf dem Sofa, trinke Tee und bin viel zu spät in der Pasteurstraße, wo die C. schon wartet. Aber der C. habe ich schon seit Wochen versprochen, ihr beim Formatieren ihrer Diss zu helfen. Dann schlägt die Absatzkontrolle Kapriolen, die Fußnoten stehen auf der falschen Seite, und die halbe Stunde steht auf meinem Zeitkonto wieder rot und dick im Minus.

Ungeküsst

Ein guter Teil meiner verpassten Chancen lagert in einer Teedose, in der das Warenhaus Fortnum & Mason mir vor Jahren einmal eine Portion Earl Grey verkauft hat. Die Teeblätter sind nun dahin, und statt der braunen Blätter knüllen sich seit Jahren die Zettelchen mit unangerufenen Telephonnummern junger Herren im Blech und riechen streng nach Bergamotte. Weil sich die Zahl der Interessenten in Grenzen hält, reicht eine Teedose völlig aus, mein ungelebtes Liebesleben aufzubewahren.

Hinter dieser ohnehin nicht besonders umfangreichen Sammlung von Telephonnummern, deren Inhaber gewillt waren, von Mademoiselle Modeste angerufen zu werden, bleibt die Zahl der beherzt zugreifenden Herren noch einmal deutlich zurück. Aus verständlichen Gründen halte ich keine Trophäen in Händen – besäße ich welche, wäre eine Zigarettenschachtel mit einiger Sicherheit groß genug.

Die These, wonach auch alleinstehende Frauen eher selten zur Keuschheit gezwungen sind, scheint in meinem Leben irgendwie nicht zu funktionieren. Kein nächtlicher Nachbar fällt mir auf öffentlichen Sofas um den Hals. Kein hübscher Tänzer probiert, ob ich nicht nur tanzen, sondern auch küssen kann. Auf der vorerst letzten Party meines Singlelebens saß ich irgendwann mit einem reizenden Jungen in der Küche, der mir einen feurigen Vortrag über das EU-Beihilfenzertifizierungsverfahren hielt. Vor meiner Tür bekam ich seine Nummer, und das Taxi fuhr davon. Und der niedliche Schweizer am Samstagabend aus den Kunstwerken ist auch ohne weiteren Körperkontakt entschwunden.

Tips guter Freundinnen, in deren Leben dieses spezielle Problem keine Rolle zu spielen scheint, können sich die Ratgeberinnen alle ans Knie nageln. Nonverbal habe ich einen Sprachfehler. Und zu direkten Ansprachen bin ich auch nicht fähig.

Da bleibt wohl nur Heiraten.

Hymne auf den T.

„Modeste“, sagt der T., „ist dir nicht besonders ähnlich.“
„Ist mir mein linker Fuß ähnlich?“, frage ich zurück. Bloß keinen Streit anfangen, denke ich, und die frische Versöhnung gefährden.
„Nicht, wenn du die Pediküre noch länger rausschiebst. Aber überhaupt, Melancholie…,“ sagt der T. „Besser wäre vielleicht: Teilzeitdepressiver Neurosenstadl. Oder gleich: Hysterische Hinrichtungen.“
„Wen leg´ ich denn schon unters Fallbeil?“
„Das fragst du mich?“, T. wird lauter. „Ich komm doch ganz mies weg, ich schau doch aus wie eine ganz eitle Knallcharge. Danke.“
„Schreib´ dir ein eigenes Blog.“, schlage ich dem T. vor.
„Pfff…,“, macht der T. und wedelt ein wunderschönes Blog über den Tisch ins Nirvana.
„Du weißt doch, was du mir bist.“, sage ich und gieße das Nudelwasser ab.
„Dann schreib´ das auch mal.“, gibt mir der T. auf und stößt die Gabel wütend in die Spaghetti.

Also gut:

Wie ich den T. kennenlernte

Irgendwann um meinen zehnten Geburtstag herum beschlichen meinen Vater Sorgen bezüglich meiner Ausbildung. Im alternativen Schulprojekt war Goethe immer noch nicht vorgekommen. Und nach den Sommerferien sollte kein Lateinunterricht beginnen. Schwer wogen die Prinzipien, schwerer wog das Kindeswohl, und so schlich mein Vater heimlich und hinter dem Rücken seiner Kumpane zum ältesten Lehrinstitut der Stadt. Der Direktor, ein berufskatholischer Hüne, ließ ihn zappeln. Und mein Vater tat Abbitte für sich, seine Frau, aller beider Abstammung und das alternative Schulprojekt. Dann durfte ich einen Aufsatz schreiben, ein bißchen rechnen und ward schließlich Sextanerin. – Komischerweise blieb der Kulturschock aus, irgendwie hatte ich es nicht anders erwartet.

Der größere Teil der neuen Sextaner kannte sich von den Nonnen, denen man die Grundausbildung der Kinder anvertraut hatte. T. dagegen kam von der Waldorfschule, was den Patres nicht wesentlich weniger suspekt war als das Schulprojekt. Ob wir uns aus Notwehr anfreundeten oder aus tiefer innerer Verwandtschaft – wir saßen jahrelang nebeneinander. T. fragte mich Erdkunde ab und ich ihn Latein. Wir zelteten in Dänemark, wir stritten uns alle drei Tage und tanzten miteinander auf dem Abschlussball. Weil der T. Äonen schlauer ist als ich, ist sein Abi bombastisch, und meines so lala.

Warum der T. toll ist

Der T. ist nicht nur wesentlich intelligenter, als ich es auch nur für fünf Minuten simulieren kann – er verfügt über jene gediegene Bildung, um die mich zu bemühen ich zu faul war und bin. Bekleidungstechnisch besitzt er das Pendant zum absoluten Gehör: Er findet in jeder Boutique in kürzester Zeit die Kleidungsstücke, die man besitzen muss. Die Kleidungsstücke, die mir dann auch stehen und die ich tragen mag, gehören zwar selten dazu, aber meine besten Stücke im Schrank hat mir der T. aufgeschwatzt. Alleine hätte ich mich wegen Extravaganzverdacht nicht getraut.

Warum ich den T. mag

T. ist zuverlässig, wann er immer er es für erforderlich hält. Er kann überhaupt immer (außer vormittags) angerufen werden und kommt meistens sofort. Als einer der wenigen Bewohner dieser Stadt kann er hauchdünne Wiener Schnitzel braten und macht auf Ansagen und auf die niederträchtigste Weise jeden meiner Feinde nieder, den er auch nicht leiden kann. Und um mir den Ausstieg zu erleichtern, hat T. acht Tage lang nicht geraucht, wenn ich dabei war.

Was ich am T. nicht ausstehen kann…

…sage ich ihm selber.

Perle am Helmholtzplatz

Haben Sie eine Perle gefunden? Sie muss am Helmholtzplatz liegen. Man sieht sie bestimmt kaum, denn sie ist ziemlich klein und so weiß wie der Schnee. Ich habe gesucht, ich bin den ganzen Heimweg zurückgegangen, aber die Perle ist weg.

Eine Perle, sagen Sie, ist doch nicht die Welt? Auf der Welt gibt es so viele Perlen. Schau, sagen Sie, bei Wempe gibt´s Nachschub, und ein Schenker wird sich finden.

Ja, sage ich Ihnen. Perlen gibt´s genug, aber diese Perle hat mir der B. geschenkt, als ich 14 war, und es war das erstemal, dass mir ein Mann ein richtiges Erwachsenengeschenk gemacht hat.

Der B. hat schon studiert damals, und ich war noch nicht mal in der Oberstufe. Es war August, ich war bei meiner Großmutter zu Besuch, und habe mich redlich gelangweilt und den ganzen Tag gelesen. Meiner Großmutter hatte nur ziemlich langweilige Bücher, aber angesichts der Langeweile im großmütterlichen Haushalt war sogar Adalbert Stifter ziemlich spannend.

Meine Großmutter kannte einen Haufen anderer alter Damen, die alle ähnlich rochen. Sie besuchten sich alle gegenseitig reihum, und ich war zwei Wochen lang der einzige Mensch unter 70. Da saß ich dann herum, lächelte, trank Tee und hörte mir die Geschichten an, die die alten Damen erzählten.

Irgendwann brachte eine der alten Frauen ihren Enkel mit, auf den sie mächtig stolz war. Sie verkündete den Ruhm seiner Sportlichkeit, seiner Intelligenz, seiner brillanten Studienleistungen, und der B. stand blond und etwas geniert neben ihr.

Vermutlich war es meine einzige Möglichkeit in meiner früheren Jugend, überhaupt von einem Mann angesprochen zu werden: Als einziges Mädchen unter lauter alten Frauen. Der B. setzte sich also neben mich und sprach fast ganz allein. Das war auch gut so: ich hätte keinen Ton herausgebracht. „Verabredet´s euch doch.“, sagte seine Großmutter, der der mangelnde Unterhaltungswert der großmütterlichen Sommerfrische wohl dunkel bewusst war. Und so gingen wir am nächsten Tag schwimmen, dann radfahren, und am dritten Tag war ich so entspannt, dass ich sogar in zusammenhängenden Sätzen mit ihm sprechen konnte.

B. las mir vor, er machte mir sogar ein paar Komplimente. Auf dem Weg zum See nahm er meine Hand, damit ich nicht stolpern würde, und ließ sie auch nicht los, als wir am See lagen und keine Stolpergefahr mehr bestand. Wir haben uns ein paar Mal geküsst, und ich erinnere mich an den Geruch von Wasser und Gras, als wir an einem verregneten Tag die einzigen waren am See. Dann musste der B. wieder fort, und ich langweilte mich noch mehr bei meiner Großmutter und den alten Damen, dem Tee und dem See, in dem alleine zu baden keine Freude war.

An meinem Geburtstag war der B. wieder da. Er aß mit mir und der Großmutter Torte, Hand in Hand umwanderten wir den See und küssten uns, wenn keiner zusah. Als er abends fuhr, steckte er mir das Schmuckkästchen in die Tasche.

Den Brief, der dabei war, habe ich lange nicht mehr. Die Großmutter ist tot, das Haus am See verkauft, und was der B. heute macht, weiß ich nicht und werde es nicht erfahren. Die Perlenohrstecker blieben bei mir. Mir den Jahren wurden die Verschlüsse locker, ich bekam anderen Schmuck, und trug die Perlen selten.

Manchmal, wenn ich nach Schmuck suchte, gerieten mir die Perlen zwischen die Finger. An den B. dachte ich selten dabei. Aber heute Nacht, wo die Perle am Helmholtzplatz liegt, tut es mir leid um den B., der nichts verlangte, nichts versprach und keinen Schmerz hinterließ, als ich nichts mehr von ihm hörte.

Polemischer Anfall braver Juristin

Ich habe gern studiert. Acht Semester Jura inklusive ein bißchen Wildern in jenen Gefilden, wo die dicken Bücher wohnen. Ein Auslandsemester war auch dabei. Ein paar Praktika hier und dort, eine Stelle als studentische Hilfskraft, und schließlich das Staatsexamen nach einem einjährigen sauteuren Repetitorium, aus Angst und weil es alle machen. Das ganze Vergnügen hat ein Schweinegeld gekostet. Und wer behauptet, ohne Geld ließe sich genauso komfortabel studieren, dem spucke ich höchstpersönlich auf die gelackten Schuhe und schicke ihn zur Frau Eriador, deren Beitrag ich leider noch nicht kannte, als ich vorhin mit einigen teilweise noch studierenden Bekannten essen war, die sich alle so mächtig auf die tolle neue Uniwelt gefreut haben, bis mir der Wein nicht mehr schmeckte, und ich so polemisch zu werden drohte, dass ich ganz schnell nach Hause fahren musste.

Kommen zu den Kosten, die ohnehin gegenwärtig schon mit einem Studium verbunden sind, nun auch noch Gebühren hinzu, so kann mir keiner erzählen, dass das nicht Leute vom Studium abschreckt oder das Studium gleich ganz verhindert. Geld, das nicht da ist, kann man eben einfach nicht ausgeben. Und dem Verweis auf Stipendien oder Darlehen traue ich erst, wenn auch diese Programme auf dem Tisch liegen, und nicht nur die Referentenentwürfe für die Zahlungsverpflichtung. Mit entsprechender sozialer Abfederung habe ich nichts gegen Studiengebühren, wenn es denn erforderlich sein sollte. Ich sehe nur weder Notwendigkeit noch Nutzen.

Das ausgerechnet jetzt Forderungen nach Studiengebühren laut werden, dürfte im übrigen keinen Zufall darstellen. Ich bin weder eine Freundin der politischen Linken noch werfe ich mich im Regelfall Verschwörungstheorien an den schrundigen Hals – aber es sollen seit dem Ende des Systemgegensatzes schon einige Anzeichen für eine gewisse grundlegende politische Umgestaltung der Bundesrepublik gesichtet worden sein.

Hat der Gremliza doch recht behalten.

Kinderlos und Spaß dabei

soso, Herr Petropulos, der Sie in der gestrigen Ausgabe der FAZ das Ende der „Illusion der Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ proklamiert haben.

Alles geht also nicht, und nur eine Ganztagsmutter gewährleistet das Kindeswohl. Die karrieregeilen Teilzeitmütter der von Ihnen zitierten zwei von drei Kindern aus der Berliner Innenstadt, die nicht richtig deutsch können, sollen also mit einem „Erziehungsgehalt“ daheim bleiben, derweil der Vater (gleichwohl in dem Artikel kein einziges Mal erwähnt), hinaus ins feindliche Leben strebt, um dort die Karrieren zu machen, um die die pflichtvergessenen „Ganztagsbetreuungstfetischistinnen“ sich zu bemühen erdreisten.

Lassen Sie es sich ganz nebenbei von einer kinderlosen Endzwanzigerin gesagt sein, die mit oder ohne Erziehungsgehalt keinen Nerv auf die Ganztagsbetreuung kreischender Bälger hat: Einer Frau, die zehn Jahre in ihre Ausbildung investiert hat, könnt Ihr Kinderfreunde gar kein Betreuungsgehalt zahlen, das sich die Bundesrepublik auch nur annähernd leisten könnte. Die meisten Menschen, die einen komfortablen Beruf haben, gehen überdies unermesslich lieber ins Büro als auf den Spielplatz.

Es gehört ohnehin zu den großen Irrtümern dieser absurden Debatte um die mangelnde Fortpflanzungsbereitschaft der Deutschen, dass die Frauen liebend gern Kinder hätten, und allein die schlechte Welt mit zu wenig Betreuung oder zu wenig Geld schuld an der Kinderlosigkeit sei. Die Wahrheit ist: Kinder haben macht keinen Spaß. Punkt. Und denjenigen Müttern, die mir mit rotgeränderten Augen von dem Wahnsinnsgefühl erzählen, dass kleine Kinder vermitteln, glaube ich erst wieder, wenn sie sich weniger sehnsüchtig von langen Clubnächten und Abenden im Theater erzählen lassen.

Schlechte Bücher oder: Modeste hat nichts zum Lesen mehr

Irgendwer, vielleicht war´s Maxim Biller, hat zum Zustand der aktuellen jüngeren Literatur einmal ausgeführt, die Langweiligkeit der Bücher habe ihren Ursprung in der Langweiligkeit der Leben, die diejenigen führen, welche Literatur absondern. Aus der Provinz an die Uni, 13 Semester Germanistik, ein paar Schreibworkshops und dann ziehen alle nach Berlin.

Angesichts der Tatsache, dass das Leben Prousts oder Kafkas noch um einiges eintöniger gewesen sein muss, als das Leben, das Judith Hermann in meiner persönlichen Vorstellung führt, ist diese These vermutlich falsch. Die Langeweile, die die Bücher jüngerer deutscher Autoren schwitzen, hat ihre Ursache nicht in der Eintönigkeit der Schriftstellerleben, sondern in der Eintönigkeit ihrer Phantasie. Die Tatsache, dass alle diese Menschen, soweit ich ihre Elaborate gelesen habe, ein nicht sonderlich aufregendes Leben führen, sollte mit ihren Büchern eigentlich nicht viel zu tun haben. Was spricht eigentlich dagegen, sich etwas Grandioses auszudenken? Oder einen historischen Roman zu schreiben, der nicht so muffig riecht wie die Werke Robert Schneiders? (Herr Perutz – stehen Sie auf von den Toten…) – Oder was spricht dagegen, einfach vernünftig zu recherchieren und Geschichten zu erzählen, die großartige Geschichten sind?

Die traurigen jungen Autoren aber erzählen keine großartigen Geschichten. Statt dessen erzählen sie Geschichten, die fortwährend von ihnen selbst handeln, von ihren Gefühlen, von ihrer Weltsicht, also von vorne bis hinten von langweiligen jungen Menschen, die aus irgendwelchen Käffern in die große Stadt gezogen sind und an der Welt leiden. Gibt es einmal eine nennenswerte Handlung, so ist diese sowohl stark metaphorisch überladen als auch in hohem Grade unwahrscheinlich, vermutlich weil der unselige Grass in die verwirrten Gemüter einen Hang zu erzählerischen Extravaganzen gelegt hat, gerne mit sexuellem Einschlag. Ich interessiere mich nicht für zehn Pfennig für die negativen Gefühle, die Sybilles Bergs letzte Heldin ihren Mitmenschen im Zuge einer anschlagsbedingten Notstandssituation entgegenbringt. Und derjenige, der mir glaubhaft ein ehrliches literarisches Interesse an diesen Ereignissen darlegen kann, kann mein Exemplar gerne haben.

Natürlich spricht die relative Ereignislosigkeit eines Romans nicht im geringsten gegen denselben – das Leben in einem Lungensanatorium gehört nicht zu den unterhaltsamsten unter den denkbaren Existenzen. Von mir aus kann ein Buch von der Fliege an der Wand handeln – aber ich will mit der Fliege mitfiebern: Wird sie es schaffen? Oder wird die harte Hand des Schicksals in Form der Fliegenklatsche die zarte Unschuld doch dahinraffen? Ich verlange also in aller Schlichtheit ein gewisses Maß an Empathie. Und der Entwicklung dieser Empathie ist eine Sprache nicht förderlich, die es in meinem Leben nicht gibt, weil niemand so denkt oder spricht. Diese Tatsache muss nicht gegen eine Sprache sprechen, die eben besser als die Alltagssprache geeignet ist, bestimmte Gefühle, Stimmungen oder Situationen zu charakterisieren. Dies trifft auf die in der aktuellen Romanlandschaft verwandte Sprache allerdings nicht zu. Sie ist nicht besser, sondern in aller Regel schlechter geeignet, Dinge auszusprechen, die vielleicht auch deswegen so flach und unsinnlich daherkommen, dass der Tod nicht schreckenerregend und der Sex nicht lustvoll wirkt.

Mir ist völlig unklar, wie es zu diesen Texten in dieser Form und mit dieser Sprache kommt. Es erscheint mir nicht besonders wahrscheinlich, dass jugendliche Enthusiasten der Literatur in die Welt aufbrechen, um diese mit bedeutungsschwangeren, langweiligen Geschehensabläufen in abgehackten Sätzen und unsympathischem Personal zu bevölkern. Entweder schätzen diese Menschen an Büchern etwas völlig anderes als ich, oder es gibt Lehranstalten der Literatur, die ein anderes Erziehungsideal vermitteln, als ich es als Leserin goutiere. Als eine Person, die nie einen Literaturworkshop besucht hat, und weder mit dem Lesen noch mit dem Verfassen literarischer Texte in einem professionellen Zusammenhang steht, mag mir da was entgangen sein. Und der Kritik scheint´s ja zu gefallen. Aber trotzdem – wer schreibt Bücher für mich?

Vorgeschichte oder: Nicht wieder gutzumachende Dummheiten im Verlaufe der letzten Woche

„Wo bleibst du?“, zischt T. ins Telefon. Ich kann mich an keinen Verabredung erinnern, aber „18.1., 13.00 Uhr“ steht auch auf dem gelben Post-It auf meiner Wohnungstür, und so hat T. wohl recht. Mit ziemlich nassem Haar und einer lila Bügelhandtasche zum kirschroten Mantel stürze ich eine knappe halbe Stunde später in das Kreuzberger Restaurant, welches sich der besten Schnitzel Berlins rühmt.

K. und T. sitzen sich gegenüber. Die Atmosphäre am Tisch mit „eisig“ zu beschreiben, wäre fast noch geschmeichelt. Die Versöhnung der beiden, die Zweck dieses Mittagessens war, ist offenbar noch nicht eingetreten.

Dass K. und T. sich nicht gut leiden können würden, war vorhersehbar. Der schlichte, bodenständige K, solider Insolvenzverwalter mit einem akuten Mangel an Phantasie, und der kluge, nervöse T. haben so gut wie kein Interesse gemein. Streiten hätte man sich vielleicht nicht müssen, aber nun sind über Tage böse Worte gefallen, derb von der einen Seite, von der anderen Seite ziselierte Bosheiten.

Ich lese noch in der Karte, als der K. auf die Uhr schaut. Eine Besprechung in der Kanzlei. „Gut“, sage ich. Ich habe ohnehin keinen rechten Hunger und gebe der Kellnerin die Karte ohne Bestellung zurück. Vor der Tür winkt K. einem Taxi.

In der offenen Taxitür dreht sich K. zu mir um, legt mir die Hände an die Wangen und küsst mich auf die Wange, ziemlich lang. Es fühlt sich gut an in diesem Moment, und so lasse ich mich küssen und drehe den Kopf ein wenig zu seinem Mund. Er küsst, atmet, drückt mich an sich und flüstert mir etwas ins Ohr, was ich nicht verstehen will. Mir wird die Kehle eng, ich reiße mich los. K. schaut mich an, und steigt in das Taxi.

Geh bloß weg, denke ich. Du bist es doch keinen Fall, denke ich auch noch und dann drehe ich mich zum T. um, lege ihm die Arme um den Hals und drücke ihm einen Kuss auf den Mund. Schau, K., denke ich, so ein Kuss hat gar nichts zu bedeuten, und ich liebe dich so wenig wie den T. oder sonst irgendwen. Das Taxi mit dem K. fährt weg.

T. könnte mich nun loslassen, aber er küsst weiter und zieht mich dicht an seinen Körper. Da schau her, denke ich. Fließt in diesen Adern also doch noch Blut und kein Frostschutzmittel.

Dann stehen wir einander sprachlos gegenüber und gehen stumm zum Lausitzer Platz, wo der T. parkt. „Bis dann“, sagt er, steigt ein und fährt davon.

Das Singleleben ist nichts für mich.

So scheint die Liebe

„Warum bist du gekommen?“, frage ich und schiebe mir ein Stück Weichkrokant zwischen die Zähne.

„Weil du das wolltest.“ Er lacht, aber sein Lachen hört sich an wie Gebell.
„Ich bin gekommen, obwohl du fürchterlich bist. Unzuverlässig. Das Gegenteil von konsequent. Du verzeihst jemandem, der seiner Freundin einen Marmoraschenbecher auf den Kopf haut und wirfst Leute raus, weil sie mit Alpenveilchen vor der Tür stehen. Du hast überhaupt keine Grundsätze. Du kannst fürchterlich austeilen, aber bist sofort beleidigt, wenn du glaubst, dass man dir nahe zu tritt. Du versuchst nicht einmal, dich zu beherrschen und gibst jeder Laune nach. Und man weiß nie, was dir in den nächsten fünf Minuten einfällt.“

Onkel S. findet mich unproblematisch.“, ich lehne meinen Kopf an seine Schulter und sehe ihm zu, wie er ein Nougattütchen vom Stanniol befreit. Sanft legt er es mir auf die Zunge.
„Und dein Vater hält dich für sein persönliches Geschenk an die Menschheit. Und weißt du was? Sie haben unrecht!“, er lacht und diesmal klingt es schon besser.
„Was willst du dann hier?“, frage ich ihn nochmal.
„Dich mit Ingwerstäbchen füttern.“ Knisternd löst sich das Cellophan von der Packung.

Aber auch er hat Fragen: „Warum hast du mir ausgerechnet jetzt geschrieben?“ Er zieht seinen linken Arm hinter meinem Nacken hervor und bricht mit beiden Händen Schokolade, Domori Latte Sal. Mir wird langsam übel. „Nein, wehre ich ab. „Das willst du nicht wissen.“ Oh doch. Er will. Und es dauert lange und ist ein bißchen peinlich.

„Das sieht dir ähnlich.“, sagt er, als ich fertig bin. „Sieh zu, wie du die Sache mit K. und T. wieder in Ordnung bringst. Ich hänge mich diesmal nicht rein.“.

„Brauchst du auch nicht,“ sage ich, und das ist natürlich ganz und gar gelogen.