Ob es das volle Glück gibt? Makellos glänzende Tage, ein uneingeschränktes Ja zum eigenen Leben, ohne Risse in der spiegelnden Oberfläche, wolkenloser Sonnenschein. Keine Unsicherheiten in der Hinterhand, keine Schatten, an die man nicht denken darf, ohne dass der Himmel sich bezöge.
Den Ort, den ich nicht ertrüge, und den ich erreichen will, was immer es kostet.
Wer steckt den Integrationsfreunden bei passender Gelegenheit, dass die von ihnen erwünschte Integration der in Deutschland lebenden Ausländer nie, nie, nie Wirklichkeit werden wird, wenn man faktisch nicht Deutscher werden kann? Solange man nach einem ganzen Leben in Deutschland und einem deutschen Studium in regelmäßigen Abständen Komplimente für sein Mordsdeutsch bekommt. Und Fremde das Herkunftsland der Eltern wegen seiner höflichen, gastfreundlichen Einwohner loben, obwohl man selbst in diesem Land zusammengenommen keine drei Monate verbracht hat. Und die Sprache nicht richtig kann.
Wieso sollte sich überhaupt irgendein Ausländer integrieren, wenn er mittels Leberkäse und Weihnachtsbaum bestenfalls zum Lieblingsausländer seiner Nachbarn avanciert. Und man als Ausländer die selben Chancen hat, als deutsch wahrgenommen zu werden wie als Elefant.
Ein Juwel deutscher Integrationsbemühungen ist die politische Linke. Warum, so wird von dieser gern gefragt, wolle man eigentlich deutsch sein? Deutschland sei ein furchtbares Land, sie wären froh, sonstwas zu sein, bloß nicht deutsch, huh. Die deutschen Gartenzwerge, Hitler, die Hausmeisterin mit ihrem Putztick, alles deutsch, alles komplexbeladen. Sie könnten vor nationalen Traumata kaum mehr stehen, und es sei doch toll, diese Problematik nicht auch noch an den Hacken zu haben.
Schön, denkt man. Aber es wäre doch nett, sich wie jeder andere zu den Erscheinungen des deutschen Alltags äußern zu dürfen. Kritisch oder zustimmend, aber von innen, und nicht als der Blick von außen. Es geht nicht um Dazugehören, es geht um eine künstliche, projektierte Fremdheit, die auf der Haut brennt. Und diese Fremdheit taugt schlecht als Siegerpokal, mit dem man irgendjemanden motivieren will, deutsch zu werden, sich zu integrieren und Loyalitäten zu entwickeln.
Letzten Endes hat der Umgang mit Konservativen doch eine Menge für sich. So hätte ein der lustigen Libertinage hingegebener Mensch meine Flucht vom Freitagabend vermutlich – zu recht – lächerlich gefunden. Der K. hat Blumen geschickt, einen üppigen Strauß weißer Lilien, und einen Entschuldigungsbrief dazu, mit der Bitte um Verzeihung für den unerklärlichen Verlust an Beherschung.
Es ist also kurz vor zehn am Freitag abend, und K. steht vor der Tür. Krankenbesuch. Er hat ein paar Flaschen Bier mitgebracht, setzt sich aufs Sofa, wirft die Krawatte auf den Boden und beginnt zu erzählen. Gegen den K. spricht eigentlich alles, ein süddeutscher Burschenschaftler mit fiesem Dialekt, Insolvenzverwalter und Muttersöhnchen, aber bis vorgestern mochte ich den K., und so holte ich Schokolade aus dem Schrank, setzte mich neben ihn und hörte ihm zu.
Vermutlich haben mir die Frauenzeitschriften den Rest gegeben. Ich hatte so einen Schlafanzug an, grün-beige gestreift, und darüber einen Bademantel. Ab und zu griff ich mir heimlich, so dass K es nicht sehen konnte, in die Oberschenkel. Ganz schön fleischig.
K. erstattete detaillierten Bericht über die Ereignisse im K.´schen Kosmos der Woche, aber irgendwann, zwischen getürkten Listenanmeldungen und dem unfähigen Insolvenzgericht übermannten mich die Selbstzweifel. Ich öffnete den Mund und sagte:
„Findest du mich eigentlich attraktiv?“
K. sagte nun gar nichts mehr. Die Selbstzweifel brausten und blubberten, ich flüchtete ins Badezimmer, und als ich wieder ins Wohnzimmer kam, war K. nicht mehr auf dem Sofa. Statt dessen saß er im Schlafzimmer auf meinem Bett. In Unterwäsche. Sein Anzug hing ordentlich, Falte auf Falte, über dem Stummen Diener und K. sah mich erwartungsvoll und etwas unsicher an. Den Badezimmeraufenthalt musste er falsch verstanden haben.
Ich drehte mich um und ging. Ich verließ die Wohnung, klopfte bei meiner Nachbarin und sah den letzten Rest von „Jenseits von Afrika“ auf DVD. Robert Redford starb, die Farm brannte und ich ging wieder in meine Wohnung. Es war inzwischen ziemlich spät. K. war noch da. Allerdings wieder voll bekleidet, sogar die Krawatte hing am Hals.
Ich setzte mich wieder aufs Sofa, K. saß mir gegenüber und ein paar Minuten sagte keiner irgendwas. Dann öffnete K. noch ein Bier und setzte die Unterhaltung fort. Insolvenzverschleppung also.
Als er gegangen war, schwor ich mir, mich nie, nie wieder zu beschweren, ging ins Bett und schlief wahnsinnig gut.
Irgendwann, viel zu früh, weckte mich das Telefon. Mein Vater. Auch er, so hob er an, sei gerade erst aufgewacht, und zwar im Zustand einer hochgradigen emotionalen Erregung. Er habe geträumt – nein, das könne er nicht sagen. „Sei ein Kerl.“, herrschte ich ihn an. In Vaterbeherrschung bin ich ziemlich gut. Er räusperte sich und sprach:
Er hatte geträumt, wir säßen im Garten. Es war Sommer, und die Apfelbäume blühten und mein Vater erwartete Besuch. Er stand am Grill, als der Gast neben ihn trat.
Mein Vater drehte sich um, Reichsminister Goebbels stand neben ihm und er hatte Fleisch mitgebracht.
Ich glaube, ich kann gar nicht flirten. Von „Zehn Flirttips“ in der Zeitschrift, die mir eine Freundin in der Mittagspause ans Krankenbett gebracht hat, entspricht exakt keiner meinem nächtlichen Jagdverhalten. Ich greife mir weder auffällig ins Haar, noch suche ich den Blickkontakt, lasse Gegenstände fallen etc. – Haben die recht, und ich gehöre demnach zu den Verhaltensgestörten des Geschlechterkampfes?
So eine Erkältung hatte ich zehn Jahre nicht. Mit den Geräuschen, die ich von mir gebe, könnte man eklige Scherzartikel ausstatten, so kleine Döschen, aus denen dann statt einer Plastikballerina und „Für Elise“ in der Spieluhrversion bloß ein widerliches Röcheln dringt.
Immerhin reicht es schon wieder zum Lesen. So rufe ich gestern abend einen unweit residierenden Freund an, und bitte ihn um einen Büchereinkauf. „Was soll´s denn sein?“, werde ich gefragt, ich verlasse mich voll auf seinen guten und meist gleichgerichteten Geschmack, und zwei Stunden später steht er mit einer vollen Einkaufstasche Bücher und Kuchen vor der Tür.
Ich packe Nootebooms „Philip und die anderen“ aus, freue mich über Friedells „Kulturgeschichte Griechenlands“, und ziehe die Decke ein bißchen höher, während T. in der Küche nach Tellern sucht. Der überaus empfehlenswerte, kaum zu übertreffende, hervorragende Kuchen, der russische Tee mit Rum – für ein paar Minuten ist das Leben schön, Erkältungsoptimalfall.
Aber dann frage ich T. nach den Hintergründen seiner literarischen Auswahl. – Ein paar Bücher hätte ich schon besitzen können, einige andere würden mir vermutlich missfallen, und für einige ihn interessierende Werke sei ich schlicht zu prüde. Oha. Ich stopfe mir den Rest einer Tarte Tatin in den gschwollenen Rachen und versuche, nicht allzu betroffen zu wirken. T. spinnt doch, sage ich laut im Badezimmer. Ich liebe nicht nur im Dunkeln, ich habe noch keinen Film wegen nackter Haut verlassen, und dass ich mich nicht gerne nackt oder wenig bekleidet zeige, liegt nicht an übertriebenem Schamgefühl.
Ein wirklich durchschlagender Umstand, den ich T. bei seinem nächsten Besuch um die Ohren hauen könnte, fällt mir allerdings auch nicht ein. Vermutlich hat er, gemessen am T.-schen Maßstab – recht.
Aber ist das ok? Bin ich vielleicht einfach konservativ in einer etwas entgrenzten Welt, von der mit Vergnügen lese, aber über die ich – und soweit hat T. eben recht – nicht einmal laut sprechen kann? Oder werde ich langsam zu einer spinösen alten Jungfer, die sich mit den Jahren umwenden wird, wenn sich an der Ecke zwei Hunde paaren? Könnte, sollte, würde ich besser etwas dagegen tun? Und wie sieht das große Anti-Prüderie-Trainingsprogramm aus? Und nicht zuletzt – was habe ich davon?
Im Normalfall verbringe ich den Großteil meiner Tage auch in der Wohnung. Aber beim Arbeiten kann man sich schlecht langweilen, ohne Kopfschmerzen kann man lesen, und – wer nicht keucht wie die Kameliendame auf den letzten Seiten – darf Leute anrufen und sich besuchen lassen. Außerdem darf man abends raus.
Solange man sich fühlt wie der Dreck im Abfluss, ist die Isolation auch kein Problem. Aber heute, nachdem ich wieder einigermaßen aufrecht stehe…Immerhin gibt es mehrere Möglichkeiten:
– gutgläubigen Besuch per SMS ohne verräterischen Husten herlocken
– Lesen (leider ist kaum mehr was im Haus)
– bei den netten Nachbarn fragen, ob man sich vor ihren Fernseher packen darf und alle anstecken
Oder einfach ins Bett gehen, Leute anrufen, die viel zu lange nicht angerufen worden sind. Schlafen und von Dingen träumen, die nur der fiebrige Wächter ins Traumbewusstsein lässt.
Nachts im Bett zu liegen und sich angenehm und schwer zu spüren. Mit den Händen über die Hüftknochen zu fahren und über den Bauch, der leider fester sein könnte. Die Haarspitzen zwischen den Fingern prüfen. Fühlen, wie sich die Steppdecke mit jedem Atemzug etwas auf der Haut verschiebt.
Und auf einmal, ohne ein Geräusch, ohne Bewegung, kippt die Atmosphäre im leeren Raum. Irgendwo in meinem Körper, unter der Haut, im Knochenmark oder in der Lunge, sitzt die Zelle, die den todbringenden Tumor auslösen wird. Das noch gleichmäßig pochende Herz wird sich verkrampfen und stocken und niemand wird die Zeit anhalten zwischen dem Erschrecken und dem Dunkel und dem Zusammensturz meiner Welt.
Wäre nur einer da, könnte ich jemanden rufen, so würde die Stimmung im Schlafzimmer schnell wieder hell. Aber wenn es soweit sein wird, morgen, nächstes Jahr oder irgendwann, werden die, die ich liebe, am Bett stehen und ratlos zuschauen, wie ich vergeblich atme, schreie, und die Zeit stehenbleiben wird als ein großes Dunkel ohne mich.
Es war spät und der Rauch der Zigaretten schimmerte im Kerzenlicht wie ein Heiligenschein. Der Wein ging zur Neige, und ich ging in die Küche, um Gin Tonic zu mixen. C. ereifert sich über ihren Friseur. M. und ich stritten über die „Entführung aus dem Serail“ in der Komischen Oper, die ich zweimal gesehen habe und über die ich mir bei der Premiere fast die Hände blutig geklatscht habe.
T., der schon Stunden nichts mehr gesprochen zu haben scheint, begleitet mich in die Küche. Ich schneide Zitronen. T. nörgelt, das tut er eigentlich immer. Seine Tiraden über die Friseure und Metzger von Berlin habe ich öfter gehört als die Zauberflöte. Seine ergebnislose Suche nach dem perfekten italienischen Restaurant von Mitte langweilt mich inzwischen mehr, als sie mich amüsiert. Heute bin ich dran.
T. sagt, Ich bin unpolitisch. Das ist ok. Ich bin ein Snob, sagt er, aber das ist nicht wahr. Ich gebe zuviel Geld aus, aber was andere Leute ausgeben, ist mir egal. Dann holt T. zum Schlag aus. Ich sei in der Realität nie angekommen. Auffordernd und ein bißchen kokett schaut er mir ins Gesicht.
Nun würge ich T. ab und drücke ihm zwei Gläser in die Hand, die er ins Wohnzimmer tragen soll. Wir streiten und trinken, wir verabschieden uns.
Allein stehe ich auf eine letzte Zigarette auf dem Balkon. Ich ärgere mich über T. Vermutlich hat er recht. Aber ich bin der Realität nicht ausgewichen. Sie ist nicht zu mir gekommen, das harte, wahre, authentische Leben hat mich ausgelassen:
Die Wirtschaftskrise hat mein Umfeld irgendwie nicht erfasst. Obwohl ich in Berlin wohne. Niemand, den ich kenne, hat schwere Krankheiten oder sonst Lebenskämpfe auszufechten, die über unerwiderte Liebe oder Übergewicht hinausgingen. Ich hege keine Bedenken bezüglich meiner beruflichen und sonstigen Zukunft.
Ich weiß, dass meine Lage mehr als nur ein bißchen privilegiert ist. Ich lese Zeitung und kann mir vorstellen, dass das Leben ziemlich unangenehme Seiten haben kann. Ich habe es nur nie gesehen oder gespürt. In der Öffentlichkeit artikulieren sich andauernd Betroffene. Ich bin von komplett nichts betroffen. Und um über dieses Faktum glücklich zu sein, ist es mir zu selbstverständlich.
T.´s Vorwurf hätte vielleicht lauten sollen: Ich bin in der Realität anderer Leute nicht angekommen.
Ich schaue dem Zigarettenstummel nach, der ziemlich langsam in den Hinterhof fällt. Ich schließe die Tür. Wieso, frage ich mich, soll ich in der Realität anderer Leute verkehren? Warum soll ich mich für Menschen interessieren, die sich auch nicht für mich interessieren?
Ich erschrecke.
„Aber“, spricht der Zyniker in meinem Kopf, „was macht es für einen Unterschied, ob du dich für den Rest der Welt interessierst oder nicht. Ob du über Hartz IV sprichst oder über ein Revival der Persianerjacke, das ist doch ganz egal.“
Ein großer Unterschied ist das, fahre ich ihn an. Und er schüttelt den Kopf und lacht.
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