Letzte Tagung des Jahres. Vor der Tür stehen die Professoren inmitten ihrer Assistenten und demonstrieren, dass der aktuelle Vortrag sie durchaus kalt lässt. Man tauscht Vistenkarten für die Zeit nach Abschluss der Diss, lacht zu laut über die Witze der Professoren, lästert über die Veröffentlichungen des Jahres und schweigt gekränkt, wenn die eigenen Publikationen nicht einmal der üblen Nachrede gewürdigt werden.
Vor dem Zigarettenautomaten steht mein glatzköpfiger Onkel, seine ausschließlich weibliche Schülerschaft um sich herum. Begrüßung mit großem Hallo, seine Assistentinnen zeigen mir ihre weißen Zähne, und er zieht mich davon. Etwas irritiert winkt aus einer anderen Ecke mein Doktorvater.
Man könne, sagt mein Onkel nach der Begrüßung, sich den Vortrag von Kollege X auch sparen, der sage sowieso immer dasselbe, und so fahren wir zu einem Kaffeehaus in der Innenstadt, bestellen Quark-Sahne und Kännchen Kaffee. Hinter den fast blickdichten Gardinen blinkt der Weihnachtsmarkt des Städtchens, Schwaden von Glühweingeruch ziehen über den Platz. Die Kellnerin trägt ein weißes Schürzchen und eine Haube auf dem dauergewellten Grauhaar.
Mein Onkel fragt nach dem Ende der Beziehung mit I., dem Wohlergehen einer Freundin, die ihm bei einem gemeinsamen Essen gefallen hat und erzählt Klatsch über Professoren und Anwälte. Ich bestelle zwei Würstchen mit Kren, und gebe von Zeit zu Zeit die erwarteten Laute des Verstehens oder der Zustimmung von mir.
Der Onkel berichtet über die Universitätskatastrophen seiner Söhne, von denen der Ältere dazu noch viel zu viel Liebesleben unterhält, und dafür der Jüngere gar keins. Ich trage einen Zwischenbericht über Desaster im Leben meiner kleinen Schwester bei, und dann macht mir mein Onkel doch tatsächlich eine Art Kompliment – ich sei das unproblematischste Wesen, das er kennt.
Ich bin ziemlich selten sprachlos. Aber mein Onkel ist ein Mensch mit ungewöhnlichen Fähigkeiten, und so setzt er sogar noch einen drauf. Ich, so mein Onkel, sei eine Meisterin des Maßhaltens. Ich würde mich für nichts übermäßig interessieren und für fast alles zumindest soweit, dass ich irgendetwas Gepflegtes dazu sagen könnte. Ich hätte ein meistens wohlgeordnetes Privatleben und wohltemperierte Freunde, wäre hübsch genug, aber keine sinnenverwirrende Sirene. Hinreichend intelligent, aber nicht problematisch intellektuell. Eine „postmodern weibliche Ausgabe des Modells Hans Hansen“.
Für die nächsten paar Minuten fiel mir nichts mehr ein. Ich kaute auf meinen Würsteln, kippte Kaffee hinterher, und hatte mich gerade soweit erholt, dass die ersten Argumente der großen Gegen- und Verteidigungsrede in meinem Gehirn Form annahmen, da stand mein Onkel auf. Der Kollege X sei jetzt fertig, noch zwei Stunden bis zum Abendessen, und den Herr Prof. Y dürfe man nicht verpassen.
Psychisch leicht derangiert stolpere ich auf meinen Lehrstuhl zu. Woher ich denn den S. kenne, befragt mich mein Doktorvater mit leicht zusammengezogenen Brauen. Der sei ja ein so unangenehmer Mensch, ein bedeutender Denker, aber charakterlich….Das sei mein Onkel, flüstere ich zurück, und lasse mir von einem wohltemperierten Freund und Kollegen ein großes Glas Wasser bringen.
Bitter
„postmodern weibliche Ausgabe des Modells Hans Hansen“.
Warum nicht wenigstens Hans Castorp…
REPLY:
Ja, das ist fies. Für das Modell „Hans Castorp“ fehlt es mir aber ganz eindeutig an Naivität. Als reine Törin eigne ich mich nicht; als robustes Wesen ohne geistige Basis indes eigentlich und hoffentlich auch nicht. Und die Frage, ob dieses ärgerliche Mißverständnis jetzt in dem Hirn meines Onkels entstanden ist, oder doch irgendwas mit mir zu tun hat – tja, die beschäftigt mich jetzt vermutlich mindestens bis Weihnachten.
Oh.
Ich schwanke zwischen einem empathischen Himmel, solche Verknotungen zwischen Arbeit und Familie sind ja scheusslich und einem ironisch-distanzierten ach, die Luxusprobleme der höheren Töchter.
(Auch die Erzählerin ist ambivalent: Einerseits ärgert sie sich verständlicherweise über den Onkel, doch gegenüber dem Prof bekennt sie sich dazu, die Nichte zu sein, anstatt zustimmend zu nicken…)