The Night Is Thine

Nicht, dass ich ihn geliebt hätte. Als ich ihn das letzte Mal anrief, vor zwei Jahren, hatte ich zwar die ganze Nacht nicht geschlafen. Ursache war aber das Examen ein paar Tage später, mit ihm hatte das rein gar nichts zu tun. Alle waren erleichtert über den Befreiungsschlag, ich war weder erleichtert noch traurig.

An die Details seines Gesichts kann ich mich nicht mehr erinnern. Nach meinen Worten könnte keiner ein Portrait malen, nicht einmal ein Phantombild spränge dabei heraus. Ich kann nicht einmal mehr sagen, ob er Brusthaare gehabt hätte, angewachsene Ohrläppchen und wie er sich angefühlt hat. Photos gibt es nicht für mich. Was ich über ihn geschrieben habe, ein halbes Quartheft voll, hat derjenige zerstört, der Anspruch gehabt hätte auf meine ungeteilte Aufmerksamkeit, und vor dessen Schmerz ich geflohen wäre, wenn er mich gelassen hätte.

Als er nicht mehr anrufen sollte, und alles Spuren seiner Existenz gelöscht waren in meinem Leben, hat er mir nicht einmal gefehlt. Aber dann, wenn ich ihn fast vergessen glaube, wenn ich schon zwei-, dreimal beiläufig und oberflächlich an ihn gedacht habe, wenn ich mich über ihn unterhalten habe, und seine Aufsätze in der todlangweiligen Fachzeitschrift überblättert habe, die auch ich auf den Schreibtisch bekomme –

Dann ist es Nacht, und ich stehe auf der Treppe im neuen Milchhof. Es sind die ersten Stunden des neuen Jahres und ich erörtere, ob wir noch woanders hin fahren. Jemand schiebt sich an mir vorbei, ich drehe mich um, und der Fremde sieht ihm nicht einmal ähnlich. Aber etwas greift mir ans Herz, und für eine Sekunde rieche ich sein Haar.

Dann ist es vorbei. Aber die Bilder an den Wänden sehen wie Tote aus, wie ein Angriff von rasenden, bewusstlos-blutrünstigen Wiedergängern, und so ziehe ich die Freunde nach draußen und trinke auf der Schwedter Straße ein warmes, bitteres Bier, das mir jemand in die Hand gedrückt hat.

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