Touristen

Unter den Linden zum Beispiel gehen sie ganz langsam: Die Herren haben manchmal Mützen auf, und stets Photoapparate vor dem Bauch. Die Damen tragen ihre Handtaschen quer über die Schultern, damit sie ihnen kein schlechter Bewohner der großen Stadt wegreißt, um sich den Inhalt des Wildlederportemonnaies anzueignen, die Photos der Kinder und Kindeskinder wegzuwerfen, die Hustenbonbons zu essen und sich mit den Erfrischungstüchern die von der Missetat klebrigen Hände abzuwischen. Flach sind die Schuhe und bequem:

Touristen.

Daheim, in demjenigen Straßengeviert, in dem man nun schon zu lange zu Hause ist, um die Fassaden anzustarren und herumzuphotographieren, lächelt man nachsichtig über die Damen und Herren, die schneckengleich über die Gehsteige wandern und bisweilen abrupt stehenbleiben, um irgend etwas aus manchmal sonderbaren Perspektiven zu photographieren. Manchmal fragt man sich, wie es wohl aussehen mag in den Alben dieser Menschen, und ob die Nachkommenschaft der Reisenden unter den Bildershows ihrer Altvorderen wohl sehr leidet. Dann schiebt man die Reisenden sachte beiseite, weicht rechts und links aus, und erzählt seiner Mitbewohnerin daheim, die ganze Stadt sei heute wieder voller Busreisender. „Oh nein.“, sagt Mitbewohnerin S., und gibt ihrer Verachtung für diese straßenverstopfende Spezies in ihrem schönstem Bayerisch Ausdruck.

Schwierig wird es vor diesem Hintergrund, wird man selber zum Reisenden: Vorbei sind zumindest in Europa die Zeiten, in denen man mit Rucksack auf dem Rücken und Turnschuhen wochenlang mit drei T-Shirts um das Mittelmeer fahren konnte. Dem 30. Geburtstag längst näher als dem Abitur und den Sneakers entwachsen, steht die Reisende vor einem eigentlich unauflösbaren Dilemma: In denjenigen Schuhen, die man in innerstädtischen Gebieten zu tragen pflegt, verbieten sich ausführliche Märsche durch das Weichbild attraktiver europäischer Städte leider von selbst. Mit klobigem, soliden Schuhwerk jedoch wird man ganze Tage den einheimischen Damen auf die Füße starren, die mit zarten Riemchensandalen über das heimische Pflaster schreiten. Vor prächtigen Fassaden verweilend sieht man in den Augen der Einheimischen ein leises Lächeln, besagend, die ganze Stadt sei heute wieder einmal voller…

Touristen.

28 Gedanken zu „Touristen

  1. Sie sprechen mir aus der Seele. Deshalb hasse ich Urlaube auch so sehr und ziehe gleich immer für ein paar Jahre in die Stadt die ich zu besichtigen gedenke. Weil ich Turnschuhe eben nicht ausstehen kann.

  2. also ich habe schon ewig niemanden mehr mit fotoapparat vor der brust gesehen. die haben doch jetzt alle diese mickerigen silbernen digitalkameras, die sie in den taschen ihrer kleidung unterbringen können.

  3. Den 50 näher als der Studentenzeit, bedeutet Urlaub für mich noch immer verschwitzte
    Touren mit Bergstiefeln oder auch Nikes an den Füßen, Campingplätze, portugiesische
    Familienpensionen und arabische Absteigen. Also nicht ausschließlich, aber durchaus
    auch immer noch. Gibt es auch anderes Transportgerät als Rucksäcke?

  4. Essential difference

    Take the tourist and the traveller
    The essential difference is:
    The traveller don’t know where he’s going
    And the tourist don’t know where he is

    David Lee Roth: Land’s Edge

  5. REPLY:

    Wo Sie verkehren… seit die Digitalspiegelreflexkameras in die Sphären der Bezahlbarkeit für den Normalverbraucher gerückt sind, werden die photographischen Totschläger sogar wieder mehr. Und Bilder machen die Leut´… sagenhaft. – Ich schwanke aber bezüglich meines Urlaubs aber auch noch zwischen der riesigen geliebten Spiegelreflex, und einer kleinen Digicam: Erstere ist großartig, da fehlt mir aber die richtige Tasche zum dezenten Herumtragen. Es ist ein Kreuz.

  6. REPLY:

    Etwas anderes wird mir kaum übrigbleiben. Es soll ja warm werden nächste Woche, und in meiner Eitelkeit besitze ich natürlich überhaupt keine bequemen Sandalen. Und in Sneakers gehe ich nirgendwo hin, wo man mich sehen könnte.

  7. REPLY:

    Das würde mich in jeder Hinsicht überfordern, da beißt man doch die Zähne zusammen, versucht, die ins Fleisch schneidenden Riemchen zu ignorieren, und fährt notfalls Taxi. Orte der Erde, an denen es keine Taxen gibt, sollte man sowieso meiden.

  8. es bleibt dabei, keine stadt hat schlimmere touristen als die unsere. mit schlimm meine ich motorisch inakzeptabel und optisch zeifelhaft.

    deswegen gehen sie mit gutem beispiel voran, reisen sie ohne sneaker und ohne funtionsbekleidung!

  9. Man oder besser frau hat im Idealfall immer einen leidensbereiten Mitstreiter an der Seite, der sofort nach Erkennen des Fußzustandes den Vorschlag macht, eine kleine Pause in einem schönen Café zu genießen.

  10. REPLY:

    Für Familienpensionen, pittoreske Absteigen oder Grandhotels bin ich immer zu haben. Gegen Camping allerdings habe ich eine ernsthafte Aversion: Ausgeliefert der Witterung und den Insekten, feuchte Kleidung, die schrecklich entstellend knittert, unzureichende sanitäre Einrichtungen und Gemeinschaftsduschen – nicht mit mir. Mit Rucksack (und bequemen Schuhen) gerne durch die ländlichen Gebiete Südostasien, allerdings ziehe ich es auch dort vor, in Städten wie ich selbst herumzulaufen: Keine Trecking-Jacken, keine Astronauten-Sandalen und generell Reisegepäck, dass einem die sponaten Wahl zwischen dem Oriental und der Khaosan-Road erlaubt.

  11. REPLY:

    Ich würde nie auf die Idee kommen, z.B. ein Museum oder ein gutes
    Restaurant ohne passende Kleidung zu betreten. Aber Reisen heißt für
    mich auch mit dem Jeep, auf Kamel- oder Pferderücken durch die Wüste,
    mehrtägige Fußmärsche oder Kletter- und Gletschertouren. Was sollte ich da
    sonst tragen als Funktionskleidung? Da, wo ich herkomme, heißen die angesagten
    Statusmarken The North Face, Ajungilak und Fjäll Räven.

  12. REPLY:

    Das ist natürlich unabdingbare Voraussetzung, um überhaupt zum Mitreisenden erkoren zu werden. Menschen, die in jeder fremden Stadt einen Preis für Streckenverschleiß anstreben, sollte man überhaupt nicht kennen, und wenn man sie schon kennt, mit anderen Leuten wegfahren. Optimal sind in diesem Zusammenhang Freundinnen. Ob die jeweilige Freundin eine in diesem Zusammenhang geeignete Mitfahrerin darstellt, lässt sich mit einem kurzen Blick in ihren Schuhschrank mit hoher Sicherheit herausfinden.

  13. REPLY:

    Herr Che, ich kenne diese Kleidungsstücke, und sie sind zweifellos einem anderen ästhetischen Ideal entsprungen als diejenigen, an die ich mein Herz hänge. Ich reise allerdings auch nicht auf Kamelen.

    Frau Schnatterliese, glauben Sie mir – zweimal in meinem Leben war ich in Erfurt, und kann Ihnen versichern, dass der Erfurter Touristenauftrieb die Grauenhaftigkeit des Berliner Reisepacks noch bei weitem übertrifft. Erfurt ist sowieso das Letzte. Ich habe damals sogar (da hatte ich noch gar kein Blog) über Erfurt, Erfurter und die Erfurter Touristen gechrieben, allerdings wurde mir untersagt, den Text in irgendeiner Weise zu verbreiten, um Beleidigungsklagen und Mordaufrufe der in ihrer mickerigen Ehre gekränkten Thüringer zu vermeiden. In Erfurt ist es schlimm.

  14. REPLY:

    Meine Liebste hat es einmal einen Tag im XX. Arrondiment mit nagelneuen roten Schuhen ausgehalten. Den nächsten Tag hat sie dann horizontal verbracht, aber ausgehalten hat sie es. Und es sah gut aus, solange der Schuh an den blutigen Fetzen war, die früher mal ihr Fuss gewesen sind.

  15. REPLY:

    Italian shoes. Kann ich empfehlen, ich bin in italienischen Pumps mal einen ganzen Tag lang bei über 30 Grad durch Berlin gelaufen, ging gut. Ansonsten sollten Sie vielleicht im Urlaub etwas weniger unbequeme Sandalen kaufen. Oder hegen Sie eine ähnliche Aversion gegen das Schuhekaufen wie ich?

    Note to myself: Keine Sneakers anziehen zum Tee mit Modeste.

  16. Hehe, warten Sie mal ab, wenn ich die 6×6-Kamera dabeihabe. Derzeit überlege ich, eine Landschaftstour mit Großformatkamera zu machen. Immerhin besitze ich keine Foto- oder umfunktionierte Anglerweste.

    Das Besucherverhalten in Museen (oder anderen Kirchen) irritiert mich auch. Da tun sich schnell Abgründe des ästhetischen Widerspruchs zwischen Betrachtern und dem Betrachteten auf.

  17. Kid, Du sagst es, wie es ist. Keineswegs wollte ich der bekleidungstechnischen Unkultur das Wort reden. Niemand wird mich in einem Museum in unkorrekter Kleidung antreffen. Aber ein Großteil meines Urlaubs spielt sich kletternder Weise in Felswänden oder rucksackreisender Weise in südlichen Ländern ab, und da ist passende Kleidung die oben geschilderte. Mein heimisches Publikum rannte in Studienjahren und den ersten Jahren danach auch in der Stadt in Outdoorklamotten herum, schließlich muss man auch im Großstadtdschungel ums Überleben kämpfen. Die gleichen Leutenm holten dann abends das kleine Schwarze oder Rote, den Versace-Anzug oder Ähnliches heraus, was man durchaus hatte, aber nur zu sehr speziellen Anlässen zeigte. Es wäre snobistisch erschienen, es gewohnheitsmäßig zu tun. Gehe ich auf einen Empfang im Kunstmuseum Wolfsburg, trage ich einen Cardin-Anzug und Pumps. Esse ich im Restaurao de los Trabadores in Funchal oder im Sala Dom Mintoff in Valetta, trage ich Khaki und ausgelatschte Schuhe,und bestimmte deutsche Szenekneipen würde ich nur mit Turnschuhen oder DocMartens betreten. Ich ziehe es vor, in jeder Umgebung angemessen gekleidet zu sein, und das ist durchaus nicht immer das Gleiche.

  18. ich wette, dass die leute des urlaubslandes ihrer wahl in wirklichkeit sagen:
    wenn unsere stadt mehr solche touristen anzöge wie diese junge frau da (sie, modeste), dann hätten wir gar nichts gegen massentourismus. ich wette sie hätten auch nichts dagegen sich selbst unter den Linden zu treffeb.

  19. REPLY:

    Nun, ich wäre, träfe ich mich unter den Linden, zumindest reichlich irritiert. Ob ich ein lässiges „Servus, Modeste!“, herausbrächte, halte ich für eher zweifelhaft: Vermutlich würde ich mein Heil in der Flucht suchen, und auf dem Heimweg die ganze Zeit überlegen, ob der Tee noch gut war, oder ich irgendwann im Laufe der letzten Stunden den Verstand verloren haben könnte. Man muss sich das vermutlich so „Being John Malkovich“-like vorstellen – und der Hauptdarsteller machte in diesem Streifen ja keinen durchweg glücklichen Eindruck. – Goethe will sich ja auch einmal auf einer Brücke begegnet sein, aber was einem Dichterfürsten geziemt, non licet einer simplen Doktorandin.

  20. Oooooch, so simpel ist diese Doktorandin gar nicht! Genscher soll sich auf einem
    Flug auch schon mal selber begegnet sein. Ich will Dir ja gerne den Schreck ersparen,
    Dir unter den LInden zu begegnen, zumal Dein Teeladen sicher auch nicht gerne ein
    Verfahren wegen Beimischens von LSD hätte, aber die Vorstellung, die Touristenströme
    an den Sehenswürdigkeiten würden aus Menschen bestehen, die alle ein wenig so wie
    Modeste wären – also alles schöne Frauen um die 30 mit sehr viel Bildung,
    Ausdrucksvermögen und Stil – wäre eine echte Bereicherung für den Planeten. Mensch,
    die Ballermann-Horden durch solche Leute ersetzt – genial!
    Burnston, für diesen Vorschlag ein Glas Dom Perignon *rüberreich*!

  21. Bekennende Städtereisende…

    Frau Modeste, ich kann verstehen, dass es jemanden, der in einer europäischen Metropole wohnt, irritiert bis verärgert, wenn man sich wie im Zoo (oder besser Freigehege) vorkommen muss angesichts der Horden der Touristen, die eben als solche auch erkennbar sind. Ich gestehe, auch ich bin letztes Jahr im Oktober mit Sneakers bzw. Nikes und Rucksack sowie Spiegelreflex-Digi durch Berlin gezogen.

    Insbesondere in Rom, Paris und Madrid spürt man deutlich die Diskrepanz zwischen den modischen Damen und den „praktischen“ Touris.
    Ich habe es, als am liebsten zu Fuß erkundende Städtereisende, längst aufgegeben, traurig auf die elegantbeschuhten Füße der Einheimischen zu schauen – mir ist da die Gesundheit und das Wohlbefinden meiner Füße doch wichtiger. Ich habe vor Jahren in Stockholm den Fehler gemacht, die hübschen Schühchen anzuziehen für einen 20 km-Marsch durch die Stadt – die Tage danach waren mehr als schmerzhaft.

    Es heißt nicht umsonst: Wer schön sein will, muss leiden. Ich leide nicht gerne…

    Mit besten Grüßen

    Eine sich outende Wiederholungs-Touristin 🙂

  22. Obwohl, wenn ich mir folgendes Bild vorstelle: Eine todschick gekleidete Modeste
    schlendert unter den Linden und fotografiert mit einer massiven Nikon
    Sehenswürdigkeiten, als zufällig Modeste vorbeikommt und ganz cool mit „Servus,
    Modeste!“ grüßt, worauf Modeste mit „Ah, hallo, Modeste! Auch wieder hier!“ antwortet,
    also eine solche Szene würde ich zumindest im Film gerne sehen. Es gäbe aber wohl nur
    einen, der diesen drehen könnte: Luis Bunuel.

  23. REPLY:

    danke, che. wenn sich genscher auf einem flug wirklich selber begegnet ist, dürfte es eng gewesen sein. sie wissen ja wie das ist, wenn ein dicker schnaufer neben einem auf dem sitz röchelt. wenns dann zwei vom selben kaliber sind, kanns unangenehm werden.

    modeste, wenn sie noch eine wiedergängerin frei haben, schicken sie sie mal vorbei, mir ist sonntag abend immer so langweilig und sie könnten auch zuhause bleiben.

  24. REPLY:
    in Berlin…

    …gehört man doch zu den besser angezogenen Leuten wenn man Turnschuhe und Funktionskleidung trägt.
    Wer er nicht glaubt darf gern mal einmal die Müllerstrasse vom Leopoldplatz bis Kutschi hochlaufen.
    Dann sieht man selbst verkatert und in Hausschuhen noch besser aus als 80% der Menschen um einen herum

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