Ahnenforschung soll sich ja gerade bei ansonsten beschäftigungslosen Rentnern gesteigerter Beliebtheit erfreuen, und so wandte sich auch mein Onkel U. nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben vor zwei Jahren der Erforschung der Familiengeschichte zu.
Allzuviel Unterhaltung kann besagter Onkel aus der Vergangenheit unserer insgesamt doch eher unspektakulären Familie, die weder herausragende Geistesgrößen noch bedeutende Krieger hervorgebracht hat, indes nicht gezogen haben, und die Tatsache, dass jener Vorfahr dort, und ein anderer woanders gelebt haben mag, dieser die Tochter eines Geistlichen heiratete, und jener eine Kaufmannswitwe heimführte, muss schon auf ein sehr gelangweiltes Gemüt stoßen, um als interessant gelten zu können. Insbesondere die Tatsache, dass das immerhin bewegte 20. Jahrhundert durch schriftlich wie mündlich außergewöhnlich mitteilsame Familienmitglieder nahezu lückenlos dokumentiert sein dürfte, führte jenen Onkel schnell in fernere Gefilde der Vergangenheit, in der kaum ein mitteleuropäischer bürgerlicher Haushalt etwas Spannenderes unternommen haben dürfte, als zu arbeiten, zu essen und ab und zu zu heiraten.
Besondere Sesshaftigkeit scheint der väterlichen Familie allerdings nicht zu eigen gewesen zu sein, und so fuhr der Onkel U. auf den Spuren der Vorfahren weiter und weiter, um schließlich ein Flugzeug nach Odessa zu besteigen, von wo um 1850 herum ein Vorfahr aufgebrochen war, um sein Glück in Österreich als ein Seidenhändler zu suchen.
Was der Onkel U. in Odessa so ganz konkret suchte, war aus ihm nicht abschließend herauszubringen. Odessa scheint sich, darf man meinem Onkel Glauben schenken, seit 1850 auch ganz erheblich verändert zu haben, und außer einigen Spaziergängen, ein bißchen ergebnislosem Herumlesen in den der Öffentlichkeit zugänglichen Archiven der Stadt und ebenso fruchtlosem Wandern auf verwahrlosten Friedhöfen, scheint der Onkel U. seinem Ziel nicht näher gekommen zu sein: Erkenntnisse über das Leben und die konkreten Verhältnisse der Vorfahren scheint der Onkel U. nicht heimgebracht zu haben.
Gefallen aber habe er an der Stadt durchaus gefunden, so äußerte sich der Onkel gegenüber meinem Vater. Das Hotel sei ein wenig staubig gewesen, insgesamt aber charmant, und auch die alten Frauen, die auf jedem Flur des Hotels gesessen seien, hätten ihn nicht über Gebühr irritiert. Da er keinen Besuch mit heimzubringen pflegte, habe ihn auch die Angewohnheit der weiblichen Wächterinnen nicht gestört, das Kommen und Gehen in dem wenig besuchten Hotel jeweils schriftlich festzuhalten. Was das in allen seinen Einzelteilen in Plastik verpackte Frühstück anging – nun, ein in vielen Flugreisen gestählter Mensch kennt dieses meist wenig wohlschmeckende Phänomen.
„Wesentlich weiter,“, so mein Vater über die Exkursionen seines Bruders, „wird er auf seiner Suche ja ohnehin kaum kommen.“, denn im Dunkel der Vergangenheit seien frühere Wanderungsbewegungen der Familie mangels entsprechender Überlieferungen wie Dokumente kaum mehr auszumachen. Wolle der Onkel U. auch seinen weiteren Ruhestand mit Exkursionen auf der Suche nach verblichenen Familienmitgliedern füllen, so müsse er sich daher wohl in das weite Land reiner Spekulation begeben, auf der Grundlage einer blühenden Phantasie die Kontinente durchwandern, und könne ebenso gut nach Ägypten fahren wie etwa nach Schweden oder gleich zum Mond.
Danke
für das warnende Beispiel. Die Historie des väterlichen Teils meiner Vorfahren schlummert auch in der Ukraine. In einer Familienbesprechung habe ich es als relativ aussichtsloses Unterfangen deklariert, in einem Landstrich nach Spuren der Ahnen zu suchen, den die Russen nach dem 2. Weltkrieg großflächig zu militärischem Sperrgebiet umgewidmet haben. Vielleicht reitet mich ja dereinst Alterstorheit, aber im Moment kann ich es damit bewenden lassen, dass Dostojewskis Schwager den gleichen Nachnamen hatte wie meine Sippe. Genauer muss ich das derzeit nicht wissen, ob es da eine verwandtschaftliche Verbindung gibt oder nicht. Wahrscheinlich aber eher nicht, denn sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits finden sich auf der Ahnentafel nur Bauern soweit das Auge reicht…
Glück
Da habe ich wohl Glück. Meine Familie reicht bis rund 500 Jahre zurück, was einige Zeit vor dem Dreißigjährigen Krieg war, aber was soll ich euch sagen: Interessant war auch keiner in den rund 30 Generationen von mir. Naja, mit der Familientradition werde ich dann wohl brechen.
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Sie müssten wohl auch Kirchenslawisch beherrschen, um da etwas herauszufinden, Herr Mark.
Die Stammbäume meiner Herkunftsfamilien sind zum Teil recht unterhaltsam, von Sängern, Schauspielern und Kölnisch-Wasser-Fabrikanten auf der einen Seite bis zu fahrenden Musikanten und Kesselflickern in den Seitenlinien auf der anderen Seite ist da alles dabei. Nicht-standesgemäße Verbindungen wie auch das ein oder andere unehelich Kind inklusive. Spaßig sind auch so manche „Modenamen“ früherer Zeiten: Neben all den Annas und Elisabeths gab’s eben auch Rosine/Rosina, Hulda und Aloysa.
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Was Leute daran interessiert, welche Äcker ihre Vorfahren umgegraben haben, ist mir ja meistens ziemlich rätselhaft. Die guten Geschichten, die Skandälchen und Skandale, die sind über die Distanz einiger Jahrhunderte ja meist ohnehin kaum mehr nachzuvollziehen. Da ist das 20. Jahrhundert mit seinen Freiheiten und Umbrüchen dankbarer, auch das 19. Jahrhundert, aber diese Generationen sind zumeist durch alte Tanten oder noch ältere Briefe ja gut dokumentiert.
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Vielleicht waren Ihre Vorfahren, Herr Bandini, ja lauter spannende Leute, die über ihr ausschweifendes und skandalöses Leben stets den Mund gehalten haben, damit die Nachbarn nicht schlecht über sie reden?
Interessant bei der Vorfahrenermittlung
ist eigentlich nur die raeumliche Ausbreitung. Waehrend heutzutage die Verbandelungen ueber mehrere hundert, vielleicht sogar tausend, Kilometer entstehen, kamen doch die Altvorderen aus einem klar umrissenen Landschaftskreis. Selten gab es frisches Blut, insofern [sarkasmus] ist die Pisastudie in der fuenften Generation durchaus nachvollziehbar [/sarkasmus].
Aber interessant ist es schon, aus welcher gegend die Familie stammt, und wann begonnen wurde, aus dieser Gegend sich weiter auszubreiten. Bei manchen Familien zumindest.
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Es geht so. Meine Familie zieht ja ganz gerne einmal um, aber interessant finde ich diese Wanderungsbewegungen eigentlich eher mäßig. Interessant sind zumeist doch eher die guten Geschichten, der spielsüchtige Urgroßvater, die Großtante, die zweimal den selben Mann geheiratet hat, der entfernte Vetter meines Großvaters, dem mindestens vier Suizidversuche misslungen sind, bis in mit über achtzig der Magenkrebs heimholte. Leider schreibt die besten Geschichten ja schon aus familiären Rücksichten keiner auf.
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Leider nein
Ich habe natürlich auch eine Familienchronik, die ein nationalsozialistisch gesinnter Ahn (keine direkte Linie) in einer Zeit verfasste, als dieses Hobby schon mal sehr angesagt war. Insofern weiß ich vieles über sie. Ich muss mal bei Gelegenheit über einen der frühen schreiben, der war ein echter Schwerenöter.
Hm, vielleicht nicht vergessen, dass die allgemeine Verbreitung des Lesens und Schreibens relativ neu ist. Die Mehrheit der Menschen in Europa schaut auf Familien zurück, über die nichts Schriftliches erhalten ist. Da verliert sich die Spur bereits nach persönlichen Erinnerungen.
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Das ist sicherlich richtig, aber leider haben auch diejenigen Familien, die unentwegt Papier vollgeschrieben haben, die besseren Stories aus familiärem Scham- und Ehrgefühl leider selten tradiert. Wir sitzen auf Klaftern Papier, stinklangweilige Briefe irgendwelcher alter Tanten, in denen ziemlich viel von Krankheiten die Rede ist, Geschäftskorrespondenz, Tagebücher, vor denen man auf der Stelle in Mitleid ausbricht, dreißigseitige Dissertationen usw. Das ist alles nicht sonderlich unterhaltsam, die besten Geschichten erfährt man aber auf Familientreffen, wenn es irgendwann schon sehr spät und die Szimmung etwas gelockert ist.
So etwas zum Beispiel hätte leider kein Familienmitglied in dieser Form aufgeschrieben.
Hoch spannend
finde ich die ganzen Zusammenhänge bei meiner – glücklicherweise seit ein paar Jahrhunderten gut dokumentierten – Vorfahrengalerie mütterlicherseits.
Nicht nur, dass sich diese Familie über den halben Globus verteilt hat (was auch schon die eine oder andere nette Reise ermöglichte), sondern auch die Verflechtung mit der Geschichte, derer man auf diese Weise ganz anders gewahr wird.
Wenn ein Familienmitglied ein zwar nicht großes, aber regional schon bedeutsames Rädchen in der NSDAP war – und ein anderer im KZ ermordet wurde: Das macht für mich die Verstrickungen der jüngeren deutschen Vergangenheit zu etwas, was mich auch betrifft, obwohl ich Generationen später geboren wurde.
Ah, Modeste, ich bin natürlich davon ausgegangen, dass in diesem Schrifttum lebendige Sachen stehen. Eine schöne Idee finde ich den Brauch in der Familie eines Freundes (die unter anderem vom Wörterbuch-Grimm abstammt): Immer der älteste Sohn schreibt das Leben seines Großvaters auf. Ich habe mir insgeheim vorgenommen, sowas Ähnliches in matrilinear anzufangen.