So, wie bei einer Flut ein Haus erst rissig wird, Feuchtigkeit seinen Keller überschwemmt, und schließlich die Wände nachgeben, steht das 19. Jahrhundert nur scheinbar sicher auf den festgefügten Mauern, nach denen sich ein blutiges halbes Jahrhundert später ein Stefan Zweig sehnen wird. In den Großstädten sammeln sich die, die von sich mit nicht unberechtigtem Selbstbewusstsein behaupten werden, das Bewusstsein einer Zeit zu sein, die langsam beginnt, aus ihrem Innersten die fleischigen Gesichter zu zersetzen, die von den Portraits dieser letzten Jahrhundertwende aus ihren überladenen Rahmen auf uns herunterschauen.
Die Städte Europas sind in diesen Jahren auf ihrem Scheitelpunkt angelangt: Der ganze Glanz der Urbanität, eine üppige Sinnlichkeit, gewürzt mit dem Hautgout einer entfesslten, derben Genussucht, die einer allzu schnell zu Wohlstand gekommenen Gesellschaft entspringt. Es ist das Europa der rotgesichtigen, reichen Kaufleute, der Bel Ami des Zeitungswesens, der Väter, die in den Autobiographien ihrer verfeinerten, schlanken Söhne ein fratzenhaftes, verzerrtes Nachleben von grauenerregender Vitalität noch lange nach ihrem Tode führen.
Unter den fragilen Kaufmannssöhnen, die in den literarischen Journalen Londons veröffentlichen, findet sich auch der Name des 1867 geborenen Ernest Christopher Dowson, der nach gescheitertem Studium mit 21 Jahren dem väterlichen Unternehmen beitritt, um fortan ein zweites, nächtliches Leben in London zu führen. In den Katakomben der Hauptstadt des Empire verschmelzen in jenen Jahren eine robuste Lebensfreude mit einer vibrierenden Lust am Exzess, der Sehnsucht nach einem überschießenden Untergang in Pracht und blendenden Kaskaden, die sich nur in ihren Erscheinungsformen, nicht aber in ihrem Kern gleichen.
Vom Grunde dieses schwarzen, irisierenden Stroms, aus dem Schlamm des glänzenden, aufstrebenden London, fördern die Autoren jener Journale, in denen auch Dowson publiziert, eine üppige, rauschhafte Schönheit, und versuchen, das Ungezügelte, Bacchantische in Formen zu gießen, in deren kühler Strenge alles Erlebte, Erträumte, Erfahrene erstarrt wie heißes Metall zu üppigen Ranken. The Yellow Book, The Savoy drucken seine Gedichte, Aubrey Beardsley illustriert, ein Roman misslingt, und kränklich, zart inmitten dieser blutvollen, dämonischen Welt, meißelt Dowson eine Handvoll, ach: weniger als eine Handvoll Gedichte von makelloser, erhabener Schönheit.
Die dämmerige, reine Erhabenheit des Klosterlebens jenseits der Verworrenheit der Welt: And it is one with them when evening falls, and one with them the cold return of day. Das Verblassen der Erinnerung, der schmerzhafte Fall der Rosen, …Rain of their starry blossoms – To make you a coronet? Do you ever remember, Yvonne, As I remember yet?. Die Gegenwart der vergangenen Liebe zu einer Toten.
Das Vergehen der Liebe überhaupt, nach deren Reinheit der ausschweifende Katholik zu suchen vermeint. Die geliebte, zwölfjährige Gastwirtstochter, die einen Kellner heiraten wird, eine kleine Madonna, und der Herzschlag und die Lippen derjenigen auf der anderen Seite, die im Werk jenes Viktorianers keinen Namen tragen. Surely the kisses of her bought red mouth were sweet; But I was desolate and sick of an old passion, When I awoke and found the dawn was gray…
Grau mag der Morgen tatsächlich gewesen sein, das schwere Erwachen an der Seite von gleichgültigen Fremden. Die Nacht, in der Robert Sherard den Betrunkenen ohne einen Penny in einer Bar auflas, und mit sich nahm in sein Cottage weit ab der großen Stadt, wo Dowson sechs Wochen später starb, 32 Jahre alt, in jenem Jahr, in dem Oscar Wilde die Augen schloss, ein paar Monate vor dem Tod der Königin Victoria, und knappe anderthalb Jahrzehnte, bevor die Spannungen, die Europa ein halbes Jahrhundert lang ausgebrütet hatte, sich blutig entluden, und das Haus einstürzte, dessen feine Risse sich in den wenigen Seiten Lyrik als ein gewundenes, seltsames Muster von großer Schönheit darbieten.
O, verehrte Autorin
was aber wird man einst von unseren Tagen sagen in hundert oder hundertfünzig Jahren. Diesem Dichter drohte ja das Vergessen, smile, hier haben Sie ihn davor bewahrt.
Ich bin zu alt, doch hatte ich einst mit siebzehn Jahren eine dreizehnjährige Geliebte.
Wer mag wohl die Gedichte finden voll Sehnsucht und von Schmerz…
Wir leben in einem Zeitalter der Beliebigkeit, dem Vergessen schon im Entstehen geweiht, im Sekundentakt frisst das Ungeheuer Internet unsere Worte unersättlich, unverdaut.
Möge die Woche für Sie gut beginnen
Gruß
Mukono (männlich)
http://www.herbscafe.istim.net
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A walking shadow, a poor player
Was bleiben wird, was vielleicht wiedergefunden wird – wer kann das wissen, und vielleicht ist das, was heute als Bleibendes angesehen wird, in hundert oder fünfhundert Jahren toter als tot.
Dass das Internet unsere Worte frisst, dass alles, was wir hier schreiben, verschlungen werden wird, finde ich indes angenehm und letztlich tröstlich, dieses weiche Schwimmen auf den Oberflächen des Stromes, das fließende, unscharfe Leben. Eines Tages wird auch dieses Blog dicht sein, und ich wünschte, ich könnte dann auch den Cache auskratzen, und alles ist, wie nie gewesen: Das Nichtsein ist eine unendlich charmante Vorstellung, weil es dem Sein das Unausweichliche zu nehmen scheint.
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Und doch gibt es den Gligamesch-Epos, das Mahabharata und Ramayana, die Ilias und
Odyssee, Fragmente einer in ihrer Gesamtheit sonst untergegangenen Dichtung.
Was von unseren Worten übrigbleiben wird und was nicht ist wie ein Würfelspiel.
Omar i Khayam sagte: Einst waren wir noch nicht, und es hat nichts ausgemacht.
Wenn unsere Spuren längst im Sand der Zeit verwehen wird es dennoch weitergehen.
es kann die Spur von unseren Erdentagen nicht in Äonen untergehen, smile.
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Eine Vorstellung, die mir weitaus mehr Angst als Freude macht.