Der Germanist

Leni Riefenstahl hätte ihn sofort photographiert: Er war riesengroß, die blonden Haare fielen ihm weit ins Gesicht, er hatte Arme wie ein Bauarbeiter und unterrichtete ein bißchen Deutsch, weil zu viele Lehrerinnen schwanger waren. Auf der Stelle verliebte sich die Hälfte meiner Obertertia in den vielleicht dreißigjährigen Germanisten, und als die N. und ich ihn Monate später, längst war sein Gastspiel im Schuldienst beendet, nachts in der U-Bahn trafen, fiel die N. ihm emphatisch um den Hals, küsste ihn auf beide Wangen, und zog ihn an der übernächsten Station die Rolltreppe hoch und in die nächste Bar.

„Müsst ihr nicht nach Hause?“, fragte er, ein wenig überfordert von der strahlenden Forschheit der N., um die ich sie heiß und schweigend beneidete. Wir schüttelten stolz den Kopf, tranken Bellini, weil da der Alkohol nicht so auffällt, und die N. lehnte sich weit auf den Tisch, und plauderte so leichthin, wie ich es immer gern gekonnt hätte. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, sprach kaum, und irgendwann hatte die N. genug und sprang auf. Sie werde jetzt noch irgendwen besuchen, erzählte sie, warf ein paar Münzen auf den Tisch, und verschwand.

„Sagen sie doch auch mal was.“, wandte er sich an mich. Ich stotterte ein wenig herum, beobachtete besorgt seine Miene, und wünschte mir, auf der Stelle unsichtbar zu werden oder wenigstens so wortgewandt und hemmungslos wie die N. „Ich will sie nicht langweilen.“, entschuldigte ich mich irgendwann, trank aus, und kündigte an, jetzt nach Hause zu fahren. „Nein, gar nicht. Gar nicht langweilig, wirklich nicht.“, stammelte er zurück, und brachte mich zur Bahn. In stummer Peinlichkeit schritten wir dem U-Bahnaufgang zu, und die ganze Last meiner kommunikativen Unfähigkeit lag schwer auf meinen Schultern. Erwachsensein, wusste ich, würde anstrengend werden. „Sie sind gut in Deutsch.“, unterbrach er das Schweigen nach Minuten, fragte nach aktueller Lektüre, und ich brachte meinen ersten ganzen Satz des Abends über die Lippen – es ging, glaube ich, ausgerechnet um C. F. Meyer.

Ich las unglaublich viel in jenen Jahren der Mittelstufe, mehr als irgendwann später in meinem Leben, und das Bewusstsein des durchaus eskapistischen Charakters dieser Exzessivlektüre bewirkte, dass mir sowohl Umfang als auch Auswahl ein klein wenig peinlich waren. Die Person, die ich gern gewesen wäre, ähnlich der N. etwa oder meiner kleinen Schwester, hatte es schlichtweg nicht nötig, dermaßen viel zu lesen, und in einem im Nachhinein wohl ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuch der Anpassung an ein ersehntes Ideal hielt ich meistens einfach den Mund.

Der Germanist allerdings taute auf im Rahmen der Konversation, wurde lebhaft, begeistert, erwähnte andere Bücher, mehr Bücher, versprach, Bücher zu verleihen, und betrat, auf der Suche nach Stift und Zettel, um Titel aufzuschreiben, eine nächste Bar, in der wir sitzenblieben, bis der Bartender die verspiegelte Theke wischte. Es war so ungefähr drei, die Nacht hing nass und dunkel in den Bäumen, und die letzte Bahn war weg.

„Ich rufe meinen Vater an, der holt mich.“, lag es mir auf der Zunge. Tatsächlich hatte mein Vater mir den Schwur abgenommen, ihn jederzeit und ohne Zurückhaltung aus dem Bett zu holen, wenn ich nicht wüsste, wie sonst nach Hause zu gelangen wäre, oder wenigstens ein Taxi zu nehmen, das er bezahlen würde, egal wieviel, von wo und wann. Die Angst vor einer verunglückten, verschleppten oder sonstwie toten Tochter überwog offenbar jegliche Sparsamkeit wie auch das Interesse an ungestörter Nachtruhe. – „Du kannst auch auf meiner Couch schlafen.“, bot der Germanist an, und ich hielt den Mund und nickte.

Bis in die Morgenstunden saß der Germanist auf dem Rand seiner Schlafcouch, las vor, zog Bücher aus dem Regal, sprach über andere Bücher, und kochte irrsinnige Mengen aromatisierten Tee, über den die N. am Montag drauf spotten würde. „Was für ein Langweiler!“, würde sie lachen. „Hast du ihn wenigstens geküsst?“, würde sie fragen, und ich würde den Kopf schütteln, obwohl das gelogen war, und ich selber nicht wusste, warum.

23 Gedanken zu „Der Germanist

  1. warum? Da kann ich mir schon etwas denken, doch weiss ich nicht, ob Sie mir recht geben. Ich könnte mir vorstellen, dass es einfach nicht nötig gewesen wäre, ihn zu küssen, jedenfalls nicht (schon) in dieser Nacht, und dass es daher auch überhaupt nicht angebracht war, der N. davon zu erzählen. Hatte diese nicht nur deswegen zielgerichtet nach Körperkontakten gefragt, weil das ihrer Codierung einer erfolgreichen Nacht noch am ehesten entspricht und sie für „Erfolge“ auf geistiger Ebene zu wenig Sensorium hat? Entschuldigen Sie, lauter Spekulationen, zu denen mich der wunderbare Text anregte.

  2. Sollte es sich bei dem Riefenstahl Modell um einen prototypischen Germanisten gehandelt haben, wäre ich quasi der Antichrist, äh Antigermanist unter den studierten Germanisten. Was ich täte, wenn sich ein junges Mädchen in meine Schlafgemächer verirrt, wäre sicherlich nicht, über Bücher zu sprechen. Und zu trinken gäbe es bestenfalls König Ludwig Dunkel.

  3. REPLY:

    Ist ja nicht ganz fernliegend. Ich weiß es schlichtweg nicht mehr. Vielleicht wollte ich einfach mit der N. nicht über den Germanisten sprechen, übrigens der einzige Mann, den ich jemals getroffen habe, der mich der N. vorgezogen hat. Die N. ist auch der eigentliche Anlass zu diesem Text – sie heiratet nämlich nächsten Mai in München, und hat mich angerufen. Wenn ich mit ihr spreche, bekomme ich, ganz als wäre ich immer noch 15, auf der Stelle einen Minderwertigkeitskomplex, der Stunden anhält, wirklich wahr und ganz schlimm.

  4. die Nacht hing nass und dunkel in den Bäumen

    klingt gut, obwohl es ja nicht ganz korrekt ist, Nächte sind immer dunkel. Das haben sie so an
    sich, smile. Aber der Wohlklang geht der Genauigkeit vor. Und – ich bin kein Germanist.
    So manches mal jedoch vergaß ich über Bücher das Küssen.

    Mukono

  5. Eine sehr schöne Geschichte. Satzteile wie „die Nacht hing nass und dunkel in den Bäumen“ sammele ich und entscheide später, ob sie mir gefallen oder nicht. In jeder Geschichte von M.M. ist mindestens ein solches Faszinosum versteckt. Danach hat man immer was zum Grübeln: autsch! – out? oder gut?

  6. REPLY:

    Ist das so? Die Nachtstunden bestimmen sich doch nicht an der Helligkeit sondern an der Uhrzeit und an der Konvention, da eher zu schlafen. Ist fünf Uhr morgens Nacht? Ich würde sagen ja, vor sechs Uhr ist Nacht. Aber dunkel ist es da nicht unbedingt.

  7. Die Füße im Feuer und mit demselben gespielt. Ich wollte den Damen früher auch immer nur vorlesen. Bis ich ausstudiert hatte. Seither gibt es bei mir auch keinen aromatisierten Tee mehr. Und fast nur noch Bildbände zum Gucken. Und so ein langweiliges Leben kann ja auch sehr erfüllt sein. Finde ich.

  8. REPLY:
    Eine ziemlicher Langweiler

    Hatte eigentlich nen handfesten Krimi erwartet, als „Der Schuss von der Kanzel“ auf dem Lehrplan auftauchte. Muss man nicht wirklich gelesen haben. Im meinem Germanistikstudium war der Name dann auch gnädigerweise nicht mehr erwähnt worden…

  9. Leider war ich noch nie in einen Deutschlehrer verliebt.
    Doch C.F. Meyer kenne ich durch eine ostpreußische Patentante, die dieses Gedicht auf Hochzeiten vorzulesen pflegt.

    Hochzeitslied

    Aus der Eltern Macht und Haus
    Tritt die zücht’ge Braut heraus
    An des Lebens Scheide –
    Geh und lieb und leide!

    Freigesprochen, unterjocht,
    Wie der junge Busen pocht
    Im Gewand von Seide –
    Geh und lieb und leide!

    Frommer Augen helle Lust
    Überstrahlt an voller Brust
    Blitzendes Geschmeide –
    Geh und lieb und leide!

    Merke dir’s, du blondes Haar:
    Schmerz und Lust Geschwisterpaar,
    Unzertrennlich beide –
    Geh und lieb und leide!

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