Auch sehr gerne höre ich ja den Gesprächen völlig Fremder an öffentlichen Orten zu, und insbesondere Restaurants oder Bars eignen sich ganz hervorragend, wirklich sonderbare Dinge über andere Menschen zu erfahren, die man nicht kennt. Im Ishin zum Beispiel, diesem wirklich ansprechenden Lokal nahe der Friedrichstraße, wo man mittags für wahnsinnig wenig Geld Unmengen Sushi essen kann, plazieren einen die Kellnerinnen schon aus Platzmangel ja immer ohne den üblichen Abstand von ein, zwei Stühlen neben fremde Leute.
„Guten Tag.“, und: „Da kommt noch jemand.“, sage ich also, und werfe meinen Mantel auf den Stuhl mir gegenüber. Cousin L. indes, von dem schlechte Menschen behaupten, er müsse mindestens ein Elfmonatskind gewesen sein, lässt wie üblich auf sich warten. Zu meiner Rechten sitzt sich ein Paar gegenüber, er ungefähr vierzig mit hängenden Wangen wie einer dieser englischen Hunde, die so fürchterlich sabbern, sie ein bißchen jünger und in einem jener fusseligen Kostüme mit großen Knöpfen, für die die Couturiers namhafter Modehäuser eines Tages für ziemlich viele Jahre in der Hölle braten werden. Neben ihrem Stuhl steht ein riesengroßes Kelly-Bag in einer Farbe, die nicht ganz Flieder und nicht ganz Pink genannt werden kann.
„Ich mag das nicht mehr essen.“, nörgelt meine Nachbarin an ihrem Menü herum, und schiebt ihrem Gegenüber die halbgefüllte Platte zu. „Lass dir doch nicht vom Thunfisch den Appetit verderben.“, gibt das Gegenüber zurück, und ich bedaure, die offenbar bereits vor meinem Eintreffen abgelaufene Diskussion über Thunfisch im Allgemeinen und insbesondere auf der Sushi-Platte der Kostümfrau verpasst zu haben. „Jetzt habe ich keinen Hunger mehr.“, quengelt die Frau weiter und wühlt ein bißchen in ihrer Tasche. „Es liegt gar nicht am Thunfisch, oder?“, fragt der Mann und schiebt sich ein Stück Futo-Maki in den Mund.
„Willst du Silvester wirklich mit ihr feiern?“, stößt die Kostümfrau auf einmal zu. Aha, denke ich. Kommen wir der Sache also einmal näher. – Der Mann stöhnt auf, lehnt sich zurück, und zuckt ein bißchen mit den Schultern. „Wir feiern doch schon Weihnachten zusammen.“, beschwichtigt der Mann und greift nach den Händen der Kostümfrau. Die zieht die Hände zurück, versteckt sie unter dem Tisch und mault ein bißchen weiter.
„Weihnachten oder Silvester, habe ich auch ihr gesagt.“, versucht sich der Mann aus der Bredouille zu reden, und die Frau verschränkt die Arme über der Brust. „Und was erzähle ich dann R. und K., wenn du nicht mitkommst?“, fragt die Kostümfrau und verzieht das Gesicht. „Dann erzählst du halt, dass ich woanders eingeladen bin.“, zieht der Mann die Schultern hoch, und wendet sich wieder seinem Essen zu.
„Das finde ich doch alles ganz schön belastend auf die Dauer.“, resümiert meine Nachbarin, und steht unvermittelt auf. „Jetzt sei doch nicht beleidigt.“, zischt der Mann die Frau an. „Mach’s gut.“, antwortet die, und ist schon durch den halben Laden.
„Da bist du ja!“, begrüße ich meinen Cousin und schiele zu dem nun allein essenden Mann hinüber. Wer ist nun die Frau und wer die Geliebte, überlege ich, und – wie hat es dieser Kerl überhaupt zu mehr als einer Frau gebracht?
Tief gebeugt über seine Platte, die Ellenbogen auf dem Tisch schiebt sich der fremde Mann sein Essen zwischen die hängenden Lefzen.
Es sind ja gerade die Schnappschuesse,
liebe Frau Modeste, die unser Interesse fesseln und die Fantasie anregen. Wie damals, in der Sesamstrasse, das „Was passiert dann?“-Spiel, das Ideen einforderte, was nach dem auf dem Bild Gezeigten wohl geschieht. Dass er ihr jedenfalls nicht hinterher laeuft, scheint dafuer zu sprechen, dass es nicht die Ehefrau ist. Ueberhaupt, Ehefrauen stuermen viel zu selten aus Restaurants. Wahrscheinlich passiert dann – gar nichts. Sie scheint sich trotz Noergelei und Hinausstuermens mit ihrer Rolle aus Nummer Zwei abgefunden zu haben. Oder sie rennt schnurstracks zur Gattin und beichtet ihr alles, zwingt ihn so zu einer Entscheidung. Aber eher unwahscheinlich. Schade.
Wie hat es dieser Kerl überhaupt zu mehr als einer
Frau gebracht? – Das frage ich mich öfter, wenn ich
sehe, was für unförmige, unsympathische Brocken
Mann mit schönen und charmanten Frauen unterwegs
sind. Und, im Umkehrschluss, was für ein Masochismus
muss für eine Frau dazugehören, mit solch einem Mann
zusammenzubleiben, aber auch, was hat der Kerl, was ich
nicht habe?
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@che: Was der Kerl hat, ist vielleicht ein Scheckbuch.
Masochismus (also nicht der echte, BDSM-mäßige, der ist
wenigstens konsequent, sondern die Reinfress-Haltung)
gehört für allzu viele Frauen wirklich zum alltäglichen
Leben. Glaub mir, Du wirst weder mit solchen Männern
noch mit solchen Frauen tauschen wollen.
Wunderbare Geschichte, Frau Modeste. Ungewöhnlich ist, dass beide Frauen voneinander wissen (zumeist weiß es ja nur eine) und scheinbar auch mehr oder minder mit der Situation leben können.
Was den Basset-Mann angeht, vermute ich aufgrund der Kelly-Bag und des übrigen Outfits, dass Frau Netbitch richtig liegt und das Ganze nur finanzielle Gründe haben kann.
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Es gibt Neidhammelbraten, Baby.
Diese tolle Anekdote hätte ich gerne von SvenK interpretiert gesehen!
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Und manchmal geradezu zum Auswachsen ist ja, dass man nicht erfährt, wie’s weitergeht.
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Scheint mir nicht der richtige Ansatz, dieses „Was hat er…“. Und am Ende werden Töpfe und Deckel sicherlich zusammenfinden.
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Ach, was weiß man denn von den Hintergründen solcher Liaisons, und vielleicht ist alles ganz anders, wie so oft.
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Eine gewisse Ähnlichkeit zumindest des männlichen Teils bestand ja mit dem Personal der Bilder von Manfred Deix. Wirklich wahr und sehr bestürzend.
Irgendwann beschlich mich beim Lesen der Verdacht, es könne sich um die der Mutter nicht genehme Freundin handeln, daher gibt es Weihnachten mit Freundin und ohne Mutter und Silvester dann umgekehrt. Wobei in so einem Fall normalerweise Mutti das Anrecht auf Weihnachten mit dem Sohnemann hat. Aber was weiss man schon von anderer Leute Sitten und Gebräuche?
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Habe mich beim Lesen
auch gefragt: Ehefrau oder Geliebte? Gemeinsames Weihnachten spräche für Ehefrau, die Gesprächssituation im Lokal und das Sie-weiß-von-der-anderen eher für Geliebte. Aber vielleicht entzieht sich diese menage à trois ja allen konventionellen Klassifizierungsversuchen.
Die Frage „Was hat der…“ stellt sich meines Erachtens nur dann, wenn man in direkter Konkurrenz um eine ganz konkrete Frau unterlegen ist. Auf der rein virtuell-hypothetischen Ebene von wegen „hach, die könnt doch auch was für mich sein“ würde ich mir diesen Schuh nie anziehen. Ich glaube wie Frau Modeste auch dann doch eher an das Topf-findet-Deckel-Prinzip.
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Na ja, die Frage Was hat der… stellt sich mir öfter außerhalb von Konkurrenzsituationen,
gibt es doch durchaus Menschen beiderlei Geschlechts, aber etwas häufiger Männer als
Frauen, die ich für nahezu unvermittelbar halten würde. Und dann ist das sozusagen
eine erkenntnistheoretische Frage. Topf findet Deckel sagt im Übrigen auch nicht viel
aus. Warum findet Topf mal Deckel und mal nicht?
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Auf die Mutter/Freundin-Version bin ich noch gar nicht gekommen, Herr Thot. Auch nicht uninteressant. Oder vielleicht eine Tochter? Dass man es aber auch nicht herausbekommen wird! Und was die Topf/Deckel-Sache angeht, glaube ich fest, Herr Che, dass sich am Ende schon alles zusammenfinden wird. Da gehe ich mit Herrn Mark ganz konform – am Ende wird alles gut.
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@Am Ende wird alles gut: Angesichts der Kompliziertheit, Dramatik und
mitunter Verworrenheit des menschlichen Liebeslebens, insbesondere
der Unlösbarkeit oder doch zumindest Schwere so mancher Partnerprobleme
scheint mir das doch leichthin gesagt. Und hinsichtlich meiner eigenen Vita
würde ich sogar sagen: Nichts wird gut.
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Aber Herr Che – es ist doch noch nicht aller Tage Abend.
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Den Gedanken an eine Tochter, Frau Modeste, finde ich nun wieder sehr interessant, weil das dafür spräche, dass die Tochter den Vater voll im Griff hat, aber wirklich voll und ganz. Es gefällt mir, dass der von Ihnen kommt. 🙂
Wenn man in direkter Konkurrenz um eine Frau unterlegen ist, Mark und sich fragt »Was hat der…?«, dann ist das auch gleich die Antwort. Man hat seinen Konkurrenten nicht genau studiert und noch weniger über das nachgedacht, was einen selbst für die Frau anziehender machen könnte. Aber iss‘ natürlich hier mit leichter Hand niedergeschrieben, wenn ich diese meine eigenen Weisheiten immer beherzigt hätte, würde ich jetzt über einen Harem verfügen.
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Deix klingt in der Tat alarmierend. Hatten Sie denn auch die Spicy Tuna Rolls? Sehr zu empfehlen in betreffendem Laden!
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Aber Milchtöpfe gibt es doch immer nur ohne Deckel, oder?
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Glauben Sie mir, Herr Thot, einen Harem schüfe mehr Probleme, als
sich bewältigen ließe. Im Übrigen ist es in sehr vielen Fällen völlig unnötig, das Verhalten des Konkurrenten zu studieren – wenn eine Frau auf
eine bestimmte Haarfarbe, eine bestimmte Körpergröße oder den Klang einer Stimme festgelegt ist, ist alles Bemühen vergebens. Ich war einmal in eine Frau verliebt, der ich immerhin das Leben gerettet hatte – das nützte mir gar nichts, weil ich von den körperlichen Voraussetzungen für sie absolut indiskutabel war. Erotische Wahrnehmung funktioniert nunmal zu 80 % über körperliche Reize, und die liegen überwiegend in einer Kategorie, die sich noch nicht einmal operativ optimieren lässt. Im Übrigen: Bei schönen, intelligenten, charamanten etc. Männern frage ich nicht „Was hat der?“, weil sich diese Frage da gar nicht stellt, sondern bei jenen, die eher am Quasimodo-Look-Alike-Contest teilnehmen könnten und trotzdem mit attraktiven Frauen liiert sind.
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Ent-zückend! In der Tat. Gäbe aber eine längere Geschichte. Wie schön – zwischen den Jahren, wie man so schön blöd wiederkäuend dahinsagt, habe ich Zeit; und diese Geschichte würde ich echt gern zeichnen … Nachdem ich Frau Modeste an den Alex gekettet gezeichnet habe, versteht sich.