So rein körperlich sah man wahrscheinlich großartig aus damals, auf den Bildern jener Jahre aber sieht man exakt nichts davon: In unvorteilhaften Jeans, mit viel zu großen T-Shirts schaue ich mir hinter einer roten Brille von irgendwelchen Photos entgegen und lächele überhaupt nie. Neben mir, einen guten Meter entfernt, sitzt mein allererster Freund mit einer Frisur, die es ihm ohne weiteres ermöglicht hätte, das Wet-Gel aus seinen Haaren herauszulutschen, und hat ein rotes Sakko an über einem T-Shirt, auf dem viel zu groß „BOSS“ steht. An den Füßen trage ich ein paar pinkfarbene Chucks, an den Schnürsenkeln sind kleine glitzernde Plastiksterne angebracht, und dass man die buntgeringelten Söckchen nicht sieht, die man bei ESPRIT kaufen konnte, ist ein Segen, für den man dankbar sein sollte.
Überhaupt ESPRIT, mein Blockstreifen-Sweatshirt in gelb und pflaumenfarben, mit weißem Kragen. Die Söckchen mit einer Rüschenreihe, die man sehen konnte, weil die Hosen eigentlich zu kurz waren. Das mintfarbene Sweatshirt, auf dem „UNITED COLORS OF BENETTON“ ganz groß draufstand, jeder Buchstabe in einer anderen Farbe, und natürlich Polo-Hemden von Lacoste, die auch so weit waren, dass man von einem angezogenen Mädchen nicht hätte sagen können, ob sie dick oder dünn war. – Der Prozess des Entkleidens muss in jenen Jahren einen wirklichen Überraschungseffekt besessen haben, aber für’s Entkleiden vor gegengeschlechtlichen Menschen waren wir ohnehin noch zu klein. Zum Händchenhalten reichte es, ein paar Küsse auf dem Bootssteg, ein wenig genierte Spaziergänge Hand in Hand, schlechten Gewissens, weil man sich eigentlich viel lieber als mit demjenigen, mit dem man sich tatsächlich traf, mit jemand anders getroffen hätte, aber der andere war schon 16 und schaute einen selbstverständlich nicht einmal aus Versehen an.
Duftkerzen und Bananentee. Bunte Gläser von Joy von Freundinnen zum Geburtstag, verpackt in irisierende Folie, Plastikstrohhalme in Spiralenform. Nachmittags mit der N., der allerbesten Freundin, zum Reitstall, und die Pferdeposter an der Wand nach und nach austauschen gegen Poster, auf denen Rick Astley abgebildet war oder INXS. Vor dem Spiegel feststellen, dass man niemals aussehen würde wie Kylie Minogue, und die erste Ahnung, dass man überhaupt nie aussehen würde wie Frauen, die irgendjemand auf Plakate druckt, wenn man einmal groß sein würde.
Die ganze Nacht lesen, und in der Schule immer schlechter werden und noch nicht wissen, dass man ab jetzt jedes Halbjahr versetzungsgefährdet sein würde wegen Mathe und eigentlich allen Naturwissenschaften. In die Umwelt-AG eintreten, weil man Umwelt schon irgendwie wichtig fand, und in die Redaktion der Schülerzeitung, wo man die Unterstufenseite vollschreiben durfte, die ohnehin keiner las.
Sich vorstellen, wie es sein würde, groß zu sein, also ungefähr 16, und langsam, unmerklich, auseinanderzufallen in ein Innen und ein Außen, sich auseinanderzufalten in etwas, das sich selber jahrelang fremd sein würde, und am Ende so weit weg zu sein von dem Mädchen auf den Bildern, zu dem man kaum mehr „ich“ sagen kann, dass alles, an das man sich erinnern kann, die fast unpersönliche Oberfläche ihres Lebens ist, ein paar T-Shirts, ein paar Geburtstagsgeschenke und kein einziger Augenblick.
Via Sven und Don Dahlmann.
Hab ich das Bild jetzt übersehen oder ist da gar keines?
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Ich bin doch nicht verrückt und stelle DIESE Bilder auch noch im Internet aus!
Ich hatte sie für zu jung für diese Fehler gehalten, die ich eher meiner Jugend zugerechnet hätte. Ich dachte, bei Ihnen wäre es eher New Kids on the Blog gewesen und die Jungs hätten die Hosen bereits auf diese Art getragen, als habe man sie gerade beim Wi*** erwischt (schmutzige Wörter schreibt man ja bei Modeste nicht).
Wenn ich Photos meiner Kindheit betrachte, frage ich mich immer, ob es wirklich so kommen mußte.
Die Klassenphotos im besagten Alter dokumentieren das Ende der Unschuld.
Damals hatte ich noch keine Angst vor der Gegenwart. Der Strom des Lebens floß ungehindert durch mich hindurch
und die Kamera konnte ein Bild einfangen das ungetrübt war von Entfremdung – ganz.
Heute, verloren im Bewusstsein der ungelebten Möglichkeiten, nimmt jedes Photo ein Stück Leben von mir, und
sieht auch aus wie das Bild eines Untoten.
Lebendige Menschen können eigentlich nur in der Phantasie oder auf Kunstwerken abgebildet sein.
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Einen Moment hatte ich ja auch überlegt, ich mit dem Surfboard am Gardasee – aber dann fiel mir das mintfarbene Lacoste-Hemd ein, und die rote Surfshort mit den weiss-pinken Sternen und die blauen Adidas-Turnschuhe mit den goldenen Streifen… und dann dachte ich mir: Ne. Muss nicht sein.
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Aaaaah – Don, Du hattest diese Turnschuhe auch? Ich frage mich bis heute, warum mein Vater diesem ästhetischen Super-GAU eigentlich nie Einhalt geboten hat und spätestens nach einer gewissen Zeit töchterlicher schlechter Laune wirklich so gut jeden Mist angeschafft hat. Man hätte da irgendwas machen müssen, so als Erziehungsberechtigter.
Leider nein, Herr Bandini, die Frühzeit meiner Eitelkeit fällt ja mit dem Ende der Achtziger Jahre zusammen. Die Neunziger habe ich dann voll mitgenommen, die sehen aber nict ganz so schlimm aus, mal abgesehen von meiner N eigung, mich noch einige Jahre in unförmigen Pullovern zu verstecken, weil ich immer dachte, ich würde in sehr viel Stoff irgendwie dünner wirken.
Was das Gefühl der Fremdheit angeht, Herr Tarsius, geht es mir da anders, mit dem kleinen Mädchen fühle ich mich kaum mehr identisch, das etwas ältere Mädchen ist mir eher ein bßchen peinlich, und der photogaphierte Ist-Zustand meistens schon okay.
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Ich hatte, fürchte ich, sogar derer 2 Generationen – die einen mit Klettverschluss, die anderen dann zum Schnüren, aber beide ganz grässlich. Die einen gingen dann am gardasee verloren, die anderen lösten sich beim Rennradfahren auf.
Immerhin, bei der ersten Gelegenheit entdeckten meine Eltern dann den gigantischen Schuhladen in Dro hinter Arco, nördlich des Gardsaees. Die Folge war ein Kaufrausch, der mich bis zum Ende der Schulzeit jedes Jahr mit Schuhen – wiewohl ob ihrer Eleganz zum Rest nicht ganz passend – eindeckte.
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Gelegentlich, wenn man in Buchhandlungen die Bildbände über das Leben irgendwelcher verstorbener Prominenz sieht, fragt man sich ja, wie eigentlich die Pendants aussehen werden, wenn in hundert Jahren irgendwer Bildbände über das Leben derjenigen verdienstvollen Leute herausgeben wird, die irgendwann in den Siebzigern geboren worden sind. Es wird sehr hässlich sein, keiner wird die Dinger kaufen, und das Format wird völlig aus der Mode kommen.
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Der „Weiße Sockenjahrgang“, sozusagen.
Oder: Bossed Generation.
„die erste Ahnung, dass man überhaupt nie aussehen würde wie Frauen, die irgendjemand auf Plakate druckt“
Neue Theorie: weibliche Menschen, die diesen Augenblick nie erlebt haben (weil zu hübsch oder zu blöd), entwickeln sich nie ganz. Oder werden Nobelpreisträgerinnen. Blöde Theorie.
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Ich frage mich ja immer, ob Männer diesen Moment der Erkenntnis, in einer einerseits relevanten, andererseits im wesentlichen unveränderlichen Hinsicht irgendwie unzureichend zu sein, eigentlich auch kennen.
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Ich werde diese Jahre in photographischer Hinsicht einfach eliminieren, habe ich mir gedacht.
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Na klar,
diese Momente sind gewissermaßen konstitutiv für das Dasein als Mann. Der Lebenserfolg bemisst sich danach, wie gut man das verdrängt oder kompensiert.
Ich frage mich ja immer, ob Männer diesen Moment der Erkenntnis, in einer einerseits relevanten, andererseits im wesentlichen unveränderlichen Hinsicht irgendwie unzureichend zu sein, eigentlich auch kennen.
Da könnte eigentlich der Moment/Lebensabschnitt sein, in dem man auf Selbstbestimmung umschaltet. Die soziale Maske hat je bei aufwandslosem Gelingen immer auch so ihre Tücken…
Wenngleich der Schalter ein eher langsames Abwenden von nicht notwendigen Erfahrungen hin zu gewünschten oder vielmehr völlig überraschenden Erlebnissen bedeutet…
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Ob sie wirklich konstitutiv sind, wage ich zu bezweifeln. Werde dennoch den Verdacht nicht los, dass das Aufstöbern derartiger Momente selbst von Männern pathologisch gelebt werden kann, ohne dabei jeden Morgen Schlag sechs in Punxatawny wach zu werden und I got you babe zu hören. Der Lebenserfolg bemisst sich danach, wie gut man am Ende diesen Eisblock behaut.
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Schimpfen Sie mich einen miesen Charakter, aber ein bißchen gerecht ist es schon, dass es Frauen nicht allein so geht – die Erkenntnis, dies nicht zu können, das nicht einmal können zu können, und überhaupt nie eine Person zu sein, die irgendeinem aktuellen Schönheitsideal entspricht.
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Selbstbestimmung gehört ja zu denjenigen Dingen, die man bei sich selber schätzt, und von denen man bei anderen Leuten immer hofft, dass sie sie dezent ausleben.
Was doch eigentlich sehr schade ist…
Es ist schwer, aber ich ich versuche gerade, zu den Nogos der Vergangenheit zu stehen. In Kürze veröffentliche ich z.B. das Bild aus meinem Führerschein. Flucht nach vorn… 🙂
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I will never get that car and I will never be an astronaut. Ich könnte natürlich noch Filmstar werden und auf Plakate gedruckt werden. Aber vorsichtshalber gehe ich mal nicht mehr davon aus. Aufwachen, Ichwerdung, Akzeptanz. Für Frauen tatsächlich schwerer, so sehr, wie man mit (angeblichen) Rollenbildern auf Plakten und in Illustrierten bombardiert wird. Am Wochenende habe ich ein paar aktuelle (angebliche) „Musikvideos“ gesehen. Den Rest des Abends mühte ich mich ab, den Hüftschwung von Shakira und das Oberkörperwackeln irgendwelcher Jinnys, Jennys und Jannys hinzubekommen. Impossibly green and forever out of reach…
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Ich bin sicher, Meister Kid, es ist Ihnen vortrefflich gelungen.
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Sie, MC, können sich das bestimmt auch erlauben, aber bei Gelegenheit zeige ich Ihnen mal das Photo auf meinem alten Reisepass, welches eine Person zeigt, mit der ich ungern identifiziert werden würde.
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Ich wäre schon froh, einen so herrlich verunglückten Kasatschok hinlegen zu können wie weiland Woody Allen als Boris Gruschenko.
Aber nicht mal dafür reicht es mehr in meinem Alter, schon rein rückentechnisch.
Ach ja.
[Standuhr-Ticken.]
So ist das.
Diese Socken kenne ich sogar… Meine erste Freundin hatte sie damals auch. In furchtbaren Farben. Ich mochte sie nie wirklich… Aber ein paar schöne Betrachtungen haben Sie da gemacht. Kann ich nachvollziehen…