Vom Bleiben und Verblassen

Mit jedem Tag, jedem Moment, mit jedem Atemzug verdaut sich unser Leben, und die scharfen Säfte der Zeit zersetzen, was gestern, noch vor einem Jahr wichtig war und groß. Die Schlagzeile einer Zeitung aber, mit der wir den Grill befeuerten, und wie das Papier sich zusammenzog und schwarz wurde und zerfallen, liegt brennend, aber widerstehend, auf der verätzten Zeit. – Die Haare auf dem obersten Fingerglied meines Begleiters auf der Zugfahrt von Lucca nach Florenz, der süße, faulige Geruch einer Mango, der aus einer Plastiktüte aufstieg, die unter meinem Sitz stand im Bus nach Rayong: Unversehrt und schlackenlos vor Schemen und Fragmenten.

Waren deine Augen blau oder gün, frage ich indes vergeblich die verschwommene Gestalt, die neben mir durch Hamburgs leere Straßen läuft, 1996, am Morgen nach einer Party, Eklat und Geschrei. Dein Blut auf meiner Haut, rostrote Buchstaben eines Vornamens, zu denen ich den Nachnamen nicht mehr weiß. Deine Telephonnummer weiß ich noch, deinen Geburtstag, aber es mag dieses Datum auch zu jemand anderem gehören, den ich genauso vergessen habe wie dich. Der Geruch nach Schweiß und Asche, die Bierwerbung vor deinem Fenster. – Ich schneid‘ dir den Kopf ab, hast du gesagt, aber vielleicht war es jemand anders, und vielleicht ist es auch gar nicht wahr, denn wir haben uns geliebt, glaube ich, und das alles war nur Spiel, nur Federball, nur Schach mit dir und mir als König, Dame und Bauern zugleich.

Scharf und salzig weichen die Jahre uns auf, und hinterlassen verkrümmte Schlacken, bunte Abfälle, Blendwerk in den Straßen dieser Stadt. Da hast du dein Bauernopfer, habe ich dich angeschrien, und dir mein Herz um die Ohren gehauen, bis die Arterien brachen und rissen, aber es ging auch so, und viel besser dazu. Was soll ich noch mit dir, habe ich dir hinterhergerufen, und dich in meine Säure getaucht. Du hast dich aufgelöst, und am Ende spült die Spree die blauen Augen so weit weg wie die grünen und die schwarzen auch. Dein brackiges Fließen, und das Meer schweigt, als hätte es uns nichts mehr zu sagen.

Out, vile jelly, rufe ich euren Augen heulend und trotzig hinterher, und am Ende wird uns, denen nach dem Schuss keine Unsterblichkeit ganz gehören wird, eine namenlose Stele aufgestellt, oder noch nicht einmal das.

Amor vincit omnia, wird darauf stehen. Und: Tempus vincit amorem.

7 Gedanken zu „Vom Bleiben und Verblassen

  1. Das sage ich ja schon seit Jahren. Obwohl – man begibt sich mit derlei ja immer bedenklich nah an Wir sind Helden, das möchte man dann auch wieder nicht einfach so stehen lassen.

    Und Verzeihung, wenn ich nachfrage, aber wollten Sie nicht arbeiten?

  2. …schamlos inspiriert!

    Auf den Hügeln unserer Herzen
    stehn Armeen sich gegenüber.
    Beizend treibt der Pulverdampf
    uns die Tränen in die Lider.

    In das Kupfer unserer Seelen
    sticht der Streit uns tiefe Narben.
    Bei den täglichen Scharmützeln
    muss die Liebe Hunger darben.

    Nur zu bald bedeckt die Erde
    -hartgeforen- diesen Krieg.
    Auf der Stele steht zu lesen:
    „Amor floh den Pyrrussieg.“

  3. Arbeiten..stimmt, Herr Rationalstürmer. Arbeiten muss ich tatsächlich, aber, wie Herr oder Frau Ecce so richtig anmerkt: Nicht mitten in der Nacht.

    Und danke. Ich bin ein wenig in Eile, ansonsten würde ich auch zu dem hübschen Gedicht noch etwas schreiben, aber leider, leider…vielleicht später. Mitten in der Nacht, oder wenn ich fertig bin mit dem dicken Stapel Arbeit, der mich anknurrt, wenn ich einen Moment wegschaue.

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