Ödipus

Mit einer Hochzeit ist ja landläufig ein Zusammentreffen der ganzen Familie verbunden, und wenn nahe Anverwandte fernzubleiben drohen, so empfinden nicht nur die Brautleute selbst die Abwesenheit als einen eher unfreundlichen Akt. Man sollte also schon eine wirklich gute Entschuldigung zu bieten haben, um einfach wegzubleiben, wenn die eigene Schwester heiratet, und ob A.‘s kleiner Bruder einen solchen guten Grund hat, darüber gehen die Meinungen durchaus auseinander.

„Die kleine Kröte war ja noch nie ganz normal….“, beginnt die A. ihren Bericht über die Weigerung ihres kleinen Bruders, ihrer Heirat bezuwohnen. „Hat er keine Lust zu kommen?“, frage ich und bestelle einen Montepulciano und ein paar Oliven dazu. „So ganz unverständlich ist das ja nun nicht.“, interveniert die B.² und blättert lustlos in der Speisekarte. „Der hat sich doch nicht mehr alle!“, wischt die A. den Einwand von der blanken Holzplatte und wedelt voll des Unwillens so heftig mit der Hand über den Tisch, dass beinahe die Kerzen ausgehen, und Wachs auf das Holz tropft.

Der kleine Bruder der A., erfahre ich, ist 22 oder so, studiert „irgendwas Bescheuertes“ an der HU und wohnt ein paar Straßen von seiner Schwester entfernt irgendwo in Mitte in einer schmutzigen WG. In aller Gemütsruhe, die beiden Geschwistern eigen zu sein scheint, durchfeiert der jugendliche Knabe die Berliner Nächte, verliebt sich alle paar Wochen, trennt sich enttäuscht und vorwurfsvoll, wenn der Erkenntnis, dass auch die aktuelle Bekanntschaft entgegen seiner verzweifelten Hoffnung nicht makellos ist, nicht mehr auszuweichen ist, und zieht ansonsten freudig und bedenkenlos seine lustigen Kreise. Ab und zu besucht er seine große Schwester, isst alles, was im Kühlschrank ist, und nimmt mit, was er nicht mehr essen kann.

Letztlich jedoch, eines Nachts, schrak der kleine Bruder aus dem Schlaf auf. Neben ihm lag ein schönes Mädchen, Gelegenheitsfriseurin und Möchtegernmodel, und das Mondlicht fiel durchs Fenster, weil er zwei Jahre nach seinem Einzug immer noch keine Vorhänge angebracht hat. Alles war Bestens, nichts war passiert, aber zu Tode erschrocken schlug sein Herz, und das Blut pochte mächtig gegen seine Schläfen. Ein Würgen presste sich durch seinen Hals nach oben, bis er ins Bad ging und sich minutenlang übergab. Vor seinem inneren Auge tanzten Traumbilder auf und nieder, eine blonde Frau griff nach ihm, zog ihn an sich, küsste ihn, und, was das Schlimmste war: Er küsste zurück.

Perfekt sei es gewesen, berichtete er ein paar Stunden später seiner Schwester. So großartig, wie man sich die Liebe immer vorstellt, und ein Traum von so schwereloser, heiterer Harmonie, wie es sie tagsüber eigentlich gar nicht gibt.

„Und was hat das mit der Hochzeit zu tun?“, frage ich und verziehe ein wenig das Gesicht über den sauren Kreuzberger Wein. – „Die Frau…“, japst die A. und lacht ein wenig vor sich hin. „Die Frau also…“

Die Frau, berichtet die A. als sie ausgiebig gelacht hat, sei einmal mit ihrem Vater verheiratet gewesen, der ja ganz gern einmal heirate, und dies auch alle paar Jahre täte. Nach innerfamiliär einhelliger Meinung gehöre diese Frau ganz eindeutig zu den dümmsten Frauen, denen ihr Vater jemals die Hand geschüttelt hat, und die Ehe habe, im Wesentlichen deswegen, auch nur wenige Jahre gedauert. Sie selbst habe damals gar nicht mehr zu Hause gewohnt, ihr Bruder allerdings sei damals so ungefähr 14 gewesen, bevor er dann aufs Internat kam, weil er sich mit der nächsten Frau nicht so gut verstand. – „Und?“, frage ich stirnrunzelnd und versuche, einen Zusammenhang zwischen der ehemaligen Stiefmutter, dem Bruder und der Hochzeit der A. herzustellen.

Die Ex-Stiefmutter, klärt die A. mich auf, habe sich aufgrund ihrer schier unendlichen Dummheit bei der Scheidung dermaßen übers Ohr hauen lassen, dass sie im Kreise der Familie bestehend aus Exfrauen und Exmännern, Stiefgeschwistern und Halbgeschwistern und sonstigen Verwandten nach wie vor so gern gesehen sei, dass man sie zur Hochzeit eingeladen habe.

Und ihr kleiner Bruder habe nun Angst, ihr zu begegnen.

10 Gedanken zu „Ödipus

  1. Dann hat der junge Mann, meine ich, eine plausible Entschuldigung. Und wenn seine große Schwester nur annähernd so häufig heiratet wie ihr Vater, wird er noch oft Gelegenheit dazu haben, diesen Feiern bezuwohnen.

  2. Labyrinth

    Das ist die hübscheste Beschreibung einer tragischen Verstrickung, die ich jemals gelesen habe. Wenn man nochmal von vorn liest und auf die Zeichen achtet, liest man plötzlich …

    … von einem jungen Mann, der nie im Leben die Chance hatte, im Schoße der Familie sein eigenes Ego zu finden und zu festigen. Darauf deutet vor allem die Tatsache hin, dass er in ein Internat ausweichen mußte, weil er sich mit der aktuellen LAB des Vaters nicht vertrug: nicht die LAB wurde deswegen versenkt, sondern er.

    Der Junge hat also, ohne dass das jemals irgendwer hat sagen müssen, zwei Dinge gelernt: Es gibt nichts im Leben, auf das du dich verlassen kannst – und das hängt auf irgendeine verborgene Weise immer mit Frauen zusammen: wenn sie ins Leben treten, dann wird mein Stand sehr unsicher. Klarer Fall: was nie gesagt wird, dagegen kann man sich nicht wehren.

    Deswegen erscheinen mir die beschriebenen Verhaltensweisen des jungen Mannes in der Beziehung zu Frauen vollkommen nachvollziehbar. Nun ist die Hochzeit jedoch in unserer Gesellschaft symbolisch sehr tief verankert: selbst Menschen, die an sonst überhaupt gar nichts glauben, wollen doch wenigstens einmal im Leben mit einer Feier irgendeinen Fixpunkt setzen – das ist meist die Hochzeit. Mir ist schon klar, dass der Junge solche Feiern, die vor seinem geistigen Auge nichts als Feiern um des Kaisers neue Kleider sind, nicht aushält: sein Innerstes ist sich gewiß, dass da gelogen wird, dass sich die Balken biegen.

    Der Grund für seine Weigerung, der Hochzeit beizuwohnen, ist also gewiß nicht die Ödi-Tante, die tritt nur traumhaft auf die Bühne, damit das wahre Geheimnis nicht gelüftet werden muss, denn das würde in sich die reale Gefahr erneuter Verstoßung bergen – das macht keiner freiwillig, es sei denn, er weiß drum und will es ganz bewußt auf den Punkt bringen. Warum um alles in der Welt sollte er sich also schon wieder eine blutige Nase holen?

    Hier zeigt sich in einem mikroskopischen Ausschnitt, dass Kinder in ihrem Leben die Schuld der Eltern übernehmen und entweder lösen müssen oder – wenn es zu viel ist oder sie es nicht lösen können – an ihre Nachkommen weitergeben. In solch schlimmen Fällen wie dem hier geschilderten kann dann die Nachkommenschaft entweder überhaupt nicht mehr entstehen (Bindungsunfähigkeit: es findet sich kein Partner) oder einfach so nebenher in die Welt gesetzt und dann sich selbst überlassen werden. Im letzteren Fall gibt es dann wenigstens noch die (geringe) Chance, eine gute Pflegefamilie zu finden: dort kann dann mit viel Glück der Strick durchtrennt und neu an einen anderen Fels gebunden werden.

    Nur um den Leser nicht auf die falsche Fährte zu locken: die Schuld der Eltern besteht nicht im ständigen Wechsel des LABs, sondern darin, dass sie es nicht geschafft haben, den Kindern (oder einigen von ihnen) völlig außerhalb dieses Beziehungsdurcheinanders ein Fels in der Brandung gewesen zu sein. Sie sind nicht authentisch geblieben, nicht bei sich selbst, ihr Standpunkt war für die Kinder nicht erkennbar. Das müssen Eltern tun, sonst nicht so viel.

    Es, liebe Frau Modeste, ist eine ebenso gut beobachtete wie geschriebene Geschichte für’s Lehrbuch.

  3. Familie…

    „Kinder brauchen feste Leitplanken für den Weg ins Leben…diese Aufgabe erfordert breite Schultern“ bemerkt unsere Ursula ja völlig zu Recht und suhlt sich wohlig im verschissenen Stroh ihrer Metaphorik…

    „Ganz aufgehen in der Familie heißt, ganz untergehen…!“ entgegne ich mit Frau Ebner –Eschenbach…, aber was das mit Ihrem Text zu tun hat, liebe Frau Modeste, weiß ich auch nicht so genau… ;>)

  4. Dass die A. noch öfter heiraten wird, Herr Sokrates, prophezeien ja so manche, ich habe das aber meine Zweifel – die A. wird, fürchte ich, immer wieder ausfliegen, aber das warme Nest ganz verlassen – das dann doch nicht.

    Dass der kleine Bruder der A. als Kind einen kleinen Schaden davongetragen hat, dass, Herr Reuter, denke ich auch. Was ich angesichts dieser Geschichte erstmals überlegt habe ist allerdings,ob auch die A. mehr von ihrer Famlie geprägt sein könte, als ich jemals angenommen habe. Wer weiß das schon. Aber ohne Macken und Dellen geht es ja selten ab. Aber vielleicht muss das einfach so sein, Herr Wallhalladada, sonst bekäme gar niemand mehr Kinder. Wenn nur noch die ganz Unbeschädigten Nachwuchs aufziehen, dann wird es wirklich eng.

    …und was den Ödipus angeht, Herr Entracte, haben Sie sicherlich recht. Aber manche Bilder sind halt schief am Schönsten.

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